Efeu - Die Kulturrundschau

Kosmische Bösartigkeit in Gestalt eines Bagels

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13.03.2023. Die Oscars regneten wie erwartet auf die Indie-Fantasy "Everything Everywhere All at Once" und Edward Bergers "Im Westen nichts Neues". Die Kritik ist gespalten: Die Welt sieht mit "Everything.." Kühnheit und Wagemut ausgezeichnet, die NZZ nur den höheren Blödsinn. Beim Festival Radar-Ost fällt die SZ mit dem Kiewer Left Bank Theatre aus der Welt und direkt an die Front. Die taz begibt sich mit der Künstlerin Fatos Irwen in die surreale Gewaltlandschaften Kurdistans. Die FAZ feiert die kunstfertige Kunstlosigkeit Ornette Colemans
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.03.2023 finden Sie hier

Film

Michelle Yeoh in "Everything Everywhere all at once"

In der Nacht wurden die Oscars verliehen - hier alle Auszeichnungen im Überblick. Es sind gleich zwei Sensationen auf einmal: Nicht nur haben Daniel Kwan und Daniel Scheinert mit ihrem Indie-Fantasyfilm "Everything Everywhere All at Once", der vor einem Jahr mit gerade einmal zehn Kopien an den Start gegangen ist, ihren phänomenalen Erfolgszug fortgesetzt und ganze sieben Oscars (darunter die wichtigsten Kategorien "bester Film" und "beste Regie") abgeräumt, sondern auch Edward Bergers "Im Westen nichts Neues" wurde in vier Kategorien (darunter "bester internationaler Film" und "beste Kamera") ausgezeichnet - mehr als je zuvor für einen deutschen Film. Mit Michelle Yeoh aus Malaysia wurde zudem erstmals eine Asiatin in der Kategorie "beste Schauspielerin" (für ihre Leistung in "Everything...") geehrt. Valerie Dirk und Marian Wilhelm (Standard), Marie Wiesner (FAZ), Inga Barthels (Tsp) und Peter Huber (Presse) resümieren den Abend.

Welt-Kritiker Hanns-Georg Rodek kann mit dem Oscar-Regen für "Everything..." mehr als gut leben: Ausgezeichnet wurde "der gedanklich kühnste und filmisch wagemutigste Film, der seit langer Zeit einen Oscar gewonnen hat". Vollkommen anders sieht es ein erboster Andreas Scheiner in der NZZ: "Everything..." ist für ihn "ein hypernervöser, durch und durch sinnbefreiter Fantasy-Schwank, in dem eine chinesische Einwanderin, die in Kalifornien einen Waschsalon betreibt, durch Paralleluniversen geschleudert wird, um eine kosmische Bösartigkeit in Gestalt eines Bagels zu bekämpfen. Oder so ähnlich. Ein höherer Blödsinn jedenfalls, eine Handlung wie durch die Waschtrommel gedreht, am Ende ist man ordentlich zerknittert, fühlt sich wie intellektuell abgepumpt. Aber der ostentative Schwachsinn steht nicht ohne Grund ganz zuoberst in der Gunst der Academy. Der Film ist hip, divers und ungezogen. Er lässt sich in den sozialen Netzwerken bewirtschaften, das ist mittlerweile matchentscheidend."

Jesko zu Dohna beschwert sich in der Berliner Zeitung über die zahlreichen historischen Darstellungsfehler und Klischees in "Im Westen nichts Neues": "Verglichen mit anderen Filmen die diesen Oscar gewonnen haben, handelt es sich sogar um einen der schlechtesten Filme aller Zeiten. Leider."

