Efeu - Die Kulturrundschau

Massive Dosis Kunst

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.03.2023. Der Tagesspiegel erlebt in Dresden die tschechische Avantgarde des 20. Jahrhunderts wie im Rausch. Die taz beschwört mit Lu Yang in Basel Cyborgs und Götter in der Hölle. Die SZ verurteilt die "Aufpasser des Kulturbetriebs", die die Wahl des früheren Al-Qaida-Dschihadisten Mohamedou Slahi zum Kurator des African Book Festivals kritisieren. ZeitOnline dringt mit rohen Mantras von Lonnie Holley tief vor in die Geschichte des afroamerikanischen Leids. Und die SZ schüttelt den Kopf über den politischen Irrsinn hinter Mohammed bin Salmans "Mukaab".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.03.2023 finden Sie hier

Kunst

Bild: Josef Bolf, Rückspiegel, 2015. Zeichnung und Collagen auf Papier

Wie im Rausch fühlt sich Susanne Altmann (Tsp), wenn ihr Jiří Fajt, der frühere Generaldirektor der Prager Nationalgalerie, mit insgesamt 51 KünstlerInnen in der Ausstellung "Alle Macht der Imagination" im Dresdner Lipsiusbau eine "massive Dosis Kunst" verabreicht: "Hier wird die gesamte tschechische Avantgarde des 20. Jahrhunderts gefeiert, garniert mit zeitgenössischen Positionen. (...) Auch Jetelová, die Grand Dame der aktuellen tschechischen Szene, stellt ihre visuell-akustische Installation aus Lasern und vibrierenden Spiegelfolien hier ganz in den Dienst des Spektakels. Eine sozusagen formalistische Überraschung, dienten ihr die gleichen Elemente bisher oft dazu, kritische Kommentare zum Anthropozän oder zur globalen Situation der Menschenrechte abzugeben. Im Kontext der 'Imagination' bilden ihre 'Resonances' gleichsam ein Dach, unter dem sich auch - dem deutschen Publikum kaum bekannte - Raritäten wie Zdeněk Pešáneks (1908-1965) anthropomorphe Lichtskulpturen aus den 1930er Jahren befinden."

Bild:  LuYang, LuYang Vibratory Field, Kunsthalle Basel, 2023, Ausstellungsansicht, Foto: Philipp Hänger / Kunsthalle Basel

In einer "ADHS-Hyperpop-Hölle" verirrt sich derweil Katharina J. Cichosch (taz) in der Ausstellung "Vibratory Field", die die Kunsthalle Basel dem in Shanghai geborenen, genderfluiden Künstler Lu Yang ausgerichtet hat: "Yangs überbordende Digitalwelten sind stets eingefasst in den sorgfältig gestalteten realen Raum, aus dem heraus sie in ihre Meta-Universen entführen. In wilden Stakkati begegnen einem Cyborgs, Götter und Menschen, oft angelehnt an den Künstler selbst. Sie erscheinen in ständiger Transformation wie die Kulissen, durch die sie gejagt werden: Chinoiserie und Gaming-Ästhetik, Kitsch, Artyness, Satanismus und tibetischer Buddhismus, Techno, Fashionpunk, Neurologie und Verhaltenstherapie dreschen im Soundgewitter eines nie enden wollenden Youtube-Videos auf ihr Publikum ein. Derweil wird von einer Off-Stimme philosophiert über das Sein und das Selbst, Höllenqualen, Bewusstsein, Wahrnehmung."

"Schade, dass die Kunsthalle Baden-Baden nur zwei Werke von Candice Breitz zeigt", seufzt Adrienne Braun im Tagesspiegel: "So geht der Niedergang der Kunsthalle Baden-Baden weiter, die unter dem Direktor Johan Holten nicht nur internationale Strahlkraft besaß." Sehenswert findet sie die beiden unter dem Titel "Whiteface" gezeigten Videoarbeiten dennoch: Breitz hat aus Texten von Nachrichtensprechern, Fernsehmoderatoren und Prominenten "herausgeschnitten, was diese zu Schwarz und Weiß in Mikros gesprochen haben. Das klingt mal zynisch, mal selbstgefällig und oft ziemlich rassistisch." Aber: "Auf der riesigen Leinwand sind nicht etwa die TV-Moderatoren und Politiker zu sehen, die hier kokett behaupten 'Weiße sind auch nur Menschen' oder 'Nicht alle Leute sind Rassisten'. Die Künstlerin selbst scheint diese eingespielten Sätze zu sprechen und schlüpft dazu in weiße Kleidung, trägt hier eine Langhaarperücke, inszeniert sich dort androgyn - und provoziert beim Publikum zwangsläufig Unbehagen. Denn man ertappt sich dabei, wie hilflos man reagiert, wenn Rollenmuster nicht greifen und eine Frau mit Männerstimme spricht, die sich in keine Schublade stecken lässt."

