Efeu - Die Kulturrundschau

Geleimt und schwarzweiß gefedert

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02.03.2015. Abrechnung mit einer sadistischen Erziehung? Widerstand gegen die Entsagung? Die Gedichte von Christine Lavant sind mehr als nur Ersatzhandlung, verteidigt Zeit online Lavant gegen Marlene Streeruwitz und Monika Rinck. Bevor die Münchner über neue Konzertsäle diskutieren, sollten sie über neue Musik nachdenken, regt Zeit online an. Die Presse beobachtet die Verwandlung von fünf Schauspielern in Tiere. Standpoint sorgt sich um die Zukunft der Berliner Philharmoniker. Und: Alle trauern um den türkischen Autor Yaşar Kemal.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.03.2015 finden Sie hier

Literatur

Auf Zeit online stellt Insa Wilke die neue Ausgabe von Christine Lavants "Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte" vor und widerspricht dabei zwei Rezensentinnen, die sich ebenfalls kürzlich mit der 1973 verstorbenen österreichischen Lyrikerin beschäftigt haben: "Marlene Streeruwitz beschrieb unlängst in einer stupenden Analyse des Gedichts "Wo treibt mein Elend sich herum?" die Traditionen sadistischer Erziehung, in denen Lavants Sprache der Ausgrenzung sich bewege, und das am katholischen Gebet geschulte "Fühldenken", durch das ihr Ich die Reflexion ersetze und also suggeriere: kein Ausweg, nirgends. Die Berliner Dichterin Monika Rinck bestätigt diese Lesart im Prinzip, wenn sie in einem Essay in der aktuellen Ausgabe der Neuen Rundschau in einer Nebenbemerkung schreibt: "Was aber, wenn die Lavant sich aufmacht, gegen die Entsagung anzugehen, und das Gedicht am Ende doch wieder nur Sublimierung ist?" Das Gedicht wird also zur Ersatzhandlung, entwertet wird damit sowohl das Gedicht, als auch der Akt des Widerstands, der die Grenzen des Gedichts ja nicht überschreitet."

Einen kleinen Einblick in die Welt Christine Lavants bekommt man in der Frankfurter Anthologie, in der Angelika Overath Lavants Gedicht "Wär ich einer Deiner Augenäpfel" vorstellt:

"Wär ich einer Deiner Augenäpfel
oder eines Deiner Wimpernhaare,
niemals gäbe ich Dir Ärgernisse,
..."

Yaşar Kemal war ein großer, neben Hemingway, Machfus und Gordimer stehender Schriftssteller, der nur von der offiziellen Türkei wenig geliebt wurde, schreibt Volker S. Stahr in der NZZ zum Tod des 91-jährigen Autors: "Immer wieder beschrieb Kemal das Land, seine Menschen und ihr Schicksal. Doch gerade dieses so einprägsam beschriebene Schicksal der Menschen war es, von dem die Mächtigen nichts wissen wollten. Ihnen lag daran, ein anderes Bild der Türkei zu verbreiten, modern und aufstrebend. Kemal jedoch, selbst in sehr einfachen, um nicht zu sagen ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, beschrieb eine Türkei, wie sie nicht in den Geschichtsbüchern steht. Jene Türkei, in der um die Mitte des 20. Jahrhunderts und teilweise noch bis weit in unsere Tage hinein in den Weiten Anatoliens mächtige Grundherren - die Aghas - das Sagen hatten. Jene Türkei, in der die Menschen in den ferneren Regionen sich mühsam ihr tägliches Brot im wahrsten Wortsinn "erackern" mussten - um oft nicht einmal dieses zu haben."

Weitere Nachrufe schreiben Jürgen Gottschlich (taz), Iris Alanyali (Welt), Fokke Joel (ZeitOnline), Ömer Erzeren (FR), Tim Neshitov (SZ) und Wolfgang Günter Lerch (FAZ).

