Efeu - Die Kulturrundschau

Drahtseil aus Geschmacksurteilen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.06.2022. Andrea Stift-Laube denkt im Standard darüber nach, wie man in Österreich vom Schreiben leben kann. Die FAZ versteht nach Sierra Pettengills Doku "Riotsville, USA", wie die Bürgerrechtsbewegung zum Anlass genommen wurde, die Polizei militärisch aufzurüsten. Die SZ steht überrascht beim Rock am Ring: Fast nur Männer hier! FAZ und Welt bestaunen  Kirill Serebrennikows Umschreibung von Webers "Der Freischütz": Nicht um den treffenden Schuss geht es, sondern um den treffenden Ton.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.06.2022 finden Sie hier

Bühne

Szene aus dem "Freischütz". Foto: Bart Grietens


Zur Eröffnung des Holland Festivals hat Kirill Serebrennikow in seiner ersten Operninszenierung seit 2017 Webers "Der Freischütz" auf die Bühne gebracht, von der Handlung allerdings nicht viel übrig gelassen, berichtet Kerstin Holm in der FAZ: "Es hat offenbar mit der manifesten Katastrophe [in der Ukraine] zu tun, dass der sonst gern politisch inszenierende Serebrennikow bei Carl Maria von Webers 'Freischütz' jetzt die Heilkräfte autonomer Kunst betont und aus der romantischen Oper eine Komödie über die Oper als solche gemacht hat. Statt ums Schießen ringen die Solisten um den treffenden Ton, den mephistophelischen Fädenzieher Samiel gibt der Dirigent. Die Dialoge haben Serebrennikow und sein Ko-Autor Arseni Farjatjew auf Englisch neu geschrieben. Als erfundener Joker-Kommentator 'Der Rote' führt der amerikanische Schauspieler Odin Biron durch die Vorstellung und platziert parodistisch jazzige Kommentare, indem er sich, viel zu schön zwischen Bariton und Countertenor alternierend, in drei Songs aus dem Freischütz-Musical 'The Black Rider' von Tom Waits produziert."

In der Welt ist Manuel Brug von dieser Umschreibung der Geschichte "über das teuflische Doping eines verzagten Jägers im deutschen Wald ... in eine globalisierte Story über Versagensängste beim Singen, Vokalisteneitelkeiten, Hinterbühnenaberglauben und Verdrängungskampf" nur halb überzeugt. Immerhin: auch Dirigent Patrick Hahn muss mitmachen und den Teufel geben. "Deshalb wanzt sich ganz besonders dessen Gehilfe Kaspar (Günther Groissböck singt ihn spielfreudig, aber mit leicht angekränkeltem Bassbariton) immer wieder devot an den jugendlichen Master ran: Der große Mann katzbuckelt, der dünne Blonde mit dem Stab lässt ihn arrogant gewähren."

