Efeu - Die Kulturrundschau

Reiseführer in die Paradoxien

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05.07.2019. Mit den neuen Folgen der Netflix-Serie "Stranger Things" fühlt sich Zeit online in eine planlose Weißt-du-noch-Revue versetzt. In der taz erklärt der Musiker Billy Childish, wie man mit antikommerziellen Späßen sein Publikum los wird. In der FAZ fürchtet Heiner Farwick vom Bund Deutscher Architekten die Folgen des EugH-Urteils für die deutsche Architektur.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.07.2019 finden Sie hier

Film

Aufgrund von Minderjährigkeit zum Glück noch untätowiert: Der Cast von "Stranger Things"

Eighties-Nostalgie war von Anfang an das Markenzeichen der Netflix-Serie "Stranger Things", aber der geballte Bombast der dritten Staffel ist ZeitOnline-Kritiker David Hugendick dann doch zu viel des Guten, auch wenn ihm diese Rückschau in ein popkulturell prägendes Jahrzehnt immer noch deutlich besser gefällt als nahezu alles, was der Streamer sonst noch in seinem Angebot verbuddelt: "Es ist bisweilen, als hätten die Duffer-Brüder ihr vormals oft nuanciertes enzyklopädisches Spiel mit Referenzen und Allusionen teilweise aufgegeben und seien nun unter die Memorabiliasammler gegangen, die sogar Drogerieprodukte dieser Epoche mit aufdringlichem Blick abfilmen lassen. ... Manches Zitat wirkt nun wie eine Spielmarke, manches wie bloße Staffage, einige hektische Abfolgen von Zeitkolorit wie eine planlose Weißt-du-noch-Revue, die in ihrem Dekor luxuriert." Den Zorn Brian de Palmas riskierend, erklärt Hugendick dann auch noch das filmtechnische Verfahren des Splitscreens zum "Arschgeweih aller filmästhetischen Mittel".

Weitere Artikel: Beim Filmfest München hat Patrick Wellinski für Dlf Kultur einen genaueren Blick aufs junge deutsche Kino geworfen: Vor allem Jan Ole Gersters "Lara" und Ilker Catacs "Es gilt das gesprochene Wort" konnten überzeugen und ließen "die brodelnden Potenziale" des deutschen Films erkennen. Ebenfalls beim Filmfest München hat SZ-Kritiker Bernd Graff einen Blick in die Welten virtueller Realität werfen können. Dominik Kamalzadeh spricht im Standard mit Robert Guédiguian über dessen Film "Das Haus am Meer". Arno Raffeiner befasst sich für ZeitOnline mit dem sozialistischen Streamingangebot MeansTV (unsere bisherigen Resümees).

Besprochen werden ein Kino-Dokumentarfilm über den Fußballer Toni Kroos (ZeitOnline, unsere Kritik hier), Sameh Zoabis Komödie "Tel Aviv on Fire" (Tagesspiegel, taz), Elena Tikhonovas Komödie "Kaviar" (Tagesspiegel), die Skaterinnen-Doku "Don't Give a Fox" (Tagesspiegel), Klaus Lemkes "Neue Götter in der Maxvorstadt" (Perlentaucher) und der neue "Spiderman"-Film, den FR-Kritiker Daniel Kothenschulte mitunter für durchaus "reizvoll" hält.
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Literatur

In der NZZ schreibt der Schriftsteller Martin R. Dean über seinen Berufskollegen Peter K. Wehrli und dessen autobiografische Sammlung "Katalog von Allem". Diese versammelt "Aphorismen, die wie beiläufig die Form des Schnappschusses aufgreifen, bestehen sie doch aus einem einzigen Satz ohne Prädikat, in dem das Titelmotiv herangezoomt und in überraschenden Schwenks kontextualisiert wird. ... Natürlich erfassen die Niederschriften immer nur subjektive Ausschnitte der fremden Wirklichkeit, also alles, was einem Baedeker nicht der Rede wert ist. Im Ganzen entsteht ein aphoristisches Fremdwörterbuch, das gleichermaßen ein Reiseführer in die Paradoxien ist."