Außerdem: In der NZZ kann man Anne Webers Einführung in die Zürcher Reihe "Musik und Literatur" lesen: Es geht um die Liebe und den freien Willen bei Goethe und Mozart. Birgit Lahann (Tagesspiegel) erinnert sich an den letzten öffentlichen Auftritt von Fritz J. Raddatz in Hamburg. David Hugendick (ZeitOnline) spricht mit T.C. Boyle über dessen neuen Roman "Hart auf Hart". Die FAZ bringt einen Vorabdruck aus dem Briefwechsel zwischen Marcel Reich-Ranicki und Peter Rühmkorf.

Besprochen werden Emil Szittyas "Herr Außerhalb illustriert die Welt" (Jungle World), Christine Lavants "Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte" (ZeitOnline) und Sibylle Bergs "Der Tag, als meine Frau einen Mann fand" (SZ). Mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr.

Außerdem jetzt online:
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Kunst

In der taz berichtet Timo Reuter über eine Berliner Konferenz zur interkulturellen Öffnung von Museen. Die SZ bringt eine Strecke mit Fotografien von Nicholas Nixon. Besprochen wird eine Ausstellung im Albertinum Dresden zu Caspar David Friedrich und Johan Christian Dahl (FAZ).
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Architektur


La Pyramide, Abidjan, Ivory Coast. Foto: Iwan Baan

Im Guardian feiert Oliver Wainwright vergessene Meisterwerke moderner Architektur in Afrika, die man derzeit in einer Ausstellung im Vitra Design Museum in Weil bewundern kann: "The buildings, a number of which have been beautifully shot by Dutch photographer Iwan Baan, portray a period of extreme confidence and political ambition. They are mostly the products of big, state-sponsored initiatives, from heroic parliament buildings and imposing central banks to daring universities and vast stadiums, many the pet projects of Africa"s "big man" leaders, built for propaganda purposes as much as anything else."

Außerdem: Im Tagesspiegel stellt Falk Jaeger die von Arno Brandlhuber im grau-schlammigen DDR-Chic hergerichtete Antivilla in Potsdam vor. Und der Guardian zeigt Snapshots von der "unglaublich farbenprächtigen Architektur Istanbuls".
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Musik

Allenthalben diskutiert man über neue Konzertsäle, doch kaum einer diskutiert über die darin gespielte Musik, wundert sich Volker Hagedorn auf ZeitOnline: "Wird nicht ein bisschen zuviel Mozart und Mahler, Brahms und Beethoven gespielt? ... Wer sich aus gegebenem Anlass anschaut, was die beiden großen Münchener Orchester in dieser Saison bislang spielten, kann sich fragen, ob dringender als neue Säle nicht neue Stücke gebraucht werden. Nicht nur zeitgenössische, überhaupt unvertraute. Das sogenannte Kernrepertoire drückt zu vieles an den Rand."

Wer wird künftig die "Berliner Band" leiten, fragt ein aufgeregter Norman Lebrecht im britischen Magazin Standpoint. Er sieht für die Berliner Philharmoniker, die im Mai über die Nachfolge von Simon Rattle entscheiden wollen, nur Kandidaten, die anderen Orchestern den Vorzug vor den Berliner Philharmonikern geben könnten. "Zum ersten Mal in der Geschichte des Orchesters ist die Zukunft nicht glasklar oder Ergebnis einer Wahl zwischen zwei Möglichkeiten. In der Vergangenheit waren es Furtwängler oder Walter, Maazel oder Abbado, Barenboim oder Rattle. Dieses Mal wird über mehrere Namen gestritten und es gibt einen verblüffenden Mangel an Konsens darüber, was das Orchester von seinem nächsten Dirigenten erwartet. Es genügt nicht mehr, nur das beste Orchester der Welt zu sein. Es ist gut möglich, dass Berlin im Mai zu keinem Ergebnis kommt."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel singt Volker Panzer ein Loblied auf die Goldenen Zeiten des deutschen Schlagers: "Der Schlager ist eine Zeitmaschine: Erst wird er nicht wahrgenommen, dann wird er ein Ohrwurm und schließlich ein Jungbrunnen." Über den deutschen Schlager ließ der SWR kürzlich auch Georg Seeßlen, Ingo Grabowsky und Marcus S. Kleiner im Radio diskutieren. In der Jungle World erzählt Jan Tölva die Geschichte des "Revolution Summer", in dem sich die Washingtoner Punkszene im Jahr 1985 selber neu und dabei den Emocore erfand, worüber in Bälde auch der Dokumentarfilm "Salad Days" ins Kino kommt. Mehr Punk gibt es im Kraftfuttermischwerk, wo eine arte-Doku über Punk läuft. Johannes Boie besucht für die SZ den Rap-Produzenten Elvir Omerbegovic.