Besprochen werden außerdem Rolando Villazóns Inszenierung von Rossinis "Barbier von Sevilla" mit Cecilia Bartoli bei den Pfingstfestspielen in Salzburg (NZZ, FAZ, SZ), die Uraufführung der Oper "Einbruch mehrerer Dunkelheiten" von Felix Leuschner und Dietmar Dath am Staatstheater Kassel (nmz), eine Marionetten-Variante des "Ariodante" von Georg Friedrich Händel bei den Händelfestspielen in Halle (nmz), Yurii Radionovs Inszenierung der Exilpremiere von Luda Tymoshenkos "Zal'ot" in Stuttgart ("Wann haben Sie das letzte Mal auf einer deutschen Bühne ein osteuropäisches Ensemble gesehen? Es ist nicht weit her mit dem in Festreden gerne beschworenen Kulturaustausch. In der Wirtschaft funktioniert das irgendwie besser. Das hat seine offensichtlichen Gründe, aber es besagt etwas über die Prioritäten in unserer Gesellschaft", meint nachtkritiker Thomas Rothschild, der die Aufführung lobt, FR), Ulrich Mokruschs Inszenierung des interdisziplinären Musiktheaterstücks "Songs for Days to Come" des syrischen Klarinettisten und Komponisten Kinan Azmeh am Theater Osnabrück (nachtkritik), ein "Mord im Orientexpress" bei den Bad Vilbeler Burgfestspielen (FR), Choreografien von Anne Teresa De Keersmaeker, Merce Cunningham und Hans van Manen mit dem Wiener Staatsballett an der Wiener Volksoper (Standard) und drei Berliner Premieren, die FAZ-Kritikerin Irene Bazinger in einem Artikel verfrühstückt: Karin Henkels Thomas-Bernhard-Inszenierung "Auslöschung. Ein Zerfall" am Deutschen Theater (Tagesspiegel, nachtkritik), Clara Weydes Inszenierung der Adaption von Karel Čapeks Roman "Der Krieg mit den Molchen" an der Schaubühne (taz, nachtkritik) und Julien Gosselins "Sturm und Drang" an der Volksbühne (bei SZ-Kritiker Till Briegleb erweckt der Abend "leider nur schmerzliche Erinnerungen an bessere Zeiten: als der Größenwahn an der Volksbühne auch bei größter Zähigkeit noch richtig was hergemacht hat.").
Archiv: Bühne

Literatur

Die Schriftstellerin und Grünen-Politikerin Andrea Stift-Laube denkt in einem Essay für den Standard darüber nach, wie man in Österreich vom Schreiben leben kann: Die Anschubhilfe für den literarischen Nachwuchs ist beachtlich, doch fällt dieser Welpenschutz erst einmal weg, muss man in der Tretmühle ordentlich schwitzen. "Eine Familie dauerhaft von unregelmäßig eintrudelnden Honoraren zu versorgen ist unmöglich, und von einer befriedigenden Altersvorsorge sind wir kilometerweit entfernt. Care-Arbeit findet wie auch im Rest der Gesellschaft vor allem im Unsichtbaren statt. Kinder zu haben wirkt sich nachteilig aus, weil man mit ihnen bezahlte Schreibresidenzen, Stadtschreiberstellen etc. nur sehr schwer antreten kann. Zu alldem kommen die eingezogenen Altersgrenzen in Ausschreibungen. Eine 25-jährige Autorin kann sich um deutlich mehr Stipendien bewerben als eine 50-jährige. ... Das System zeitigt also antisolidarische Tendenzen und begünstigt Einzelkämpfertum. Auf einem Markt, auf dem jeder mit dem anderen konkurriert, treten alle gegeneinander an. Statt kollektive und solidarische Strategien zu verfolgen, wird ein jeder Vermarkter seiner selbst."

Im online nachgereichten Interview mit der Zeit spricht Michael Groenewald vom Reprodukt Verlag über die die Wiederentdeckung von (anspruchsvollen) Kindercomics. Unter anderem sieht er deren Vorzug darin, dass bereits an Filmen und Serien in komplexen Erzählformen geschulte Kinder keine Bauchlandung hinlegen, wenn es ans eigene Lesen von allerdings wenig reizvollen Erstlesebüchern geht: "Bevor sie selbst gelesen haben, waren sie, was die Komplexität der Geschichten anbelangt, auf Champions-League-Niveau, und plötzlich spielten sie wieder in der Kreisklasse. Genau da sind Comics extrem gut geeignet, über die Bilder eine Komplexität in die Geschichte zu bringen, ohne dass ein Kind dafür tausend schwierige Wörter entziffern muss. ...  Aber dafür muss man den Bildern den gleichen Wert beim Erzählen zugestehen wie den Texten", denn "auch in Kindercomics sieht man leider oft, dass Bilder nichts Eigenes zur Erzählung beitragen. Sie zeigen stattdessen exakt das, was auch in den kurzen Texten und Sprechblasen steht."