Außerdem: Anlässlich der Ausstellung "Maschinenraum der Götter" im Frankfurter Liebighaus, in der auch zwei Objekte von Jeff Koons zu sehen sind, hat der Künstler vor Ort unter anderem über sein im Juni kommendes Projekt gesprochen, berichtet Lisa Berins in der FR: "Dann will der Künstler Skulpturen zum Mond schießen; es sollen '125 Gesichter des Mondes' sein, die mit nicht mehr lebenden Persönlichkeiten verbunden seien." In Le Monde diplomatique besucht Jens Malling das Depot des ehemaligen Bergbauunternehmens SDAG Wismut, in dem sich der mutmaßlich größte Kunstschatz der DDR befindet. In der NZZ resümiert Aldo Keel einen Streit um Christian Krohgs Gemälde "Leiv Eiriksson entdeckt Amerika", das im neuen Nationalmuseum in Oslo zunächst nicht mehr gezeigt wurde und nach einem Shitstorm wieder aus dem Depot geholt wurde. Ebenfalls in der NZZ singt Marc Zollinger ein Loblied auf den deutschen Kunsthistoriker Eike Schmidt, der die Uffizien als neuer Direktor in eines der "international trendigsten" Museen verwandelt hat.

Besprochen werden die Valie-Export-Ausstellung "Oh Lord, Don't Let Them Drop That Atomic Bomb on Me" im Kunsthaus Bregenz (Tagesspiegel) und die Ausstellung "Sonne. Die Quelle des Lichts in der Kunst" im Museum Barberini in Potsdam ("Grandios", meint Stefan Trinks in der FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Dass das African Book Festival Berlin in diesem Jahr den früheren Al-Qaida-Dschihadisten und Guantanamo-Häftling Mohamedou Slahi zum Kurator ernannt hat, könnte nun das Aus für die Veranstaltung bedeuten, schreibt Sonja Zekri in der SZ. Der politische Druck wächst jedenfalls, seit die Presse diese Ernennung mehrfach kritisch kommentiert hat. Ein Skandal findet Zekri - wohlgemerkt nicht Slahi als Kurator, dem sie seine finanziell lukrative Läuterung durchaus abnimmt, sondern wie "die Aufpasser des Kulturbetriebs" sich verhalten. Etwa "das Urteil der Schriftstellerin Ronya Othmann in der FAS wog schwer. Wer Slahi ein Festival kuratieren lasse, spucke den Opfern des Islamismus ins Gesicht, schrieb sie. Das war völlig überzogen. ... Jetzt ist sie da, die deutsche Perspektive. Der Druck aus der Politik ist gewaltig, eine gute Lösung schwer vorstellbar. Will man den afrikanischen Literaten ein Festival zumuten, das schon vor Beginn unter Extremismusverdacht steht, das schlimmstenfalls durch die Kontroverse völlig überschattet wird? Darf man, umgekehrt, einen Mann im Stich lassen, dem so Furchtbares angetan wurde?"

