Efeu - Die Kulturrundschau

Die DNA des globalisierten Subjekts

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30.12.2014. Der Guardian stellt das südafrikanische Lyrikprojekt "Badilisha Poetry X-Change" vor, das weltweit größte Archiv mit Audioaufnahmen afrikanischer Dichter. Die SZ bewundert die tiefe Gefühlsstimmung in den Bildern Hans Memlings. Die taz feiert die transnationalen Popkünstlerinnen des Jahres 2014. Die FAZ freut sich über das luftige neue Designmuseum Disseny HUB in Barcelona. Belgrad hat wieder ein anspruchsvolles Kino, meldet die NZZ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.12.2014 finden Sie hier

Literatur

Im Guardian stellt David Smith das südafrikanische Lyrikprojekt "Badilisha Poetry X-Change" vor, "the biggest archive of audio recordings by African poets in the world. It is a significant step on this "mobile first" continent where, with limited landline infrastructure, most people access the internet through their phones rather than on computers. Linda Kaoma, project manager of Badilisha, based in Cape Town, South Africa, said: "We realised we weren"t achieving our goal of reaching a whole audience in Africa. We"ve created a mobile site that can be accessed on almost any phone you have. The response has been great." Badilisha appears to suggest Africa"s ancient tradition of oral poetry sits more comfortably in the 21st-century technology of the podcast than in mainstream publishing."

Weitere Artikel: Ebenfalls im Guardian berichtet May Jeong über die Nöte afghanischer Schriftsteller, die nach dem Abzug der westlichen Truppen um ihre Sicherheit fürchten. Die SZ blickt auf das literarische Jahr 2014 zurück: Christopher Schmidt bescheinigt, dass ästhetische Fragen in den Hintergrund gerückt sind, während soziologische Fragestellungen - wer schreibt von welcher (nicht-)privilegierten Position und wird für welchen Preis (nicht) nominiert - dringlicher diskutiert wurden. 2014 formierte sich Widerstand gegen Amazon, während sich der stationäre Buchhandel wirtschaftlich erholte, bilanziert Lothar Müller. Martin Amis hat seinen Shoah-Roman "The Zone of Interest" im kleinen Kreis in New York vorgestellt und dabei unter anderem auch verkündet, mittlerweile einen deutschen Verlag gefunden zu haben, berichtet Patrick Bahners in der FAZ.

Besprochen werden Patrick Modianos Roman "Gräser der Nacht" (NZZ), Rike Schefflers Lyrikband "Der Rest ist Resonanz" (NZZ), Percival Everetts Roman "Sidney Poitier" (NZZ), eine Sammlung von zu Aphorismen erklärten Sätzen von Immanuel Kant (FR), neue Ausgaben von Büchern mit und über altgriechische Literatur (Berliner Zeitung), Lola Shoneyins "Die geheimen Leben der Frauen des Baba Segi" (taz), Wolfgang Ullrichs "Des Geistes Gegenwart. Eine Wissenschaftspoetik" (taz), neue Bücher von Georges-Arthur Goldschmidt (FAZ), Roland Butis Roman "Das Flirren am Horizont" (Zeit), einige Bücher über den Wiener Kongress (ebenfalls Zeit).
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Musik

Ganz großes Jazzglück erlebt Christian Staas (Zeit) beim Hören des neuen, sich an klassischem Spiritual Jazz orientierenden Albums "Measures" von Nostalgia "77 & The Monsters: Das hier sei "zarteste Monster-Musik", schreibt er. "Da treiben hypnotische Bläserriffs einen Afrofunk-Groove ins Free-Jazz-Fieber. Die Musik findet mühelos den Weg von lyrischer Schlichtheit ins rhythmisch Vertrackte und wechselt vom verspielt Heiteren zu soundtrackhafter Dramatik." Auf Bandcamp kann man sich das Album anhören.

Frauen haben 2014 die interessanteste Musik gemacht, erklärt Klaus Walter in der taz und denkt dabei an Musikerinnen wie Neneh Cherry, Inga Copeland, FKA Twigs, Maria Minerva, Fatima Al Qadiri und Planningtorock. Kennzeichnend für deren Schaffen sei "Atemporalität, Nomadentum, Mehrsprachigkeit. Parameter, die das Dasein der umherschweifenden Kulturproduzentin im 21. Jahrhundert bestimmen, die DNA des globalisierten Subjekts. ... Atemporalität bezeichnet das Herausfallen aus dem linearen Zeitkontinuum und dem Fortschrittsparadigma der Popmusik im Zeitalter ihrer digitalen Verfügbarkeit. Digitalisierung hebt auch die geografische Weltordnung des Pop aus den Angeln."