Besprochen werden das neue Album "Chambers" von Chilly Gonzales (The Quietus), ein Konzert von Igor Levit (Tagesspiegel) und das Album "Ouroboros" von Pentatones (taz).
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Film

Wer Robert Bramkamps und Susanne Weirichs am 9. April in den Kinos startenden Film "Art Girls" sehen will, ist Moritz Scheper (taz) zufolge gut beraten, heute um 23.50 arte für "Neue Natur - Art Girls intern" einzuschalten, der "einen sonderbaren Hybrid aus Appetizer, Making-of, Mockumentary und Lektüreschlüssel" zu diesem Film darstellt und überdies "dieselbe Story verständlich erzählt."

Daniel Kothenschulte (FR) und Dirk Peitz (ZeitOnline) schreiben zum Tod von Leonard Nimoy. Besprochen werden Paul Schraders direkt auf DVD veröffentlichter Film "Dying of the Light" (SZ).
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Bühne


"Das Reich der Tiere", Akademietheater. Foto: Georg Soulek

Schade, dass der Text so uninspiriert ist. Aber Roland Schimmelpfennigs Inszenierung seines Stücks "Das Reich der Tiere" kann sich trotzdem sehen lassen, meint in der Presse Norbert Mayer, der sich von Bühnenbildner Wilfried Minks hinter die Kulissen des Wiener Akademietheaters hat führen lassen: "Oliver Stokowski verwandelt sich in ein Zebra, Johann Adam Oest in einen Löwen, mittels Schminke, mit dosiertem Witz am ganzen Körper aufgetragen. Sabine Haupt mutiert zur Antilope, stolziert grazil über die Bühne. Caroline Peters schleicht als Ginsterkatze herbei, spielt mit dem Schädel eines Gavials. Dass die Verwandlung unangenehm sein kann, zeigt Peter Knaack: Er rührt Eier im Dutzend an, fügt Öl hinzu, übergießt sich mit der Masse vom Scheitel bis zur Sohle. Geleimt und schwarzweiß gefedert ist am Ende das Vieh: ein ausgewachsener Marabu." (Eine weitere Besprechung im Standard)

Weitere Artikel: In der NZZ schreibt Claudia Pineiro über das Glück im Theater. Im Tagesspiegel resümiert Patrick Wildermann das Berliner Freie-Szene-Festival 100 Grad, das in dieser Form zum letzten Mal stattfand und 2016 durch ein neues Format ersetzt werde soll.

Besprochen werden Jan Philipp Glogers "Leonce und Lena"-Inszenierung am Staatstheater Wiesbaden (FR), Stefan Puchers "Was ihr wollt"-Inszenierung am Deutschen Theater Berlin (Tagesspiegel), Jan-Christoph Gockels Inszenierung von Gerhart Hauptmanns "Die Ratten" in Mainz (taz), Karin Beiers Inszenierung von Alan Ayckbourns Science-Fiction-Slapstick-Farce "Ab jetzt" in Hamburg ("ein Witz, und nicht einmal der beste. Aber bei Karin Beier ist es zumindest ein sehr, sehr gut erzählter Witz", meint in der nachtkritik Falk Schreiber), Puccinis "La Bohème" im Luzerner Theater (NZZ), John Neumeiers Choreografie zu Gustav Mahlers "Lied von der Erde" in Paris (Welt) und eine Münchner "Walküre", die Harald Eggebrecht (SZ) rundum zu überzeugen wusste: "Petrenko bot dabei nicht traditionsschweres Wagner-Gebraus, sondern entfaltete den glühenden Klangfarbenreichtum dieser Partitur mit geradezu impressionistischer Lust, das Staatsorchester erfüllte den Raum mit bestrickender Streicherwärme, Blechbläserkultur und inspirierten Holzbläsersoli, dass es eine Freude war."
Archiv: Bühne