Efeu - Die Kulturrundschau
Der Schwebewunsch der Moderne
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Kunst

Minh An Szabó de Bucs trifft für die NZZ Ai Weiwei, dem die Düsseldorfen Kunstsammlungen gerade eine große Schau widmen. Doch glücklich wirkt der chinesische Künstler nicht in seiner Rolle als Stardissident im Berliner Exil: "'Wenn ich könnte, würde ich nach China zurückgehen, um etwas zu verändern.' Was wäre das konkret? 'Zuerst muss das politische System weg. Das ist aber nicht einfach. Was kommt danach? Ist das chinesische Volk bereit dafür?' Da ist er pessimistisch, das Land würde in ein Chaos fallen. Denn es fehle an einer zivilgesellschaftlichen Grundlage, einer verbindenden Struktur von Vereinigungen, Gemeinschaften und NGO, die ein alternatives System zum Keimen bringen könnte. Solche Ansätze wurden in den letzten Jahrzehnten von der chinesischen Regierung ausgemerzt. Sie halte ihre eigene Nation als Geisel, ständig gezwungen, den Druck und die Kontrollen weiter zu verschärfen."
Im Welt-Interview zeigt sich der ehemalige Galerist Jörg Johnen und Buchautor durchaus kritisch gegenüber der Kunst im öffentlichen Raum in Berlin, lässt sich von Tilman Krause aber nicht dazu verleiten, alles verschrotten zu wollen: "Abriss ist natürlich eine sehr drakonische Maßnahme. Die würde ich nur im Fall dieses klobigen 'Weltkugelbrunnens' von Joachim Schmettau am Breitscheidplatz befürworten." Er meint den leider sehr beliebten Wasserklops.
Weiteres: Niklas Maak ist in der FAZ feiert die Planetenmaschine, mit der die in New York lebende Berliner Künstlerin Alicja Kwade den Dachgarten des Metropolitan Museums bespielt, als "eine Erinnerung an den Schwebewunsch der Moderne". Die Kunsthistorikerin Sabine Meister hat die Briefe des Berliner Secessionisten Walter Leistikow erschlossen. Im taz-Interview mit Sophie Jung spricht sie über das Leben des Landschaftsmalers, seine Aversion gegen Venedig und die Gründung neuer Künstlerorganisationen."
Besprochen werden auch die Ausstellung "Stadtrand Berlin 1993/94" des Fotografen André Kirchner in der wieder eröffneten Berlinischen Galerie (FR), die "hinreißende" Schau von Leonardo da Vincis Zeichnungen in der Queen's Gallery im Buckingham Palace in London (Guardian) sowie zwei Ausstellungen über den Kunstmarkt im besetzten Paris im Mémorial de la Shoah und im Museum Maillol (FAZ).
Bühne