Weiteres: Michael Pilz (Welt) lernt mit Reinhard Mey, im vereinigten Deutschland anzukommen. Besprochen werden neue Alben von Bryan Ferry und Neil Young als frisch Verliebte (Presse).
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Kunst

"Spektakulär" geraten ist die Hans-Memling-Ausstellung in Rom, begeistert sich Michael Rohlmann in der SZ. Hier kann man staunend nachvollziehen, "was die flämische Feinmalerei im Europa von Spätmittelalter und Frührenaissance zur selbst in Italien führenden Malkunst werden ließ - der Farbenglanz der neuen, tief leuchtenden lasierenden Ölmaltechnik, die Widerspiegelung der sichtbaren Welt in atemberaubendem Detailnaturalismus und täuschender Stofflichkeit, die zur Bildmeditation einladende tiefe Gefühlsstimmung." (Bild: Hans Memling, Madonna und Kind, 1485)

Weitere Artikel: In der taz wünscht sich Jan Feddersen, dass man die Paula Modersohn-Becker gewidmete Ausstellung des dänischen Louisiana Museum of Modern Art doch bitte nach Berlin bringen möge. Tilman Krause begibt sich für die Welt ins Depot der Alten Nationalgalerie in Berlin. Christoph Thun-Hohenstein, Direktor des Wiener Museums für angewandte Kunst, erklärt im Interview mit der Presse, wie er den "Change" positiv begleiten will. Mit einem erst kürzlich Michelangelo zugesprochenen Bozzetto präsentiert das Pariser Musée Maillol in seiner Borgia-Ausstellung eine "Sensation", meint Andreas Platthaus in der FAZ: "Es handelt sich angeblich um den Entwurf zur weltberühmten Pietà aus dem Petersdom". Im Tagesspiegel stellt Birgit Rieger Schmuckstücke aus dem Kupferstichkabinett in Berlin vor. Besprochen wird eine Ausstellung Dominik Steigers in der Kunsthalle Krems (Standard).
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Bühne

In der Zeit stellt Michael Struck-Schloen den in Pern wirkenden Operndirigenten Teodor Currentzis und dessen Aufnahmen vor. In Berlin hat man Waltraud Meiers letzte Vorstelllung als "Isolde" gefeiert, berichtet in der Welt mit einer Träne im Auge Barbara Möller. Die Berliner Opernhäuser konnten 2014 einen Auslastungszuwachs verzeichnen, meldet Ulrich Amling im Tagesspiegel. Als erstes italienisches Theater überhaupt befasst sich das Mailänder Piccolo Teatro in einer längeren Reihe von Stücken und Veranstaltungen mit der Mafia, berichtet Henning Klüver in der SZ.
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Design



Das neue, nach langer Planungszeit fertig gestellte Designmuseum Disseny HUB in Barcelona gefällt Paul Ingendaay schon wegen dessen Lässigkeit: Hier strebte man keine "chronologische Überwältigung und Angeberei mit schierer Menge [an]. Hier muss niemand Geschichte lernen. Im Gegenteil, der Reichtum kommt fast bescheiden daher, weil die großzügigen Räume alles so luftig erscheinen lassen."
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Stichwörter: Barcelona, Disseny HUB

Film

In Belgrad haben Cineasten das seit sieben Jahren leer stehende Kino Zvezda (Stern) besetzt und wieder in Betrieb genommen, erzählt Andreas Ernst in der NZZ: "Ob man von Besetzung oder Befreiung sprechen soll, hängt vom Standpunkt ab. Doch gibt es hier kaum jemanden, der sich nicht freut, dass das vom Fotopionier Anastas Jovanović (1817-1899) gebaute Haus seinen Zweck wieder erfüllt: Abend für Abend kommt das Publikum und schaut sich - gegen freiwillige Spenden - Filme an."

Der Videoessay ist aus dem cinephilen Diskurs im Netz nicht mehr wegzudenken. Pionier und Experte Kevin B. Lee hat für Fandor die seiner Ansicht nach fünf besten Videoessays des Jahres zusammengestellt, darunter auch L.J. Frezzas ziemlich großartige Zusammenstellung von Einstellungen aus der Sitcom "Seinfeld", in denen absolut nichts passiert.



Besprochen werden unter anderem Damián Szifróns argentinische "Wild Tales" (Standard), David Ayers Kriegsfilm "Herz aus Stahl" (Standard) und Frederick Wisemans Dokumentarfilm "National Gallery" (Zeit).
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