Außerdem: In seiner Serienkolumne für die Zeit ärgert sich Matthias Kalle darüber, dass die Drehbuchautoren bei der Oscarverleihung nicht die eigentlichen Stars sind. Besprochen werden Steven Spielbergs "Die Fabelmans" (Jungle World, unsere Kritik), der neue Teil der "Scream"-Horrorreihe (NZZ), die Netflix-Serie "Too Hot to Handle" (NZZ), der Fotoband "Oscars - Glamour auf dem roten Teppich" (BLZ) und die ARD-Serie "Unsere wunderbaren Jahre" (FAZ)
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Bühne

Direkt von der front: Volodymyr Kravchuk in "Ha*l*t" am Deutschen Theater. Foto: Arno Declair

Wut und Entschlossenheit erlebt SZ-Kritiker Peter Laudenbach beim Festival Radar Ost am Deutschen Theater in Berlin, das in diesem Jahr mit Produktionen aus der Ukraine, Belarus und Georgien beeindruckt. Vor allem Tamara Trunovas Hamlet-Variation "Ha*l*t" des Kiewer Left Bank Theatres hat Laudenbach umgehauen. "Zwölf Schauspieler des Left Bank Theatre kämpfen seit Kriegsbeginn an der Front, darunter auch Volodymyr Kravchuk, der in der Inszenierung eigentlich den Fortinbras spielen sollte. Jetzt ist er in Kampfmontur per Video zugeschaltet, von wo, darf er nicht sagen. Ihm gehören die letzten Worte der Aufführung. Sie klingen wie die trotzige Antwort auf Hamlets Wahnsinnsausbruch, eine verzweifelte Hoffnung: 'Es sollen andere Tage kommen.' Vor diesem Epilog gehen die Schauspieler durch einen Fiebertraum, in dem sich die Grenzen zwischen Theater, Wahnzuständen, Erinnerungsfetzen und einer grauenvollen Wirklichkeit auflösen. Was eben noch das nüchterne Setting eines Publikumsgesprächs nach einer Theatervorstellung war, wird zum Zustand des Aus-der-Welt-Fallens: Sitzen wir in einem Theater oder träumen wir nur, dass wir in einem Theater sitzen? Oder sind wir schon tot und halluzinieren im Grab?" Auch Nachtkritikerin Sophie Diesselhorst bekennt, dass ihr die Front noch nicht so nahe gekommen sei.

Szene aus Sasha Waltz' "Beethoven 7". Bild: Sebastian Bolesch

Sasha Waltz hat Beethovens "Siebte Sinfonie" choreografiert. Dorion Weickman bewundert in der SZ diese hervorragende Kombination. Auch das vorgeschaltete E-Beat Präludium des chilenischen Komponisten Diego Noguera, das das Publikum im Radialsystem in Berlin in den ersten dreißig Minuten in "riesigen Schockwellen" erschüttert und die Beethoven-Einspielung von Teodor Currentzis passen perfekt zueinander: "Sie hat zu Souveränität und gestalterischer Freiheit gefunden. Zu einer Energie, die selbst Beethovens 1813 auf dem Höhepunkt der Befreiungskriege uraufgeführte Symphonie mühelos im Techno-Taumel der Gegenwart spiegelt - und umgekehrt." BLZ-Kritikerin Michaela Schlagenwerth hat die Performance besonders genossen, als die ersten Beethoven-Klänge einsetzten:"die Tänzer finden sich leichtfüßig, verspielt und durchaus auch selbstverliebt zu vielfältigen Reigen zusammen. Eine Gesellschaft im Glück, und doch schwebt eine Bedrohung über ihnen und schwingt hinein in diese lichten, ahnungslosen Körper. Eine Bedrohung, die durch den Prolog ganz und gar präsent ist. Wie Sasha Waltz hier zum ersten Satz die verschiedenen Klangmotive mit ihren vielen Varianten und Umkehrungen in Tanz verwandelt, ist meisterhaft." Im Tagesspiegel ist Sandra Luzina nicht ganz überzeugt von der Techno-Klassik-Kombi, findet dafür aber das Ensemble umso überzeugender.

