Efeu - Die Kulturrundschau

Mit heißkaltem Kopf

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22.04.2022. Wunderbare surrealistische Kunst finden die Kritiker auf der Biennale in Venedig. Und dass über 90 Prozent der Teilnehmer Frauen sind, stört überhaupt nicht. In der NZZ verzweifelt der ukrainische Autor Sergei Gerasimow über seine russischen Verwandten, die der Ukraine eine Lektion erteilen und sie zugleich vor ukrainischen Nazis retten wollen. Die Welt lernt aus der Hulu-Serie "The Dropout" über Elizabeth Holmes und ihr Blutanalyse-Startup Theranos, wie Feminismus auch dem Betrug dienen kann. Die FAZ erkundet mit Jan Schmidt-Garres Film "Fuoco Sacro" das Geheimnis des expressiven Singens. Die SZ hört Hardcore-Punk der Achtziger.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.04.2022 finden Sie hier

Kunst

Charline von Heyl, Pagan Prophet, 2021. Photo Alex Marks. Courtesy the Artist; Petzel, New York


Gestern hat Hanno Rauterberg in der Zeit die Biennale in Venedig sehr kritisch unter die Lupe genommen (der Text ist jetzt online freigeschaltet). Stefan Trinks ist dagegen heute in der FAZ voller Lob für die oft surrealistische Kunst, die dort unter dem Motto "The Milk of Dreams" gezeigt wird. Er empfiehlt die Pavillons von Malta, Italien, Griechenland, aber auch Deutschland und hält fest: "Geschlecht als Kategorie ist beim Betrachten dieser Kunst irrelevant", obwohl über neunzig Prozent der Teilnehmer weiblich sind. "Neben den zwei Oberthemen der Ausstellung 'Metamorphosen' und 'Mensch und Natur', die mit einer Terrakottaarmee an Mensch-Tier-Pflanze-Hybriden nahezu alle Säle besiedeln, bedienen etwa die Künstlerinnen P. Staff mit ihrer Weltraumvision 'On Venus' oder Elaine Cameron-Weir mit dem Captain-Future-haft metallverkleideten Raum 'Low Relief Icon' souverän und gleichberechtigt die dritte große Fragestellung 'Mensch und Technik'. Und die Rumänin Andra Ursuţa stellt gleich einen gesamten Saal mit Cyborgs aus farbig semitransparentem Kunstharz voll, gerahmt von Rosemarie Trockels ebenfalls algorithmisch erstellten Web-Abstrakta." Und: "Unbedingt noch stärker im Auge behalten muss man die Malerin Charline von Heyl, die mit ihrer Botticelli-Paraphrase 'Primavera' von 2020 und 'The Garden of Cyrus' ein Gespür für 'Farbe als Haut der Welt' beweist".
 
Loukia Alavanou, "On the Way to Colonus." VR360. Filmstill. © Loukia Alavanou, 2021


Auch FR-Kritikerin Sandra Danicke war besonders beeindruckt vom griechischen Pavillon, wo Loukia Alavanou ihre Arbeit "Oedipus in Search of Colonus" installiert hat, die man mit einer VR-Brille betrachten kann. Es ist eine Adaption von Sophokles' Drama "Ödipus auf Kolonos", die sie auf einer Müllhalde am Rand Athens inszeniert hat, mit Roma, die dort tatsächlich leben. "Mit der Brille auf dem Kopf durchwandern wir diesen Unort, landen in verschiedenen Wohnungen, umringt von Menschen, die zum Teil irritierende Clowns- oder Tiermasken tragen, uns bisweilen aber auch ganz offen ins Gesicht sehen. Sie stehen dort, konfrontieren uns mit ihrer Gegenwart - und wir können nicht weg. Sind 17 Minuten lang ein Bestandteil der Szenerie, die bedrückend wirkt, aber keine billige Anklage ist. Ein Effekt, der so viel stärker erlebt wird, als jede Fernsehdokumentation. Danach, man kann es nicht anders sagen, wirkt vieles, sehr vieles, was in den Länderpavillons gezeigt wirkt, vollkommen blutleer. Man muss es sich vielleicht an einem anderen Tag anschauen."

