Efeu - Die Kulturrundschau

Links meint Haltung

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01.07.2017. Der Tagesspiegel bewundert den Hauch von Ewigkeit in Fotografien aus dem 19. Jahrhundert. Tell geht dem Phänomen Knausgard auf den Grund. Die NZZ sieht in einer Frank-Lloyd-Wright-Ausstellung den Kuratoren live beim Denken zu. Und: Martin Kusej wird neuer Direktor des Burgtheaters. Die Kritiker sind recht zufrieden.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.07.2017 finden Sie hier

Kunst


Portret van een Noord-Afrikaanse man, Antonio Cavilla, c. 1880

Immer noch ganz hingerissen ist Bernhard Schulz, der für den Tagesspiegel eine große Ausstellung im Amsterdamer Rijksmuseum mit Reise-, Wissenschafts-, Reportage- und Porträtfotografie des 19. Jahrhunderts besucht hat: "Die Fotografie des 19. Jahrhunderts fasziniert, weil sie immer dieses Element des Aufwandes, des eigens Hergestellten in sich trägt. Wir sehen Menschen, die ihrer Alltagsexistenz einen Hauch von Ewigkeit verleihen wollen, wir sehen menschengemachte Erzeugnisse, die auf Dauer angelegt sind. Wir erkennen, in die Bilder eingeschrieben, eine gesellschaftliche Ordnung, die gewiss nicht allen Menschen Glück und schon gar nicht gleichen Anteil verheißt, wohl aber die Sicherheit des Bleibenden und Berechenbaren. Jedenfalls für den Augenblick, in dem sie fotografische Realität wird."


Peter Saul, San Quentin # 1 (Angela Davis at San Quentin), 1971, © Peter Saul, Collection of KAWS

Peter Saul ist ein früher Meister der Popgeneration, der zu einem "grellfarbig flüssigen Surrealismus" und linker Didaktik neigt, erzählt Welt-Kritiker Hans-Joachim Müller anlässlich einer dem amerikanischen Maler gewidmeten Ausstellung in der Frankfurter Schirn. So richtig gut hat sich das nicht gehalten, findet er: "'Links' meint Haltung, demonstrativen Widerstand, Selbstausgrenzung aus der pathetisch verklebten Nationalerzählung. Und so muss man - zumal heute - schon die Bildtitel zu Hilfe nehmen, um ihre eingeschriebene Botschaft zu verstehen. Wenn nicht ausdrücklich dastünde 'White Boys Torturing and Raping the People of Saigon', ginge das Bild auch als karnevalesker Affentanz durch. Irgendwo verkrümelt sich die Anklage im blau-gelb-rot glühenden Layout."

Weitere Artikel: Im Guardian erinnert sich die Bibliothekarin Rosie Ifould, die in den Neunzigern eine mobile Bücherei in einem dünn besiedelten bergigen Gebiet von Wales betreute, wie eines Tages Martin Parr vorbeikam, um sie bei der Arbeit zu fotografieren. Roman Gerold besucht für den Standard die Ausstellung "Work it, feel it!", die die Kunsthalle Wien im Rahmen der Vienna Biennale ausgerichtet hat.

Besprochen werden eine Ausstellung zu dem Pariser Kunsthändler Paul Rosenberg im Musée Maillol (NZZ), eine Mondrian-Retrospektive im Gemeentemuseum in Den Haag (FAZ) und eine Ausstellung mit Porträts von Paul Cézanne im Pariser Musée d'Orsay (FAZ).
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Bühne

Na bitte, beim dritten Anlauf hat es geklappt: Martin Kušej wird 2019 Direktor des Burgtheaters. Eitel Sonnenschein herrschte bei der Pressekonferenz, notiert Nikolaus Merck in der nachtkritik. Das hat auch politische Gründe, meint Presse-Kritikerin Barbara mit Blick auf den Kulturminister Thomas Drozda (SPÖ): "Falls das traditionell 'rote' Burgtheater sich nach der Wahl in einer schwarz-blauen Regierung (herzlos, sparsam, kunstfern, speziell die FPÖ hat diesen Ruf) wiederfindet, wird der neue Chef als Bollwerk gegen rechts da sein. Wofür Kušej ästhetisch steht, weiß man: Ein Schönfärber ist er nicht, vielmehr Spezialist für Düsteres wie Fantasievolles, zu dem häufig sein langjähriger Partner, der Bühnenbildner Martin Zehetgruber, beitrug."

Der Publikumserfolg am Münchner Residenz Theater, meint Egbert Tholl in der SZ, "dürfte einer der Gründe sein, weshalb er nun nach Wien berufen wird - an ein Haus, an dem Karin Bergmann gerade unverdrossen und durchaus erfolgreich versucht, aus den Trümmern der Ära Hartmann ein konsolidiertes Arbeiten wiedererstehen zu lassen. Leichter als in München wird es Kušej in Wien nicht haben."