Besprochen werden Barrie Koskys pointenreiche Mozart-Inszenierung "Figaro" an der Wiener Staatsoper (Standard), das Opera Forward Festival in Amsterdam (das Welt-Kritiker Manuel Brug mit Produktionen zu Josephine Baker und George Orwell zeigte, wie die Oper von morgen aussehen könnte), eine Bühnenfassung von Swetlana Alexijewitschs Dokumentarroman "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" am Theater Freiburg (taz), Tschechows "Der Kirschgarten" mit dem Theater Willy Praml in Frankfurt (FR), Kirill Serebrennikows Inszenierung von Mozarts "Così fan tutte" an der Komischen Oper Berlin (Tsp), Wim Vandekeybus' Choreografie "Traces" beim Tanzmainz-Festival (FR), ein Rachmaninow-Liederabend mit Asmik Grigorian in Zürich (NZZ), Marie Ndiayes "Die Rache ist mein" am Schauspiel Stuttgart (Nachtkritik) und das Dokumentarprojekt "Letzte Station Torgau" am Schauspiel Leipzig (Nachtkritik).
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Kunst

Fatoş Irwen: Tigris, 2023. Bild: Galerie Zilberman

Immer wieder wurde die kurdische Künstlerin Fatoş Irwen in der Türkei ins Gefängnis geworfen, ihre Werke sind politisch aufgeladen, aber nicht aktivistisch, wie Ingo Arend in der taz versichert, der ihre Ausstellung in der Galerie Zilbermann sehr empfehlen kann: "Was an der Schau beeindruckt, ist, wie Irwen all diese (Gewalt-)Erfahrungen surreal verschlüsselt. Etwa in der gerade entstandenen Videoarbeit 'Tigris': Pflanzen, Tiere und seltsame graue Fabelwesen schweben auf dem Bildschirm im DIN-A5-Format durch die Luft, von einem baumelt eine goldene Glocke herab. Das Leid, das diese uralte Landschaft seit Jahrhunderten gesehen hat, deutet Irwen in ihrer Arbeit nur symbolisch an. Auf einem steinernen Podest liegt ein Augapfel, aus dessen Iris langsam, aber stetig Blut in die darunterliegenden Gärten rinnt. In dem Video 'Sûr Fragments' läuft die Künstlerin barfuß und in einem bestickten Kleid durch eine enge Gasse Diyarbakırs und zieht eine Leine mit Büchern hinter sich her - Symbol der Misshandlungen, Deportationen und Verluste, die die Stadt erlitten hat. In einer Szene zerbirst eine Wassermelone in tausend Stücke - das Symbol der Stadt, das sich auch in ihrem Wappen findet."

Besprochen werden außerdem eine Ausstellung des Künstlers Paco Knöller in der Berliner Galerie Thomas Schulte (Tsp) und die Schau "Mining Photography" im Kunsthaus Wien (die zeigt, welche Rohstoffe für die Technik ausgebeutet werden müssen (Standard).
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Literatur

In der NZZ erzählt Paul Jandl die Lebensgeschichte von Mohamedou Slahi - erst Sozialleistungsbetrüger, dann Dschihadist bei Al-Qaida auf Tuchfühlung zu den Attentätern vom 11. September, dann auf Jahre gefolterter Guantanamo-Insasse und nun, nach einer Karriere im Literaturbetrieb, designierter Kurator des kommenden Africa Book Festivals in Berlin, was seit einigen Wochen Wellen schlägt. Dass Slahi seine Al-Qaida-Wurzeln gekappt hat, findet Jandl nicht unwahrscheinlich. "Die Berliner Szene um einen Mann, der symbolisches Kapital dort liefern soll, wo es um globalen Ausgleich und Verständigung geht. Das African Book Festival hat allerdings in naivem Eifer mit seiner riskanten Wahl schon jetzt eine Menge Streit und Missverständnisse erzeugt. Ausgerechnet unter dem Motto 'Breaking Free' Debatten über die Verharmlosung des Islamismus ausgesetzt zu sein, macht alles andere als frei." (unsere Resümees)

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow schreibt hier und dort weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Alexander Menden resümiert in der SZ A.L. Kennedys Auftritt bei der LitCologneComiczeichner Ralf König erzählt in der Literarischen Welt, welche Bücher ihn beeindruckt haben, darunter Claire Bretéchers Comicklassiker "Die Frustrierten". Bernd Eilert schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Literaten-Anwalt Joachim Kersten. Und Siri Hustvedt meldet auf Instagram, dass ihr Ehemann, Paul Auster, an Krebs erkrankt ist.

