Außer Atem: Das Berlinale Blog

Es zählt der einzelne Mensch: Aki Kaurismäkis 'Die andere Seite der Hoffnung' (Wettbewerb)

Von Thomas Groh
14.02.2017. Der einzige wirkliche Film des Wettbewerbs wird als solcher auch gezeigt: Aki Kaurismäkis analog gedrehtes Märchen holt Aleppo ganz nahe an Helsinki. Die Berlinale hat den aussichtsreichsten Kandidaten für den Goldenen Bären endlich gefunden.


Der eine schultert seinen Seemannssack und verlässt das Schiff. Der andere packt seine Koffer und verlässt - Wohnung, Ehe, Gelderwerb - sein Leben. Der erste, weil er muss - er ist syrischer Flüchtling aus Aleppo. Der zweite, weil er kann - er ist finnischer Unternehmer, verkauft als Handelsvertreter Hemden an kleine Bekleidungsgeschäfte, seine Frau ist offenbar Alkoholikerin. Der erste, Khaled (Sherwan Haji), beantragt Asyl, erzählt den Behörden seine Geschichte, dann droht ihm die Abschiebung. Der zweite, Wikström (Sakari Kuosmanen), macht seine Lagerbestände zu Geld, setzt beim Poker auf Risiko, gewinnt, investiert in ein Restaurant samt Belegschaft, muss sich dann mit den Behörden rumschlagen. Khaled entkommt der Abschiebehaft, schläft hinter dem Restaurant ein. Wikström trifft ihn dort an, man haut einander kurzerhand die Nase blutig und versöhnt sich - wir befinden uns in Aki Kaurismäkis Kino-Finnland - einen Schnitt später beim Schnaps. Fortan arbeitet Khaled in Wikströms eigenbrötlerischer Solidargemeinschaft, die dieses Restaurant darstellt. Die Frage bleibt, wie man Khaleds Schwester nachholt: Die ist auf der Balkanroute bei einem Grenzscharmützel verloren gegangen, was Khaled wider Willen in den Norden Finnlands getrieben hat.

Bereits Kaurismäkis letzter Film "Le Havre" - im üblichen Takt des Regisseurs vor fünf Jahren entstanden - befasste sich mit der Flüchtlingsfrage, mit der Frage nach Barmherzigkeit, Mitmenschlichkeit und widerständiger Solidarität. Doch wo "Le Havre" noch sehr märchenhaft fabulierte, rückt in "Die andere Seite der Hoffnung" die Realität der blutigen Kämpfe in Aleppo diesmal spürbar nahe: Am eindrücklichsten gar nicht mal so sehr bei den kämpferischen Auseinandersetzungen in der Stadt, die Kaurismäki als im Kinobild gerahmtes Fernsehbild vermittelt - sondern vielmehr dann, wenn Khaled in einer langen, bewusst kunstlos gehaltenen Einstellung einige Minuten lang seine jüngere Lebensgeschichte referiert - wie er seine Schwester auf der Flucht verloren hat, wie eine Rakete dort eingeschlagen ist, wo er zuvor noch gearbeitet hat. Ob Russland, die USA, Hisbollah, Syrien, die Rebellen oder der IS die Rakete abgeschossen hat, spielt für ihn keine Rolle - er wollte nur noch weg. Der Entmenschlichung von Geflüchten durch die Rhetorik der Rechten, dem Betroffenheitskitsch der Linken setzt Kaurismäki einen schlichten, aber wirkungsvollen Humanismus entgegen: Es zählt der einzelne Mensch und dessen Erfahrungen. In "Die andere Seite der Hoffnung" blicken wir ihm auf Augenhöhe ins Gesicht.

Nicht, dass Kaurismäki den Realismus für sich entdeckt hätte. Der finnische Auteur bleibt sich und seiner über die Jahre hinweg etablieren künstlichen Welt, die immer auch lyrisch ins sanft Märchenhafte entrückt ist, treu: Würdevoll-melancholische Finnen üben sich vor einer in satten Farben gehaltenen Lebenswelt, die vom Mobiliar her seit den 60ern keinen Kontakt mehr mit der Gegenwart hatte, in wodka-umspültem Stoizismus, zeigen Herz und Solidarität weniger durchs laute Deklamieren, sondern durch die souverän vollzogene Tat. Barleute geben Geflüchteten gratis ein Bier, der Unternehmer Wikström legt einen beträchtlichen Beträge hin, um Khaled einen gefälschten Ausweis zu besorgen, der Fernfahrer, der Leute schleust, nimmt dafür kein Geld. Solche Gesten gelebter Solidarität entspringen wohl kaum dem Alltag, sondern wohl eher einer melancholischen Sehnsucht danach, wie das Leben sein sollte.