Außerdem: Nino Bulling spricht im Tagesspiegel über seine queeren Comicprojekte auf der documenta. Richard Kämmerlings erinnert in der Welt an Kingsley Amis' Campusroman "Lucky Jim". Für die FAS wirft Tobias Rüther einen Blick darauf, wie Bram Stokers "Dracula" durchs Netz geistert. In der FAZ gratuliert Hubert Spiegel Orhan Pamuk zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Helene Hegemanns Storyband "Schlachtensee" (FAS), die Ausstellung "Marcel Reich-Ranicki. Ein Leben, viele Rollen" in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt (taz, FR), Katharina Adlers Mietshaus-Roman "Iglhaut" (Tsp), Wole Soyinkas "Die glücklichsten Menschen der Welt" (Freitag), Yade Yasemin Önders "Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron" (Standard), Powerpaolas Comic "Virus Tropical" (Tsp), Dorothea Hubers Comic "Aus Mutters Mund" (Tsp), Bernd Wagners "Verlassene Werke 1976 -1985" (online nachgereicht von der FAZ), Tash Aws "Wir, die Überlebenden" (taz) und neue Krimis darunter, S. A. Cosbys "Die Rache der Väter" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Militarisierung des staatlichen Kampfes gegen den Protest auf der Straße: "Riotsville, USA"

In ihrem Dokumentarfilm "Riotsville, USA" stellt Sierra Pettengill Archivaufnahmen zusammen, die zeigen, wie Polizei und Militär in den USA in den Sechzigern mit Schauspielern in Camps darauf gedrillt wurden, Proteste der Bürgerrechtsbewegung von der Straße zu fegen. "Die Militarisierung des staatlichen Kampfes gegen die Proteste wurde schließlich nicht nur hingenommen - sie war besonders von vielen weißen Bürgern auch gewünscht und ist es bis heute", schreibt Frauke Steffens in der FAZ. "Die vom Staat imaginierte 'Riotsville' mit ihren aggressiv auftretenden Manöver-Schauspielern wird so zu einer Metapher für den Blick der Behörden und vieler Weißer auf schwarzen Protest: Der 'Krawall' ist überall, ist gleichsam inhärent in den innerstädtischen Communities und muss immer und überall schon präventiv niedergeschlagen werden. Bis heute fungieren die auch im Deutschen lange 'Rassenunruhen' genannten Elendsaufstände als Rechtfertigung für einen hochgerüsteten Polizeiapparat und die Kriminalisierung von politischem Protest."

Außerdem: Christiane Peitz (Tsp) und Claudius Seidl (FAZ) gratulieren Ulrike Ottinger zum 80. Geburtstag. Im Standard empfiehlt Valerie Dirk dem Wiener Publikum eine Filmschau im Metro-Kino zur Geschichte des queeren österreichischen Kinos. Jakob Hayner erinnert in der Welt an 20 Jahre "The Wire" - bis heute bleibe die Serie "unerreicht". In der FAZ gratuliert Jürgen Kaube Liam Neeson zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden "Everything Everywhere All at Once" mit Michelle Yeoh (ZeitOnline), der Mafiathriller "The Outfit" mit Mark Rylance (SZ), die vierte Staffel von "Borgen" (taz) und der Gastauftritt von Prince Charles in der britischen Dauerbrennerserie "East Enders" (ZeitOnline).
Archiv: Film

Kunst

In der NZZ schreibt Heinz Hofmann zum 600. Geburtstag des Renaissancefürsten und Kunstmäzens Federico da Montefeltro. Julia Hubernagel berichtet in der taz vom Beyoğlu und Başkent Culture Road Festival in Istanbul und Ankara. Lena Schneider besucht für den Tagesspiegel den Skulpturenpark des Ehepaares Ludes in Potsdam. In der FAZ komm Andreas Platthaus empört aus der Dresdner Galerie Alte Meister, wohin in eine angebliche Konfrontation eines Gemälde Edward Hoppers mit Vermeers "Brieflesendem Mädchen" gelockt hatte. Doch zu Platthaus' Ärger war der Vermeer nur eine Kopie. Ebenfalls in der FAZ berichtet Martin Lhotzky von der Eröffnung der Kunstsammlung Heidi Horten in Wien.

