Efeu - Die Kulturrundschau

Unendliche Kettenreaktion der Terzinen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.05.2015. Der Flüchtling ist der neue Held des Kulturbetriebs. Jacques Audiard setzt ihm in seinem in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichneten Film "Dheepan" ein Denkmal. Cecilia Bartoli porträtiert ihn in Salzburg als Iphigenie. Yael Ronen kürt ihn in Berlin als palästinensischen Schafskäsehändler zum zweiten Michael Kohlhaas. In der FR erklärt Arno Widmann, wie man am besten Dante liest. Die taz bewundert das 'Feeling' für Proportion des ehemaligen Bauhausdirektors Hannes Meyer.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.05.2015 finden Sie hier

Film


Jesuthasan Antonythasan in Jacques Audiards Gewinnerfilm "Dheepan" (Bild: Festival Cannes)

Am Wochenende gingen mit der Goldenen Palme für Jacques Audiards "Dheepan" die Filmfestspiele in Cannes zu Ende (hier alle Gewinner im Überblick). Die Filmkritik stutzt über diese Entscheidung der Jury unter dem Vorsitz der Coen-Brüder nicht schlecht: Gerechnet hatte mit dieser Auszeichnung kaum jemand, auch wenn Daniel Kothenschulte (FR) den "Film der Stunde" in diesem Flüchtlingsdrama gesehen hat, das sich immer wieder zum Genrefilm hin öffnet. Für Lutz Meier (Perlentaucher) ist die Auszeichnung "ein Plädoyer für den politischen Film, für den Blick in die Gegenwart, für die Kunst individuelle menschliche Schicksale und die politische Misere in Beziehung zu setzen und für ein Kino, das sich trotz allem Gegenwartsbezug noch einen kleinen Hang ins Märchenhafte und Uneigentliche gestattet". Damit versuche der Regisseur zwar "ohne Zweifel etwas Interessantes", schreibt dazu Cristina Nord in der taz. Dennoch bleibt sie skeptisch: "Über den Alltag der drei Flüchtlinge erfährt man nichts, was man sich nicht ohnehin schon hätte denken können. Zudem wirft der Film die Frage auf, wie das Kino auf Leute blickt, die am Rand der Gesellschaft existieren, ohne dass er eine befriedigende Antwort darauf fände." Allerdings passe die Entscheidung doch recht gut zu diesem in diesem Jahr offenbar wenig spektakulären Wettbewerb: Ihre Favoriten fand Nord, wie im übrigen auch Frédéric Jaeger von critic.de, demnach in den Nebenreihen.

Außerdem: Anke Westphal (Berliner Zeitung) begrüßt die Goldene Palme für "Dheepan", da der Film "sozialdemokratische Stereotypen" außen vor lasse. Auch den Großen Preis der Jury für das umstrittene Auschwitz-Drama "Son of Saul" findet sie "sehr angemessen", während Verena Lueken (FAZ) sich einen Einblick in die Jurydiskussionen über diesen Film wünscht. Jan Schulz-Ojala (Tagesspiegel) ertappt die Wettbewerbsjury unterdessen dabei, ein politisches Zeichen setzen zu wollen: "Gezielt hob sie die wenigen gegenwartsbezogenen Filme mit politischem oder auch sozialen Anliegen heraus." In der SZ kommentiert Tobias Kniebe die Juryentscheidungen. Besprochen wurde Audiards "Dheepan" zuvor auf critic.de und kino-zeit.de.

Weitere Artikel: In der Welt erklärt Regisseur László Nemes, dessen Auschwitz-Film "Saul Fia" (Sauls Sohn) in Cannes mit dem Großen Preis ausgezeichnet wurde, sein Konzept den Film nur auf den Hauptdarsteller scharf zu stellen, während das Lager im Bild verschwommen bleibt. Auf critic.de resümieren die Kritiker Frédéric Jaeger, Till Kadritzke, Michael Kienzl, Lukas Stern und Rüdiger Suchsland das Festival im fast episch ausufernden Podcast-Gespräch. Weitere Cannes-Kritiken und -Texte aus den letzten Tagen gibt es auf critic.de, kino-zeit, Negativ Film, epdFilm, film-dienst, Keyframe Daily und in der NZZ. Der Kritikerspiegel von critic.de ist mittlerweile auch gut gefüllt. Und Katrin Doersken fotografiert nun aus dem Flieger. Und wenn sie das Festival Revue passieren lassen wollen, empfehlen wir den Film-Schwerpunkt unserer Kulturrundschau.
Archiv: Film