Einmal mehr ist es bei Kaurismäki also eine verschrobene Solidargemeinschaft, sind es ein paar urwüchsig widerborstige Leute, die schon durch ihre schiere lakonische Existenz der Effizienzlogik und -rhetorik von Wirtschaftsexperten und Abschiebebehörden etwas entgegensetzen. So ist denn auch diese typische Kaurismäki-Ausstattungswelt aus alten Autos und dem schlichtem Mobiliar der 60er weniger bloß als nostalgische Spur zu verstehen, sondern vielmehr als ein Beharren darauf, dass das, was von Wert ist, keinem neurotischen Modernisierungsdruck zu weichen hat, solange die Gründe dafür nicht auf der Hand liegen.

Eine Facette, die sich nach der in den Jahren seit "Le Havre" vollzogenen Volldigitalisierung des Kinos auch im Produktions- und Distributionsprozess niederschlägt: Kaurismäkis "Die andere Seite der Hoffnung" ist auf 35mm gedreht und wird auf der Berlinale in einigen Vorführungen tatsächlich auch in dieser Form gezeigt. Im Grunde genommen ist "Die andere Seite der Hoffnung" damit der einzige als solcher wirklich bezeichenbare Film im Wettbewerb eines Festivals, das sich seit geraumer Zeit treffenderweise eher Internationale File-Festspiele nennen müsste. Schönist es da, dass der deutsche Verleih offenbar Anstalten macht, den Film jenen Kinos, die ihre alten Projektoren bislang nicht verschrottet haben, tatsächlich auch in diesem "obsoleten" Format zugänglich zu machen. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Wenn Wikström mit seinem Oldtimer nachts durch die Straßen Helsinkis zieht, leuchtet das Rot seiner Rücklichter auf eine ähnlich wunderbare Weise wie das cremig-satte Blau an den Wänden strahlt. Und überhaupt: Wo digitales Kino in seinem Schärfefetisch den Menschen und sein Antlitz bloßstellt, scheint 35mm-Film (zugegeben, in den Händen eines freundlichen Kameramanns und Ausleuchters) gar nicht anders zu können, als den porträtierten Menschen Komplimente zu machen. Wenn man so will, schlägt auch darin der Kaurismäki'sche Humanismus durch. Menschen sehen auf 35mm schlichtweg schöner aus.



Sicher, Kaurismäki erfindet mit seinem realistisch grundiertem Kino-Lyrizismus der bittersüßen Melancholie nichts neu, schon gar nicht seinen eigenen Kino-Kosmos. Man erwarte von dem Mann mit seinen 59 Jahren keine Sprünge mehr: Er hat seine Form, seinen Zugang zur Welt, seine Mittel zur Darstellung, seinen ganz eigenen Klassizismus gefunden - und das Ergebnis gibt ihm in seiner souveränen Erhabenheit mehr als recht. Verkrustet wirkt hier nichts, auch wenn sich der Film in seinem lakonischen Kunst-Finnland vielleicht tatsächlich etwas einigelt. Dennoch ist diese Welt offen und zugänglich: Lange Strecken fokussiert Kaurismäki auf Khaled und seinen irakischen Freund Mazdak, der sich zumindest in der finnischen Bar bereits als bestens assimilierter Finne, quasi der Finne von morgen oder als Kaurismäki'scher Charakter per se erweist. In den Migrationsbehörden tummeln sich Menschen aus Afrika, gekleidet sind sie traditionell in schillernd bunten Farben, die in diesem Licht, von diesem Material ganz besonders leuchten. Spätestens an dieser Stelle muss es auch dem unempfindlichsten Zuschauer dämmern, warum das Beharren auf analogem Filmmaterial und dem fotochemischen Prozess auch eine politische Entscheidung gewesen ist. Die Berlinale unterdessen hat in "Die andere Seite der Hoffnung" nun endlich den seit Tagen ersehnten, heißen Bärenkandidaten gefunden.

Die andere Seite der Hoffnung, Finnland 2017. Regie/Buch: Aki Kaurismäki. Kamera: Timo Salminen. Mit: Sherwan Haji, Sakari Kuosmanen, Janne Hyytiäinen, Ilkka Koivula, Nuppu Koivu, Simon Hussein Al-Bazoon, Niroz Haji, Kaija Pakarinen, u.a. 98 Minuten. (Vorführtermine)