Besprochen werden eine Donatello-Ausstellung in Florenz (SZ) und die Ausstellung "Three Doors: Forensic Architecture" zum Terroranschlag in Hanau im Frankfurter Kunstverein ("'Warum ist das Kunst?', fragt der Frankfurter Kunstverein rhetorisch und sieht sich den 'Mainstream-Medien' voraus. Für die Hinterbliebenen ist die Frage belanglos - in der Ausstellung ergriffen sie am Tag der Eröffnung das Wort und forderten die Vertreter sämtlicher Behörden und Untersuchungsausschüsse, die mit den Fällen Hanau und Dessau befasst waren, zum Besuch der Schau auf", schreibt FAZ-Kritiker Georg Imdahl, der die Eingangsfrage auch nicht beantworten mag).
Archiv: Kunst

Musik

270 Menschen spielten im Laufe des "Rock am Ring"-Festivals auf der Bühne Musik - und nur 13 davon waren Frauen, hat Jakob Biazza für die SZ mitgezählt: "Herzlich willkommen in der Musikbranche 2022. ... Man mag nach jeder neuen Dekade eine Spur überraschter vor dem ganzen Vorgang stehen, vor den immerselben Argumenten, Rationalisierungen, Erklärungen. Aber im Grunde blickt man eben weiterhin auf eine Industrie, die von Anbeginn an bis in den allerhintersten, allerklebrigsten Winkel männlich dominiert war - vom Techniker bis zum Plattenboss. Vom kleinsten Penis-Witz bis zur größten Missbrauchsserie und wieder zurück. Eine Industrie, die sich ungefähr ebenso lang weigert, etwas, irgendetwas zu verändern - aus Starrsinn oder Mutlosigkeit, wegen fehlender Kraft oder mangelnder Fantasie, aus ökonomischen Zwängen, wegen tumber Frauenverachtung oder weil es (noch) genug Fans egal genug ist."

Matthias Warkus singt auf 54books eine Lobeshymne auf die Dlf-Sendung "Klassik-Pop-et-cetera", wo sich der halbe Kulturbetrieb schon ein Stelldichein gegeben und Musik präsentiert hat. Faszinierend findet Warkus die Sendung gar nicht so sehr deshalb, weil es darum ginge "Menschen und Musik kennenzulernen, sondern darum, Menschen, die man zu kennen glaubte, in einer kulturellen Grenzsituation zu sehen, auf einem Drahtseil aus Geschmacksurteilen und über einem Haifischbecken voller Selbstreferentialität."

Außerdem: Die Kurzvideo-Plattform TikTok ist mit ihrer eine Milliarde zählenden Userschaft mittlerweile zum zentralen Durchlauferhitzer für die Musikindustrie geworden: Was in der Öffentlichkeit steil geht, ging sehr wahrscheinlich kurz vorher schon auf TikTok steil, schreibt Amira Ben Saoud im Standard. Elmar Krekeler erzählt in der Welt die Geschichte des antifaschistischen Protestsongs "Bella Ciao", den es nun auch in einer ukrainischen Version gibt.



Besprochen werden der Auftritt der Rolling Stones in München (Tsp, ZeitOnline), Barbara Beuys' Buch über die Komponistin Emilie Mayer (online nachgereicht von der FAZ), ein Auftritt von Rammstein (Tsp), ein Konzert der Wiener Philharmoniker unter Andris Nelsons in der Berliner Philharmonie (Tsp), ein Konzert von The Heath Quartet in Berlin (Tsp), neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine von François-Xavier Roth dirigierte Aufnahme von Claude Debussys Oper "Pelléas et Mélisande" durch das Orchester Les Siècles, das laut SZ-Klassikkolumnist Reinhard J.Brembeck "als Todesbote in diesem zivilisationsmüden Totentanz" agiert, und Brian Jacksons Album "This is Brian Jackson" (Standard). Wir hören rein:

Archiv: Musik