Er hätte keine ästhetischen Impulse mehr gesetzt? Claus Peymann kann es nicht fassen und singt sich im Interview mit der SZ noch mal ein Loblied: "War die Arbeit von George Tabori oder Robert Wilson an unserem Haus vergebens? Oder die von Peter Stein - wir haben von ihm 'Wallenstein' gespielt, 'Das letzte Band', allein den 'Zerbrochnen Krug' zweihundert Mal. Die Stücke von Peter Handke und Thomas Bernhard, wo wurden sie uraufgeführt oder lebendig gehalten? Bei uns. Was sind denn ästhetische Impulse? Etwa, wenn Schauspieler auf der Bühne herumkaspern? Wenn der Dilettantismus und das Nichtkönnen gefeiert werden? Nein, das ist Novitätenkabinett, gepaart mit Jugendwahn!"

Weiteres: Das Rad vor der Volksbühne ist abgebaut, meldet Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung. Besprochen werden eine Nurejew-Gala in Wien (Standard), Mateja Koležniks Inszenierung des "Tartuffe" am Residenztheater München (nachtkritik) und das Stück "Hagar" des kainkollektivs in Bochum (nachtkritik).
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Film

Uwe Mies und Frank Olbert plaudern für die FR mit Sönke Wortmann über dessen neuen Film "Sommerfest". Besprochen wird die zweite Staffel der Comicverfilmungsserie "Preacher" rund um einen saufenden, rauchenden und fluchenden Priester, der den Glauben an Gott verloren hat (FAZ) und Reiner Holzemers Doku über den Modedesigner Dries van Noten (den Verena Lueken in der FAZ ziemlich verschenkt findet: "Wir erfahren vom Handwerk, auf das Dries van Noten so viel Wert legt, nahezu nichts.")

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Literatur

Im Tell-Essay geht Peter Urban-Halle dem Phänomen Knausgård auf den Grund: "Allein schon durch den Anfang des ersten Bandes, der das Ich zunächst ausschaltet, weil er allgemeingültige Verfallsprozesse im toten Körper beschreibt, kann man Knausgårds Erfolg nicht bloß mit flachem Voyeurismus des Publikums erklären. Ja, wir betreten ein anderes Leben - aber weder wie einen heiligen Raum noch wie ein Bordell, sondern eher wie Räume in einem Museum, in denen wir Bilder sehen und wirklich sehen, neu sehen, von denen wir uns beeindrucken lassen, deren Seele wir spüren, deren Stimmung, so dass sie uns unmittelbar ansprechen."

Peter Praschl berichtet in der Literarischen Welt von seinem Besuch im Berliner Gropiusbau, wo derzeit das Originalmanuskript von Kafkas "Der Prozess" (dazu mehr im gestrigen Efeu) aufgebahrt ist: Er fühlt sich "bald ein wenig schäbig", schreibt er. "Weil man ja doch nicht anders kann, als sich wie ein Amateurgraphologe über diese Handschrift herzumachen, um sie zu deuten. Wie sie tanzt. Wie sie stockt. Wie sie verzagt. Sind da nicht plötzlich mehr Wörter pro Zeile? Wird es beengter? So steht man vor der Kafka-Handschrift wie einer der Männer, die Josef K. belauern und die er nicht mehr loswerden kann, bis ihm am Ende ein Messer im Herzen umgedreht wird."

Weiteres: Im literarischen Wochenendessay der FAZ berichtet der Schriftsteller Kurt Drawert von seiner nun endlich vollzogenen ersten Lektüre von Imre Kerteszs "Roman eines Schicksalslosen". Judith von Sternburg schreibt in der FR über die Geburtstagsfeier zu Ehren des Schriftstellers Ror Wolf, der 85 Jahre alt wurde. In der Literarischen Welt fügt Dennis Scheck die von Carl Barks geschriebene und gezeichnete Donald-Duck-Geschichte "Die Wette" (1947) seinem in wöchentlichen Lieferungen ergänzten Kanon hinzu. Anlässlich der Gesamtausgabe von "Tim & Struppi" hat Wieland Freund in der Literarischen Welt zwanzigeinhalb Sätze über Hergés Comicalbenklassiker geschrieben. Außerdem bringt die Literarische Welt einen Auszug aus Christoph Höhtkers für August angekündigtem Roman "Alles sehen".

Besprochen werden Jochen Schimmangs "Altes Zollhaus, Staatsgrenze West" (taz), der italienische Comicklassiker "Dylan Dog" von Tiziano Sclavi (taz), Rachel Cusks "Transit" (SZ), Maxim Billers Kolumnensammlung "Hundert Zeilen Hass" (SZ), Julien Gracqs "Das Abendreich" (FAZ) und Wiederveröffentlichungen der auf Jiddisch schreibenden Autoren Moyshe Kulbak und Debora Vogel (Literarische Welt).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Architektur


Frank Lloyd Wright, Plan for greater Baghdad, Baghdad project, 1957. aerial perspective of the cultural center and university from the north. the frank lloyd wright foundation archives (the museum of modern art | avery architectural & fine arts library, columbia university, new york)