Weitere Artikel: In den online nachgereichten "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Wieland Freund an Francesco Petrarcas Erklimmung des Mount Ventoux im Jahr 1336. Tell-Review kürt die besten Kinder- und Jugendbücher für den Sommer 2019. Besprochen werden unter anderem Colson Whiteheads "Die Nickel Boys" (NZZ), Isaac Bashevis Singers "Jarmy und Keila" (Tagesspiegel) und Wassili Golowanows "Das Buch vom Kaspischen Meer" (SZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Musik



Anlässlich einer großen Werkschau von Billy Childish hat es sich tazler René Martens nicht nehmen lassen, mit dem umtriebigen Underground-Punk-Künstler auch ein paar Takte am Telefon zu sprechen. Es geht um Childishs konsequentente Verweigerungshaltung, mit der man zwar nicht finanziell, aber an Erfahrung und Anekdoten reich wird: "'Es gab Zeiten, in denen wir unser Publikum loswerden wollten', erläutert Childish. In der Zeit mit den Milkshakes in den früher 1980er Jahren seien Psychobillys zu den Konzerten gekommen. Das gefiel der Band nicht, weil diese für eine gewalttätige Atmosphäre sorgten. 'Wir spielten deshalb mehr Balladen und Sixties-Stücke, was wiederum Mods anlockte. Die haben wir dann dadurch abgeschreckt, dass wir Chuck-Berry-Zeug gespielt haben. Wir mögen es generell nicht, wenn sich Leute übermäßig mit uns identifizieren.'"

Weitere Artikel: Tatjana Rexroth berichtet in der FAZ vom Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau, wo sich der französische Pianist Alexander Kantorov gegenüber einer starken Konkurrenz behaupten konnte. Peter Hagmann schreibt in der NZZ einen Nachruf auf den Komponisten Rolf Urs Ringger. Harry Nutt (Berliner Zeitung) und Markus Ehrenberg (ZeitOnline) schreiben zum Tod von Costa Cordalis. In der taz erinnert sich Christoph Dorner an die kürzlich verstorbene Berliner Soulsängerin Astrid North.

Besprochen werden eine bei ECM veröffentlichte CD des Akkordeonspielers Gianni Coscia und des Klarinettisten Gianluigi Trovesi, die darauf Umberto Ecos Erinnerungsroman "Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana" musikalisch flankieren (SZ), eine CD-Box zum 80. Geburtstag von Brigitte Fassbaender (Presse), der zweite Jahrgang des Martha Argerich gewidmeten Festivals in Hamburg (NZZ), das neue Album der Black Keys (Presse), Neil Youngs Berliner Auftritt (Tagesspiegel), ein Muse-Konzert (NZZ), Danae Dörkens Auftritt beim Rheingau Musik Festival (FR), die Ausstellung "Bilderrätsel" im Bachhaus Eisenach, die sich mit echten und falschen Bach-Bildnissen beschäftigt (FAZ), Thom Yorkes Auftritt in Frankfurt (FAZ) und Levin Goes Lightlys neues Album "Nackt", auf dem laut tazler Steffen Greiner "beste Dorfdiskoatmosphäre" herrscht. Wir schauen uns das näher an:

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Architektur

Im Gespräch mit der FAZ ist Heiner Farwick, Präsident des Bundes Deutscher Architekten, sehr verärgert über das Urteil des EuGH gegen die deutsche Honorarverordnung: Danach müssen Honorare künftig ohne Ober- und Untergrenzen frei verhandelt werden (mehr dazu bei Spon). "Dass jetzt mehr rumänische, polnische oder portugiesische Büros hier bauen werden, bezweifle ich. Die Barrieren liegen in den kulturellen und sprachlichen Unterschieden, nicht in der Honorarordnung. Es wird deshalb nicht zu der Belebung des Marktes kommen, die die EU-Kommission mit ihrem Verfahren zu den Architektenhonoraren bezwecken wollte. Im schlimmsten Fall hat es nur negative Auswirkungen für die deutsche Architekturbranche."
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Design