Und: Französische Medien melden den Tod des japanischen Literaturnobelpreisträgers Kenzaburo Oe.

Besprochen werden unter anderem Helga Schuberts "Der heutige Tag" (FAS), Dirk Gieselmanns Debütroman "Der Inselmann" (taz), Judith Hermanns Poetikvorlesung "Wir hätten uns alles gesagt" (Tsp), Joshua Cohens "Die Netanjahus" (NZZ), Karl Ove Knausgårds "Die Wölfe aus dem Tal der Ewigkeit" (Standard), P. Craig Russells Comicadaption des "Ring des Nibelungen" (Welt), Mathijs Deens "Der Taucher" (FR), Karina Sainz Borgos "Das dritte Land" (FR), eine Ausstellung in Halberstadt über die Schriftstellerin Anna Louisa Karsch (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Uwe Kolbe über sein Gedicht "Woher ich alles habe":

"Ich habe es vom Passaic River, von den Great Falls.
Ich habe es vom Niagara River, vom Erie, der zum Ontario will ..."
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Musik



In der Frankfurter Pop-Anthologie der FAZ schreibt Tobias Lehmkuhl über den sagenhaften Erfolg von Ornette Colemans Jazz-Standard "Lonely Woman", von dem es allein auf Konserve annähernd 200 Versionen unterschiedlichster Interpreten gibt. Kein Wunder, bei dieser Melodie "die, wie die großen Melodien von Thelonious Monk oder Wolfgang Amadeus Mozart, von einer solch erhabenen Schlichtheit ist, dass man sich wundert, warum nicht schon vorher irgendein Mensch darauf gekommen ist, diese paar Töne aneinanderzureihen. ... Die Art wie Coleman mit seinem Plastiksaxophon und Don Cherry auf dem Kornett sich in den unisono-Passagen aneinander reiben und die kurzen, kadenzenartig eingeworfenen Improvisationen tun ihr Übriges, das Gefühl von Authentizität und emotionaler Direktheit zu verstärken. Niemals sonst wurde Kunstlosigkeit so kunstvoll in Szene gesetzt." Der japanische Gitarrist Otomo Yoshihide hat das Stück schon sechsmal aufgegriffen "und speziell bei der Fassung für Quintett hat man den Eindruck, dass für die einsame Frau mit einem Mal ein Fenster in die klangliche Zukunft aufgeht. Da klirrt und kreischt nicht nur die E-Gitarre, da werfen sich auch Synthesizer und No-input Mixing-board Bieps und Blimps zu, dass es nur so funzt, der Bass macht sich schlank und das Schlagzeug schiebt das Stück immer weiter richtig Tanzfläche. Das könnte es sein, was Coleman sich 1959 wünschte: 'The Shape of Jazz to come'."



Besprochen werden das U2-Album "Songs to Surrender", auf dem sich die Band selber covert ("ein Debakel", stöhnt Karl Fluch im Standard, "das Geld ist beim nächstbesten Straßenmusikanten besser angelegt"), ein von Alondra de la Parra dirigiertes Konzert der Sopranistin Fatma Said mit dem Berliner Konzerthausorchester (Tsp), ein Auftritt von Mark Turner bei der hr-Bigband (FR), ein Auftritt von Truck Stop (taz) und weitere neue Musikveröffentlichungen, darunter eine Box mit den gemeinsamen Songs von Burt Bacharach und Elvis Costello (FAZ).

Archiv: Musik