Sehr gut gefällt NZZ-Kritiker Albert Kirchengast die bescheidene Attitüde, mit der das Moma in New York den 150. Geburtstag des Architekten Frank Lloyd Wright feiert: "Nicht Wright, die Kultfigur, heute wie damals von emsiger Jüngerschaft umgeben, sondern zwölf kleine Bildschirme stehen im Zentrum der Ausstellung. Bergdoll nimmt den Titel seiner Schau ernst, lässt Architekturhistoriker, Kuratoren, Archivare, ob jung oder alt, renommiert oder neu im Forschungsbetrieb, je ein Objekt ihrer Wahl aus der Fülle des Möglichen picken und auspacken. Das wurde gefilmt und zu charmant unprätenziösen Präsentationen gefügt - man schaut den Leuten sozusagen live beim Nachdenken über die Schultern."
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Stichwörter: Wright, Frank Lloyd, Moma

Musik

Unter viel Werbeaufwand hat Jay-Z sein neues Album "4:44" veröffentlicht. "Ein Hammer von einem Album", jubelt Jan Kedves in der SZ unter besonderem Verweis auf die elaborierte Sampletechnik. "Ein starkes und modernes Album" hat Thore Barfuss von der Welt gehört.

Ist das wirklich so? "Wir haben keinen Schimmer", antwortet Dennis Pohl in der Spex - denn der Rapper veröffentlicht das Album zunächst exklusiv auf Tidal, dem Streamingservice, an dem Jay-Z signifikante Anteile hält, zu dem die Spex allerdings keinen Zugang unterhält. "Keine Review" ist Pohls Text daher überschrieben und befasst sich mit Grundsätzlichem: Gemunkelt werde nämlich, dass Jay-Z dieses Album - und zwar mit einigem Erfolg - bei den Verhandlungen mit Investoren in die Waagschale geworfen habe. Solche Exklusivitätsdeals seien ja nun völlig vorgestrig- das Nachsehen hat der Hörer: "Dass Jay-Z seine Musik und am Ende auch seinen Streamingdienst bestmöglich vermarkten möchte, mag aus unternehmerischer Sicht nur logisch sein. Doch indem er sie hinter einem Abo-Riegel versteckt, schadet er letztendlich der Branche - und damit sich selbst. Die meisten Hörer haben sich längst für einen Dienst entschieden und werden sich kaum ein zweites Abonnement zulegen. Jay-Z dürfte das trotzdem nicht besonders jucken. Ihm geht es nicht um seine Branche und auch nicht um die Musik - sondern um die eigene Tasche." Die dürfte das Jay-Zs im Netz heiß diskutiertes Bekenntnis auf dem Album, untreu gewesen zu sein (mehr hier), gut füllen.

Der Auftritt von Philippe Herreweghe und Martin Helmchen beim Tonhalle-Orchester Zürich hat NZZ-Kritiker Jürg Huber übers Ohr geradewegs ins Herz getroffen. Spätestens bei Franz Schuberts "Unvollendeter" war es um ihn geschehen: "Der körnige und entspannte Klang des ventillosen Blechs, das wunderbar aufblühende Fugato der Holzbläser am Ende der Exposition, die in der Wiederholung behutsam an Kontur gewinnt, bereiten auf eine Durchführung vor, die Gewissheiten gehörig durchschüttelt. Alles ist zu hören und alles so sinnfällig, vom synkopischen Schwanken des Begleitsatzes bis zu den dissonanten Ausbrüchen, dass es mitten in das eigene Denken, Fühlen und Sein einbricht. Und dabei ist diese Musik voller Leben, mag sie auch Bedrohliches und gar Todesnähe mit sich führen."

Selbst  wenn er in Tweets verkündet, die AfD zu wählen, wähle er natürlich nicht die AfD: "Ich hab halt nur manchmal eine Art, Dinge zu sagen, die nur ich verstehe", erklärt Bushido im großen taz-Gespräch gegenüber Thomas Winkler. Er hätte nur das Gefühl gehabt, "dass es da einen Nährboden für solche Parteien gibt - und das ja auch weltweit. ... Ich habe eben meine ziemlich verquere Bushido-Art. Also habe ich nur geschrieben: Jungs, ich wähle AfD. Um zu sagen: Da ist was am Brodeln." Warum schließlich einfach und deutlich, wenn's auch kompliziert und unverständlich geht?

Weiteres: Tim Caspar Boehme staunt in der taz über das Phänomen des K-Pop, also der koreanischen Popmusik. Frederik Hanssen gratuliert dem Komponisten Klaus Wüsthoff im Tagesspiegel zum 95. Geburtstag. In der Welt schreibt Michael Pilz anlässlich des "Tour de France"-Kickoffs in Düsseldorf über Kraftwerks Hommage an das große Fahrradrennen. Hier die Orginalversion des Stücks aus den 80ern:



Besprochen werden das neue Album des Rappers Vince Staples (taz), ein Konzert von Oliver Leicht und seinem Jazz-Ensemble [ACHT.] (FR) und ein Dreistundenkonzert von Igor Levit (FR). Und The Quietus kürt die besten Veröffentlichungen des letzten Monats.
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