Efeu - Die Kulturrundschau

Heroischer Rufer in der Wüste

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27.02.2017. Der Oscar für den besten Film geht an Barry Jenkins "Moonlight". FAZ, Welt und ZeitOnline sind zufrieden, critic.de nicht. Im Standard verkündet Aki Kaurismäki künftig lieber zu gärtnern als Filme zu machen. In der SZ will das Kuratorenpaar Elmgreen und Dragset die Türkei mit der Istanbul-Biennale lieber nicht provozieren.  René Polleschs Riesenküken-Spektakel "Ich kann nicht mehr!" teilt die Gemüter: Postbarocke Revolutionsrevue, findet die Nachtkritik, abgenagter Pollesch-Knochen, meint die FAZ. Und dem Tagesspiegel schwinden in der Elbphiharmonie die Sinne.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.02.2017 finden Sie hier

Film

In Los Angeles wurden vergangene Nacht die Oscars verliehen. Barry Jenkins' "Moonlight" über einen queeren, schwarzen Jungen (warum "queer" in diesem Zusammenhang das falsche Wort ist, erklärt uns nachträglich Jan Feddersen in der taz) wurde als "bester Film" geadelt (nachdem peinlicher-, wie fälschlicherweise als solcher erst "La La Land" verkündet wurde), ansonsten hagelte es Oscars für die Musical-Reprise "La La Land", wenn auch nur sechs von 14 möglichen. Der Oscar für den "besten nicht-englischsprachigen Film" wurde an Asghar Farhadis "The Salesman" vergeben - Maren Ades "Toni Erdmann" ging somit leer aus (hier alle Gewinner im Überblick). "Praktisch jeder Preis ist eine exzellente Wahl", freut sich Hanns-Georg Rodek in der Welt. Mit dem Oscarerfolg von "Moonlight" sei "die Welt Hollywoods ein ganzes Stück größer geworden", meint Verena Lueken in der FAZ. Den Namen des "Moonlight"-Regisseurs lässt sie dennoch unerwähnt.

Die Auszeichnung für "Moonlight" wäre "verdient", schrieb Wenke Husmann in einem am Wochenende vorab veröffentlichten Interview mit Regisseur Barry Jenkins auf ZeitOnline: "Homosexualität, Männlichkeit von Afroamerikanern, überhaupt ein Film mit ausschließlich schwarzen Protagonisten, geschrieben und gedreht von schwarzen Künstlern - klar könnte man da sagen, so ein Film sei 'relevant'. 'Moonlight' ist aber in erster Linie ein sehr guter Film." Auf critic.de berichtet Frédéric Jaeger von seinem Unbehagen beim Sehen des Films: "Ein queeres Hollywooddrama, bei dem es um das Ausbrechen geht, um das Sprengen der Normen, um das Neusetzen von Grenzen und den Transformationsprozess, der Kino auch sein kann, davon muss weiter geträumt werden."

Bei den Linken kommt Raoul Pecks Film "Der junge Karl Marx" schon mal nicht gut an. Christopher Wimmer von der Jungle World sah jedenfalls einen Film, den er dem ZDF für einen Sendeplatz im Vorabend empfiehlt. Denn der Film erschöpfe sich in Banalitäten: "Man sieht Marx, gespielt von August Diehl, rauchen, saufen, kotzen, wieder rauchen, Sex haben, Schach spielen und diskutieren. Dazu bleibt der Film in großen Teilen völlig unbeholfen." Für die Berliner Zeitung spricht Christina Bylow mit Hauptdarsteller August Diehl.

Für den Standard spricht Dominik Kamalzadeh mit Aki Kaurismäki über dessen Berlinale-Film "Die andere Seite der Hoffnung", der als zweiter Teil einer Trilogie angelegt ist. Dennoch will sich der finnische Filmemacher damitfrühzeitig vom Kino verabschieden: "Es ist die erste Trilogie, die aus zwei Teilen besteht. No more cinema. ... Sergio Leone starb mit 60 auf dem Weg zurück von Moskau. Ich bin nah dran. Ich will lieber Gärtner sein. Ich kann gut mit Bäumen. Ich möchte wie George Orwell in einem Landhaus leben. Ich liebe das Kino, aber ich werde nicht für das Kino sterben."

Weiteres: Gerhard Midding berichtet in der Welt von der Verleihung der Césars in Frankreich. In einem online nachgereichten Themenschwerpunkt seiner Wochenendausgabe befasst sich die NZZ mit einer Handvoll Artikel mit dem Komplex "Film und Gewalt".