Kleidung von Neonyt. Bild: Instagram
Völlig begeistert berichtet Marina Razumovskaya von der Berlin Fashion Week: "Die nachhaltige Mode ist in eine neue Phase getreten", jubelt sie in der taz. Großartig fand sie die trotz Vormittagstermin bestens besuchte Präsentation der Neonyt, des Global Hub für Mode, Nachhaltigkeit, Innovation", wo es vor allem um Wasser ging, "denn Wasser ist ein zentrales Thema nachhaltiger Mode. Ein normales T-Shirt aus Baumwolle verbraucht 2.000 Liter Wasser, bis es existiert. (Ein Kilo Rindfleisch 14.000 Liter.) Hauptthema zwei: Denim, der Jeansstoff, der sich so herrlich kombinieren lässt mit eleganten Einsätzen aus anderen Materialien, Wolle, Cord oder Seide. Diese Form der Nachhaltigkeit erinnert mich an das Moskau meiner Jugend. In den 1980ern sah man oft Leute, die sich Röcke aus alten Jeans gemacht hatten und durch genialen Besatz und Einsatz anderer Materialien ganz neue Dinge schufen."
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Bühne

In der taz bereitet sich ein freudig erregter Anselm Lenz auf einen Kongress der Volksbühnenbesetzer*innen am Samstag vor, bei dem auch der designierte neue Intendant Réné Pollesch dabei sein soll: "In jedem Falle hat sich an der Volksbühne ein großer Sieg ergeben für die echten Linken jenseits der bürgerlichen Repräsentation. Es ist der erste substanzielle - also in der materiellen Wirklichkeit auffindbare - Sieg seit vielen, vielen Jahren, wenn nicht gar seit Jahrzehnten, und ich will sogar maßvoll behaupten: ein Wendepunkt gegen die neoliberale Epoche."

Besprochen werden ein Berliner Gastspiel der Jiangsu Performing Arts Group mit Tang Jianpings neuer Oper "Die Tagebücher des John Rabe" (" Die Schwellung der nationalen Brust erstickt alle subtileren Regungen des Herzens", seufzt Gregor Dotzauer im Tagesspiegel), Stücke von Werfel, Turgenjew und Schnitzler bei den Festspielen Reichenau (nachtkritik), Kaja Dymnickis und Alexander Pschills "Maß für Maß" frei nach Shakespeare beim Theatersommer in österreichischen Haag (nachtkritik) und Benjamin Lazars Inszenierung von Debussys Oper "Pélleas" in Karlsruhe (SZ).
Archiv: Bühne

Kunst

Wenig Freude hat FAZ-Kritiker Hubert Spiegel in der Ausstellung "Bauhaus am Folkwang. Bühnenwelten" im Folkwang Museum in Essen, die er informationshungrig verlässt: "Sie nennt nur überaus spärliche Informationen zu den ausgestellten Fotografien, Grafiken, Gemälden und Drucksachen und beschränkt sich auf knappste biografische Angaben zu den Künstlern, deren Werke sie zeigt. Warum der Besucher hier so allein gelassen wird, ist kaum nachvollziehbar."

Sean Scully, Eleuthera, 2017
Weiteres: Patrick Bahners freut sich in der FAZ für die Kunstsammlungen Nordrhein-Westfalen, die von der Journalisten Viktoria von Flemming ihr Gerhard-Richter-Gemälde "Mauer" geschenkt bekommen. Besprochen werden eine Ausstellung von Sean Scullys Bildern seines Sohn in der Wiener Albertina (Standard) und eine Ausstellung mit zeitgenössischer Kunst von den Färöern im Schifffahrtsmuseum und dem Museumsberg in Flensburg (taz).
Archiv: Kunst