Bühne


Iphigénie en Tauride. Mit Cecilia Bartoli als Iphienie, Christopher Maltman als Oreste und dem Coro della Radiotelevisione Svizzera, Lugano. Foto: © Salzburger Festspiele / Monika Rittershaus

Großer Applaus und wenige Buhs für Glucks Oper "Iphigénie en Tauride" in Salzburg, die Moshe Leiser und Patrice Caurier als modernes Flüchlingsdrama inszeniert haben. "Macht das Sinn", fragt Stefan Ender im Standard. "Ja. Gluck wollte in seinen Reformwerken der Oper zu mehr Natürlichkeit und Lebensnähe verhelfen: die starren Formen aufbrechen, hohle Theatralik bannen, das Glamouruniversum der Koloraturstars verlassen und wieder zu menschlicher Bodenhaftung finden." In der Presse würdigt Walter Weidringer Cecilia Bartoli in der Titelrolle: "Fernab barocker oder Rossini"scher Koloraturgeläufigkeit leitet Bartoli als Iphigénie ihren ganzen gurrenden Überschwang in die schmucklose Gradlinigkeit von Glucks Gesangslinien um, die sie im Piano und Pianissimo mit enormer Intensität vorträgt - nicht zuletzt, wenn sie schreckensstarr erkennt, dass sie ihren Bruder opfern soll." In der Welt ruft Manuel Brug: "Man kann diese Sängerin nicht genug für ihre unbeirrte Konsequenz und ihr Qualitätsbewusstsein bewundern."


Kulturtechnisch routiniert: Protest im Jahr 2015, zu sehen im "Kohlhaas-Prinzip" (Bild: Ute Langkafel MAIFOTO)

Am Berliner Maxim Gorki Theater hat Yael Ronen Kleists "Kohlhaas" für ihre Bühnenbearbeitung "Das Kohlhaas-Prinzip" ins Berlin-Friedrichshainer Öko-Milieu verlegt und mit dem Konflikt im Nahen Osten verquickt. Für Ulrich Seidler (Berliner Zeitung) bestand der Abend vor allem aus hanebüchenen bis absurden Konstruktionen: Ronen habe "diesmal die Pferde durchgehen lassen. Weil so viele Funkenflug-Einfälle und verblüffende Querschläger rübergebracht, so viele verschiedene Typen karikiert werden müssen und darüber hinaus auch noch alle Nase lang das sperrige, aus illustrativem Schrott bestehende Bühnenbild kompliziert umzubauen ist, bleibt wenig Raum für Figuren, Spiel und moralische Irritation." Das Publikum dankte diese Überfrachtung aber dennoch mit "heftigem Applaus", versichert der Kritiker. Das dürfte an der "kindlichen Freude" am Bühnenspiel gelegen haben, wie uns Mirja Gabathuler in der taz erklärt: "Der Bühnenraum wird als Ort der Spielfreude gefeiert, ohne die politischen Implikationen des Stoffes aus den Augen zu verlieren." Für Irene Bazinger rettete dies den Abend allerdings nicht: "Klamauk ja, Kleist kaum", winkt sie in der FAZ ab. Und Christine Wahl vom Tagesspiegel lernt an diesem Abend, der sie gut unterhalten entlassen hat: "Protest anno 2015 ist eine routinierte Kulturtechnik". Für die Nachtkritik war Anne Peter vor Ort.

Weitere Artikel: Am Pfingstwochenende erlebte tazlerin Fatma Aydemir bei der Athener Performancetour "X-Apartments" in diversen griechischen Hinterzimmern und Wohnstuben "wunderbar surreale Bilder und Atmosphären".

Besprochen werden Oliver Reeses Inszenierung von Joël Pommerats "Die Wiedervereinigung der beiden Koreas" in Frankfurt (FR), Rolando Villazóns Inszenierung der "Traviata" im Festspielhaus Baden-Baden (NZZ), Christoph Marthalers "Isoldes Abendbrot" in Basel (Welt), ein von Sebastian Weigle dirigierter "Rosenkavalier" in Frankfurt (FAZ) und Oliver Frljićs Münchner Inszenierung des Stücks "Balkan macht frei" (Nachtkritik, SZ), die wegen einer Waterboarding-Szene von Zuschauern gestürmt wurde (mehr dazu hier).
Archiv: Bühne

Musik

Germany, zero Points: Der Eurovision Song Contest wuchs sich für die deutsche Abgesandte Ann-Sophie zur Schmach aus. In der taz rekapituliert Jan Feddersen den Abend: Dass der schwedische Sieg ihn davor bewahrt, kommendes Jahr nach Osteuropa reisen zu müssen, gefällt ihm ebenso sehr wie die "überwiegend wunderbare, kitschige, pompöse, erhebende und erhabene TV-Show". In der SZ unternimmt der punksozialisierte Fotograf Pat Blashill einen Abgleich des Song Contest mit seinen Erfahrungen im Punk-Underground: "Vor dreißig Jahren hat mich Punk-Rock gelehrt, dass es völlig okay ist, ein Außenseiter zu sein oder ein Schwuler oder ein Verlierer. Die Mitglieder der ersten Punk-Rock-Band, die ich sah, waren Drags, die sich die Big Boys nannten. Aber heute geht es populärer Musik nur noch um Gewinner." Ob sich darin vielleicht auch ein Ratschlag an Ann-Sophies Adresse versteckt? Auf ZeitOnline berichtet Matthias Breitinger.