Iris Mayer erzählt in der SZ von der Herkulesaufgabe, die sich die Deutsche Nationalbibliothek mit der Archivierung des gesamten deutschsprachigen Twitter-Verse aufgebrummt hat - nötig war dies auch, weil immer mehr Menschen, darunter viele Personen der Zeitgeschichte, ihre Accounts löschen, seit Musk bei Twitter das Ruder übernommen hat. "Anfang Februar kündigte Twitter zudem an, die Datenschnittstellen für wissenschaftliche Auswertungen zu kappen, für Projektleiterin Britta Woldering der letzte Anstoß fürs große Speichern. Um das Kurzzeitgedächtnis der Nation für die Ewigkeit zu konservieren, braucht sie Nutzer mit wissenschaftlichen Zugängen, denn die haben Zugriff aufs komplette Twitter-Archiv und können zehn Millionen Tweets pro Monat downloaden. Eine Einzelkämpferin würde so immer noch 33 Jahre brauchen, um alle deutschsprachigen Tweets abzuspeichern. Findet Woldering 400 Unterstützer mit wissenschaftlichem Twitter-Login, sind die Daten innerhalb eines Monats gesichert. Die Archivserver für die dauerhafte Speicherung stellt die Deutsche Nationalbibliothek zur Verfügung."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. In der SZ gratuliert Christine Knödler der Schriftstellerin Laurie Halse Anderson zur Auszeichnung mit dem Astrid-Lindgren-Preis. Wilhelm von Sternburg erinnert in der FR an den Schriftsteller Jakob Wassermann, der vor 150 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden unter anderem Gabriele Tergits "Der erste Zug nach Berlin" (ZeitOnline), Dirk von Lowtzows Corona-Tagebuch "Ich tauche auf" (Tsp, SZ), Arnaud Delalandes und Éric Liberges Comicbiografie über Fritz Lang (Filmdienst), Lena Anderssons "Der gewöhnliche Mensch" (FR) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Davide Morosinottos "Die dunkle Stunde des Jägers" (SZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Besprochen werden das Tanzmainz-Festival am Staatstheater Mainz (FR), Martina Gredlers Inszenierung von Mithu Sanyals Roman "Identitti" am Theater Phönix in Linz (Standard), das Stück "Bye, bye, bye" des Berliner Theaterkollektivs "copy&waste" im Ballhaus Ost (FAZ) und Thomas Ostermeiers Inszenierung von Tschechows "Die Möwe" (Welt, SZ).
Archiv: Bühne

Musik

Analog ist besser: Irmin Schmidt im Studio (Real Fiction)

Der Dokumentarfilm "Can and Me" porträtiert Krautrock-Urgestein Irmin Schmidt, der bei Stockhausen begann und mit seiner Band Can schließlich die Rockmusik auf links drehte. Im SZ-Gespräch mit Joachim Hentschel erklärt er, warum er mit elektronischer Musik nichts anfangen kann: "Die digitale Welt ist mir immer fremd geblieben. Was auch damit zu tun hat, dass sich dieses große Versprechen in meinen Augen nicht erfüllt hat. Die Digitalisierung der musikalischen Mittel hat keine neuen Visionen eröffnet, sondern dazu beigetragen, dass vieles so unendlich uniform und langweilig geworden ist." Denn "es ist doch so: Wenn man Tschaikowskys Violinenkonzert spielen will, muss man eine lange, tiefe Leidenschaft mitbringen, Disziplin und Arbeit. Oder ein Klavier, ein Cello: Man braucht ein halbes Leben, bis man diese Instrumente wirklich zum Glühen bringt. Im Prinzip würde das auch für digitale Tools gelten. Aber jetzt frage ich Sie: Bringt hier ernsthaft irgendwer diese Leidenschaft auf? ... Alles klingt gleich. Weil alles so einfach geht, weil die Widerstände fehlen."

Auf seinem neuen Album "Oh Me Oh My" dringt Lonnie Holley tief vor in die Geschichte des afroamerikanischen Leids - die Ästhetik ist dabei roh und unbearbeitet, aus dem Moment der Improvisation heraus geschöpft, schreibt Arno Raffeiner auf ZeitOnline. Holley "klingt immer ein bisschen so, als würde er durch einen verstopften Plastiktrichter singen. Scheinbar chronisch verschnupft, quäkt und raunzt und klagt er, holt Vokale wie vertrockneten Kaugummi unter der Tischkante hervor und dehnt sie so lange die Tonleiter rauf und runter, bis sie reißen. Er umkreist in murmelnden Wiederholungen dieselben Worte, hart an der Grenze zwischen Gesang und Predigt. Das hat mehr mit Beschwörungsritualen und Mantras zu tun als mit Spoken Word, ist weit entfernt von den Konventionen des Rap, am ehesten noch ein mehrfach gebrochenes Echo auf den Blues. Aber es ist unverkennbar sein Rhythmus, seine Kadenz, sein Hohelied." Unterstützt wird er unter anderem vom Sänger Michael Stipe:



Auf der Berliner Musikfilmmesse "Avant Première" erkundigt sich FAZler Max Nyffeler nach dem Stand der Dinge was unter anderem Klassikstreaming betrifft. Dienste wie Medici.TV mit über 3500 Konzert- und Opernaufnahmen können auf durchaus positive Bilanzen blicken, schreibt er. DVDs und BluRays hingegen werden zu Nischenprodukten. "Der Markt boomt. Immer mehr große Opern- und Konzerthäuser sind im Netz präsent, neuerdings auch die Mailänder Scala. ... Die Digitalisierung verpasst dem gesamten Kulturbereich einen unerhörten Schub. Deutlich wurde das in den Panels, die sich mit Organisationsfragen befassten. Einen Einblick gab Ole Bækhøj, der Intendant des Berliner Boulez-Saals. Die digitale Infrastruktur, die man hier zeitgleich mit dem Bau des Saals plante, wird den Bedürfnissen des Betriebs laufend angepasst. Die digitalen Instrumente, so Bækhøj, können ihr Potential nach innen und außen aber nur entfalten, wenn sie kreativ genutzt werden. Den Anwesenden riet er: 'Habt keine Angst vor Fehlern, versucht Neues!'"

Weitere Artikel: Spotify will seine App mehr an TikTok angleichen, meldet Mirjam Hauck in der SZ. Für die FAZ porträtiert Philipp Krohn den Elektronikmusiker Volker Bertelmann, der für seinen Soundtrack zu "Im Westen nichts Neues" für den Oscar nominiert ist. Besprochen werden ein von Christoph Eschenbach dirigiertes Konzert des Tonhalle-Orchesters Zürich (NZZ), Hans Nieswandts Album "Flower Hans" (taz), Acuds Techno-Dada-Album "Verdammt nochmal" (Tsp), das Konzert des Deutschen Kammerorchesters Berlin zum Weltfrauentag (Tsp), ein Prokofjew-Konzert von Daniil Trifonov in München (SZ), ein Auftritt des Jazzers Chris Potter in München (SZ), ein Band mit Briefen des Musikwissenschaftlers Carl Dahlhaus (FAZ) und Frittenbudes Elektropunk-Album "Apokalypse Wow" (taz).

Archiv: Musik

Film

Im Standard porträtiert Bert Rebhandl den österreichischen Kameramann Niki Waltl, der den oscarnominierten Film "Nawalny" fotografiert hat. Rüdiger Suchsland freut sich auf Artechock sehr darüber, dass die Filmkritikerin Barbara Wurm künftig das Forum der Berlinale leiten wird: "Das ist eine wunderbare Entscheidung!" Die Agenturen melden, dass der aus "Anatevka" bekannte, israelische Schauspieler Chaim Topol gestorben ist.

Besprochen werden Steven Spielbergs "Die Fabelmans" (Standard, NZZ, Welt, unsere Kritik), Alice Diops "Saint Omer" (Zeit, mehr dazu bereits hier), der Dokumentarfilm "Die Eiche - mein Zuhause" (Welt), die auf Sky gezeigte, italienische Mystery-Serie "Christian" (FAZ), Santiago Mitres oscarnominierter Film "Argentinien 1985" über die Prozesse gegen die Junta (FAZ) und Sara Dosas auf Disney+ gezeigter Dokumentarfilm "Fire of Love" über das Vulkanologen-Ehepaar Krafft (SZ).
Archiv: Film

Architektur

Bild: Entwurf für das Megaprojekt Mukaab in Riad

In der SZ kann Gerhard Matzig nur den Kopf schütteln über "The Mukaab", den von Mohammed bin Salman in Riad geplanten, 400 Meter hohen und breiten quadratischen Wolkenkratzer: "Man kennt derlei Triebkräfte aus der Geschichte des politischen Irrsinns. Auch Stalin und Hitler hielten sich im Grunde nicht nur für die Herren und Bauherren einer neuen Weltordnung - sondern auch für die Architekten. (…) Gedacht ist der Bau für Edelimmobilien und spektakulären Wohnraum, Geschäfte, Gastronomie und Hotels, aber auch für Technologieunternehmen, Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Hunderttausende Arbeitsplätze sollen entstehen. Ein spiralförmiger Turm im Inneren des Quaders, der von einer torpedoförmig gerundeten Hüllstruktur umgeben ist, die an eine Reaktorhülle denken lässt, nach außen aber orthogonal erscheint, soll eine 'interaktive Welt' erschließen. Virtuell, heißt es im Werbeclip auf Youtube, könne man hier sogar auf den Mars fliegen. Das Projekt, das Entertainment und Holografie (Unterwasserwelten, Schneelandschaften) 'in einer neuen Dimension' verspricht, versteht sich als 'gateway to another world', als Tor zu einer anderen, neuen und natürlich besseren arabischen Welt."
Archiv: Architektur