Besprochen werden Peter Bergs "Boston" (Standard), Rüdiger Suchslands Essayfilm "Hitlers Hollywood" (Welt), Craig Atkinsons Dokumentarfilm "Do Not Resist" (SZ) und der auf DVD veröffentlichte spanische Thriller "Der unsichtbare Gast" (SZ).
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Kunst

Im September eröffnet die 15. Internationale Istanbul Biennale unter dem Motto "A good neighbour". Provozieren will das Kuratorenpaar Michael Elmgreen und Ingar Dragset in der Türkei aber lieber nicht, ohnehin sei die EU am aktuellen Verhältnis nicht unschuldig, finden Elmgreen und Dragset im SZ-Interview: "Elmgreen: 'Zwanzig Jahre hat sie die Türkei mit dem EU-Beitritt hingehalten. Das hat die Enttäuschung und das Misstrauen befördert. Europa war in vielerlei Hinsicht ein schlechter Nachbar der Türkei. Sie war an einem neuen Markt, billiger Produktion und einem militärischen Verbündeten interessiert.' Dragset: 'Das war eine sehr traditionelle imperialistische Attitüde. Anstatt Drohungen auszustoßen, die offenkundig nicht helfen, sollte Europa diejenigen ermutigen und unterstützen, die mit Europa sympathisieren.'"

Der Einzug der Virtual Reality in Kunstausstellungen ist vielleicht die "größte Veränderung des künstlerischen Bildraums seit Vasaris Zentralperspektive", glaubt Ursula Scheer in der FAZ nach einem Besuch der Ausstellung "Die ungerahmte Welt" im Haus der Elektronischen Künste in Basel. Und doch droht nicht nur der Verlust kritischer Distanz, wie Kritiker befürchten, die Immersion birgt auch andere Probleme: "VR kann schrecklich langweilig sein. Weil es nicht reicht, Menschen an einen Ort zu versetzen. Der Ort muss eine Geschichte erzählen, er muss ikonographisch gesättigt sein, und das in einer dramaturgisch sinnvollen Chronologie. Auch VR braucht Narration."  Lieber in die Staatliche Kunsthalle Karlsruhe gehen, rät Scheer, wo in der Ausstellung "Unter freiem Himmel" schon zum zweiten Mal Schriftsteller wie Arno Geiger, Brigitte Kronauer oder Friederike Mayröcker Texte zu den Exponaten verfassen und einen virtuellen Raum im menschlichen Vorstellungsvermögen eröffnen.
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Musik

Vor sechs Wochen wurde die Elbphilharmonie eröffnet. Die gnadenlose Auflösung der Saalakustik, die auch kleine Asynchronitäten unter den Musikern und kleinste Laute notorischer Sesselrutscher im Publikum preisgibt, wurde damals viel kommentiert. "Das NDR Orchester als StammEnsemble hat mit der hochsensiblen Akustik offenbar umzugehen gelernt (und das Publikum auch, es ist meist mucksmäuschenstill)", berichtet nun Christiane Peitz im Tagesspiegel. "Die Irritationen sind selten bei diesem Konzert. Und man nimmt sie gerne hin, denn hier geschieht Unerhörtes: Die Urgewalt der Musik nimmt alle Sinne ein, direkt, persönlich, unmittelbar."

Weiteres: Für die taz resümiert Linda Gerner das Vokalfest Chor@Berlin, das vergangenes Wochenende im Radialsystem stattgefunden hat. Max Nyffeler berichtet in der FAZ von der Medientechnik-Messe Avant Première in Berlin, die er vor allem aus Perspektive der klassischen Musik aspektiert: Immer avanciertere, immer ausgetüfteltere Technologie beschere der Übertragung klassischer Musik und Opern immer mehr Gestaltungsraum. Reinhard J. Brembeck (SZ), Manuel Brug (Welt), Marco Frei (NZZ) und Wolfgang Sandner (FAZ) gratulieren dem Geiger Gidon Kremer zum 70. Geburtstag. Dazu ein Bach-Konzert des Jubilars:



Besprochen werden Christiane Rösingers neues Soloalbum "Lieder ohne Leiden" (taz), ein Konzert von The XX (Berliner Zeitung), ein Konzert der Orchesterakademie der Berliner Philharmoniker unter Ton Koopmann (Tagesspiegel), ein Auftritt von Der Ringer (Tagesspiegel) und das neue Album von Thundercat (Pitchfork, SZ).
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Literatur

In der NZZ singt Rainer Moritz das resignative Klagelied der Literaturkritik: "Es gehört unabdingbar zum Selbstbild und Selbstverständnis des Literaturkritikers, sich mit seinen tiefschürfenden Analysen als einsamer heroischer Rufer in der Wüste zu fühlen. ... Es ist ein Elend: Zu Lebzeiten ungelesen - und danach erst recht." Immerhin wir Perlentaucher lesen fleißig mit.