Katja Schwemmers (Berliner Zeitung) plaudert mit Sarah Connor. Besprochen werden ein Solo-Rezital von Keith Jarrett in Luzern (NZZ), ein Konzert des hr-Sinfonieorchesters in Frankfurt (FR), ein von Gianandrea Noseda dirigiertes Konzert der Berliner Philharmoniker (Tagesspiegel), das neue Album von Snoop Dogg (FAZ) und Keith Jarretts Konzert in Luzern (SZ).
Archiv: Musik

Architektur


Foto: Bauhaus Dessau

Im Bauhausmuseum in Dessau lässt sich aktuell der ehemalige Bauhausdirektor Hannes Meyer entdecken, dessen kommunistische Einstellung ihm regelmäßig Probleme einbrachte, erklärt Ronald Berg in der taz: Doch "Meyers Architekturentwürfe sind nicht bloße Illustration kollektivistischer Ideen, sondern fußen mindestens genauso auf ein "Feeling" für Proportion und Materialität." In der Zeit stellt Tobias Timm den neuen, von Rem Koolhaas entworfenen Bau der Fondazione Prada in Mailand vor.
Archiv: Architektur

Kunst

Im Tagesspiegel porträtiert Christiane Meixner den Berliner Fotografen Rainer König, dessen Arbeit gerade in der Galerie Collection Regard zu sehen sind.

Besprochen werden die Ausstellung "Cranach im Dienst von Hof und Reformation" in Gotha (SZ) und Saskia Boddekes und Peter Greenaways Installation "Gehorsam" im Jüdischen Museum in Berlin (FAZ).
Archiv: Kunst
Stichwörter: Reformation, Greenaway, Peter

Literatur

"Man lieste Dante nicht, man studiert ihn. Die poetischen Übertragungen seiner Göttlichen Komödie sind ungenießbar", tröstet Arno Widmann in der FR alle jene, die an dem vor 750 Jahren geborenen Dichter verzweifeln. "Aber nun eine Zeile: "Liebe, die ja keinen Geliebten mit Liebe verschont" übersetzt Köhler das Danteschen "Amor, ch"a nullo amato amar perdona". Flasch schreibt: "Amor, der keinem Geliebten das Lieben erlässt." Das ist eine der Stellen, an denen man etwas begreift von der Schönheit Dantes. Es ist die lateinische Liebe zur Verknappung, der poetische Impuls drängt zur Sentenz: eine Dichtung, geschaffen, um zum Zitat zu werden. Die unendliche Kettenreaktion der Terzinen erstarrt für Momente, nimmt kristalline Formen an, dann schmelzt sie sie wieder ein, in dem, was die Zeitgenossen den "dolce stil novo" nannten, eine warme Rede voller Liebe und Mitleid. Aber auch ein Wiegen und Wogen, in dem die Konturen verwischen, bis die nächste Gestalt sich hervordrängt." Im Perlentaucher hatte Widmann zuvor Lektüretipps für angehende Dante-Leser gegeben.

Weiteres: Für die Zeit hat Burkhard Müller den Aufbau Verlag besucht, der dieser Tage sein 70-jähriges Bestehen feiert. Literaturverlage nähren sich wieder dem Pop an, beobachtet Gerrit Bartels (Tagesspiegel). Und jetzt auch online bei der Zeit: Eine Reportage von Malte Henk, der sich auf die Spurensuche von Raymond Chandlers Ehefrau Cissy begeben hat.

Besprochen werden Kevin Barrys "Dunkle Stadt Bohane" (Tagesspiegel) und eine CD-Box mit Originalaufnahmen von Thomas Mann (FAZ, mehr dazu hier).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie der FAZ schreibt Kerstin Holm über Alexander Puschkins Gedicht "Gib Gott, dass mich nicht Wahnsinn packt":

"Gib Gott, dass mich nicht Wahnsinn packt.
Nein, lieber alt und arm und nackt;
Nein, lieber Müh und Leid.
..."
Archiv: Literatur