Reinhard J. Brembeck könnte Sidi Larbi Cherkaouis Inszenierung von Christoph Willibald Glucks "Alceste" in München einige Mängel vorhalten, doch eigentlich hat ihn völlig umgehauen, was Cherkaoui als Choreograf und Dirigent Antonello Manacorda an Tragik, Verzweiflung und leidenschaft aus der Oper herausholen: "Durch all diese Unzulänglichkeiten hindurch wird, das ist das große Wunder dieser eigenartigen Aufführung, erstaunlicherweise das Stück in seiner ganzen existenziellen Wucht erlebbar. Es wird erfahrbar, wie überzeitlich allgemeingültig Alcestes zweieinhalbstündiges Ringen um die große Liebe ihres Lebens ist. Das gelingt genau deshalb, weil Cherkaoui keinerlei Regieeinfälle und keine weiterführende Interpretation liefert und seine Tänzer einfach nur die Musik fantasievoll vergrößern, aufblasen und illustrieren lässt."
Weiteres: Im Standard stellt Stephan Hilpold den Regisseur Toshiki Okada vor, dessen Stück "Five Days in March" längst ein Klassiker des modernen japanischen Theaters geworden und bei den Wiener Festwochen zu sehen ist. Christine Wahl gibt im Tagesspiegel einen Ausblick auf die übermorgen beginnenden Autorentage am Deutschen Theater. Daniele Muscionico berichtet in der NZZ vom Schweizer Theatertreffen in Monthey. In der Nachtkritik resümiert Nikolaus Merck das Europäische Bürgerbühnen-Festival in Dresden.
Besprochen werden Thorleifur Örn Arnarssons Stück "Im Irrgarten des Wissens" am Schauspiel Dortmund (das Alexander Menden in der SZ reichlich "verlabert" findet), Liliane Brakemas "bilderstarke" Inszenierung des Büchner-Klassikers "Leonce und Lena" am Bochumer Schauspielhaus (Nachtkritik), Rossinis "La donna del lago" am Staatstheater Wiesbaden (FR) und Richard Strauss' "Frau ohne Schatten" an der Wiener Staatsoper (FAZ).
Literatur
Besprochen werden Jonathan Littells "Eine alte Geschichte - neue Version" (Standard), der Band "Interviews und Gespräche" aus der Werkausgabe Wolfgang Koeppen (NZZ), György Dragománs Novellenband "Löwenchor" (NZZ), Ralf Königs neuer Comic "Stehaufmännchen" (Dlf Kultur, SpOn), Ian McEwans "Maschinen wie ich" (Dlf Kultur), Jonathan Franzens Essayband "Das Ende vom Ende der Welt" (Dlf Kultur), neue Gedichtbände von Monika Rinck (SZ), Mathijs Deens "Über alte Wege. Eine Reise durch die Geschichte Europas" (Berliner Zeitung) und Tomer Gardis "Sonst kriegen Sie Ihr Geld zurück" (FAZ).
Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Film

Über weite Strecken durchaus mitreißend geraten ist Dexter Fletchers Biopic "Rocketman" über Elton John, schreibt David Pfeifer in der SZ. Kein Wunder: Der Regisseur hat im vergangenen Jahr schon "Bohemian Rhapsody" fertiggestellt, nachdem Bryan Singer den Film verlassen hatte. Etwas penetrant wird (der von Elton John maßgeblich kontrollierte) "Rocketman" allerdings dort, wo es um biografische Kohärenz-Konstruktion geht, nämlich insbesondere in einer Szene gegen Ende, "in der Manager, Vater, Mutter und Songschreiber ihre Gedanken zu Johns Exzessen aus voller Kehle singen, merkt man, dass man nicht Zeuge einer musikalischen Biografie wird, sondern einer vertonten Therapiesitzung beiwohnt."
Weitere Artikel: In der Welt spricht Peter Beddies mit Bong Joon-ho, der mit "Parasite" gerade den Wettbewerb in Cannes gewonnen hat. Im Tagesspiegel spricht Sebastian Schipper über seinen neuen Film "Roads" gesprochen, ein Roadmovie, das zwei Flüchtlinge auf ihrer Reise begleitet. Katharina J. Cichosch empfiehlt in der taz den Frankfurtern das dem japanischen Film gewidmete Festival Nippon-Connection. Saskia Hödl erinnert in der taz an Richard Oswalds unter Mitwirkung von Magnus Hirschfeld entstandenen, heute vor 100 Jahren erstmals aufgeführten Stummfilm "Anders als die Andern", den ersten deutschen Film, der Homosexualität offen zum Thema hatte. Der WDR hat ein Feature über Jonas Mekas' Tagebücher online gestellt. Besprochen wird die HBO-Miniserie "Chernobyl" (NZZ).
Musik
Weitere Artikel: Für die Welt hat sich Stefan Frommann mit Paul Stanley von Kiss getroffen. Die FAS hat ihr Gespräch mit Punkhistoriker Jon Savage über Joy Division online nachgereicht. Juliane Streich wirft in der taz einen Blick ins Programm des feministischen Club- und Technofestivals "Balance" in Leipzig. Für die Jungle World hat sich Jens Uthoff zum Plausch mit Dylan Carlson über dessen Band Earth getroffen, die mit ihrem neuen Album "Full Upon Her Burning Lips" gerade wieder die Untiefen der Langsamkeit erkunden. Hier eine Hörprobe:
Besprochen werden Elton Johns Münchner Abschiedskonzert (SZ) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine neue CD des Oboisten Albrecht Mayer (SZ).