Weiteres: Thomas Ribi uns Urs Bühler sprechen in der NZZ mit Rémi Jaccard und Gesa Schneider vom Zürcher Literaturmuseum. In der FAZ stellt Claudius Crönert die israelischen Nachwuchsschriftsteller Asaaf Gavron, Dorit Rabinyan und Nir Baram vor, die mit ihren Büchern einen kritischen Blick auf ihr Heimatland werfen. Michael Braun gratuliert dem Dichter und Kritiker Peter Hamm im Tagesspiegel zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Arthur Koestlers "Diebe in der Nacht" (Jungle World), Walter Gronds "Drei Lieben" (Standard), und der vor kurzem entdeckte, hier als PDF verfügbare Kurzroman "Life and Adventures of Jack Engle: An Auto-Biography" von Walt Whitman (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Henning Heske über Norbert Hummelts "fegefeuer":

"wenn es nur diese kleinen flocken sind, die fallen, so
hört es dennoch nicht zu schneien auf...ich kann nur
..."
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Bühne

(Bild: Rene Pollesch, "Ich kann nicht mehr", Deutsches Schauspielhaus Hamburg)

Herrlich überfordert ist Stefan Schmidt in der Nachtkritik von Rene Polleschs "postbarocker" Produktion "Ich kann nicht mehr!" am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg: "Ein theatrales Fest des Lebens im Angesicht einer zerbrochenen Welt! (…) Mal Revolutionsrevue, mal Guerillaballett. Eine großartige, beeindruckende Kollektivleistung an einem Abend, der dem Kollektiv massiv misstraut. Nicht zuletzt weil dieses Kollektiv zwischenzeitlich alles Individuelle niederschreit."

Für FAZ-Kritiker Hubert Spiegel ist Polleschs Riesenküken-Spektakel hingegen eine "kokette Revue vergilbter Selbstreferentialitäten, die von der Unmöglichkeit gelingender Kommunikation, dem Primat des Materialismus und der Banalität moderner Liebesbeziehungen handelt, also von den alten, abgenagten Pollesch-Themen. Aber wohl noch nie zuvor war der Knochen derart blank und bloß. Ab und an schwimmt ein schönes Bonmot durch die trübe Gewäschsuppe, die ohne die choreographischen Einlagen der Kampfballerinen noch viel dünner wirken würde." Dem Deutschlandradio Kultur hat Pollesch eines sehr raren Interviews gegeben.




(Bild: Luk Perceval, "Wer einmal aus dem Blechnapf frisst", Thalia Theater Hamburg, Armin Smailovic)

Mit "Wer einmal aus dem Blechnapf frisst" am Hamburger Thalia Theater hat Luk Perceval zum dritten Mal einen Roman Hans Falladas auf die Bühne gebracht. In der SZ lobt Till Briegleb nicht nur die "drastische Komik", mit der Perceval Falladas chancenlosen Ex-Häftling in der Gesellschaft der Weimarer Republik scheitern lässt, sondern entdeckt auch Parallelen zur Gegenwart: "Die Arroganz, die das dauernde Vorspiegeln von Lockerheit für Leute ausdrückt, die kaum einen Grund zum Lachen haben, treibt schließlich auch in unsere heutige Vorstellung von Gemeinschaft einen tiefen Keil. Nur dass die Serienerfahrung von Desinteresse und Missachtung die Frustrierten der Gegenwart nicht mehr in die Kriminalität treibt, sondern in den Rechtspopulismus. Dessen Anhänger bezeichnen sich ja absurderweise als die letzten Anständigen in unserer Welt."

In der FAZ sieht Hubert Spiegel eher die Lust an der Unterdrückung: "Percevals mit leichter Hand sorgfältig gearbeitete Inszenierung führt diese Lust vor, wenn Bernd Grawerts Gefängnisdirektor sich Kufalts Daumen in den Mund steckt, als wollte er ihm das Mark aus den Fingerknochen saugen. Oder wenn Stephan Bissmeier als pharisäischer Pastor Marcetus sein Schäflein Kufalt niederknien lässt und eine Reitgerte dabei schwingt wie einen Dirigentenstab."  taz-Kritikerin Katrin Ullmann findet allerdings: "Im Hintergrund überzeichnet Perceval die Szenerie - als gelte es, ein Gemälde von Heinrich Zille mit Neonfarben neu zu kolorieren."

Besprochen werden: Noah Heikles von Ilan Ronen inszenierte Apokalypsen-Tragikomödie "Alles muss glänzen" mit Maria Furtwängler im Theater am Kurfürstendamm. "Die Inszenierung von Ilan Ronen ist einer niedlich choreographierten Skizze näher als einer amüsant-bösen Katastrophenposse", findet die FAZ, weitere Besprechungen:Tagesspiegel, Berliner-Zeitung, FR, nachtkritik), Sebastian Hartmanns "Gespenster" am Deutschen Theater in Berlin (FR, nachtkritik), Robert Schusters "Hamlet" am Nationaltheater Weimar (nachtkritik), Katharina Crommes Inszenierung von Martina Clavadetschers "Der letzte Europäer" in Zürich (NZZ) und Elmar Goerdens "Penelope" in Bern (NZZ).
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