Uffe Isolotto, We Walked the Earth, Pavilion of Denmark, Biennale Arte, 2022. Image courtesy of Ugo Carmine


Weiteres von der Biennale: In der NZZ stellt Philipp Meier den Schweizer Pavillon vor, in dem Latifa Echakhch versucht, "das Hochgefühl" entstehen zu lassen, "das einen noch länger begleitet, wenn man ein Konzert verlässt, das sei eigentlich die Essenz des Konzerts - diese Anwandlung einer Stimmung der Erfüllung, zu der sich ein etwas schmerzlicher Nachhall gesellt, dass es auch schon wieder vorüber ist." Auf Zeit online schreibt Tobias Timm über den deutschen Pavillon: Dort hat Maria Eichhorn "den Putz abschlagen lassen, das Fundament freigelegt, Hohlräume geöffnet - als hätten hier Archäologen etwas gesucht. 'Relocating a Structure' heißt das Projekt, und es besteht aus verschiedenen Komponenten", die deutsche Geschichte sichtbar machen sollen und, so Catrin Lorch in der SZ, "als Simulation schon einmal vorwegnimmt", wie der Ort ohne den deutschen Pavillon aussähe: "Ein sandfarbenes Plateau direkt am Wasser, eine kleine, baumbestandene Utopie. Was wäre, wenn es diesen Bau nicht mehr gäbe? ... Vor allem internationale Besucher kritisierten während der ersten Tage, dass die deutsche Kunst den Blick nicht hebt, dass man an der NS-Geschichte klebe. Diese Kritik übersieht, dass 'Relocating a Structure' modellhaft gedacht ist, eine universal gültige Anleitung zum Umgang mit allen auf Ewigkeit angelegten Architekturen." Und Boris Pofalla hebt in der Welt u.a. den dänischen Pavillon hervor: "Der Däne Uffe Isolotto (*1976) hat ein naturalistischsurreales Horrorkabinett in szeniert - man solle doch lieber von 'Darkmark' sprechen, sagt ein jugendlicher Besucher zu seiner Mutter beim Betrachten eines erhängten Kentauren."
Archiv: Kunst

Literatur

Sergei Gerasimow verzweifelt in seinem aktuellen Kriegstagebuch aus Charkiw (NZZ), wenn er dieser Tage mit seinen russischen Verwandten und Freunden spricht. Nicht einmal die Journalisten unter ihnen versuchen, sich im Internet aus anderen Quellen als denen der eigenen Regierung zu informieren, sondern nehmen dankbar vorlieb mit den Verlautbarungen. "Das ist ein großer Unterschied zu den Siebziger- oder Achtzigerjahren, als wir alle mit unseren schlechten Radios Voice of America und andere feindliche Stimmen hörten, die durch das Rauschen verunstaltet waren. Damals wollten wir die Wahrheit wissen. Die Menschen im heutigen Russland wollen das nicht. Diejenigen, die einmal unsere Freunde waren, hassen uns jetzt und wollen uns eine Lektion erteilen. Zugleich wollen sie uns vor den ukrainischen Nazis retten."

Wird Russisch als lingua franca aus Osteuropa nach dem Ukrainekrieg genauso verschwinden wie das Deutsche in Mittelosteuropa nach dem Holocaust? Das fragt sich Sabine Berking in einem taz-Essay: "Wird es nach Mariupol und Butscha möglich sein, Gedichte auf Russisch zu schreiben? ... Welche Rolle wird das Russische nach dem Krieg in der Welt, in der Kultur noch spielen? Wird es, wie der in der Schweiz lebende Schriftsteller Michail Schischkin hofft, eine Stunde null für die russische Gesellschaft geben? Wird man außerhalb Russlands diese schöne, reiche Sprache auch weiterhin erlernen wollen? ... Russisch hat seine Unschuld verloren. Nicht nur in der Ukraine bezeichnen sich immer weniger Bürger als russische Muttersprachler, auch in Estland und Lettland, wo eine große russische Minderheit lebt, schwindet das Zugehörigkeitsgefühl zum Land und der Sprache der Herkunft, in Litauen soll Russisch nur noch zweite Fremdsprache in den Schulen werden."

Besprochen wird unter anderem Peter Handkes "Zwiegespräch" (NZZ).
Archiv: Literatur

Film

Amanda Seyfried als Elizabeth Holmes in "The Dropout" (Hulu)

Startups, die so richtig scheitern und die Menschen mit sich in den Abgrund reißen, und andere millionenschwere Betrügereien - solche "Grifter Stories" sind nach dem TrueCrime-Hype das aktuelle große Ding in der Serienproduktion. Beispiel "The Dropout" von Hulu über Elizabeth Holmes und ihr Blutanalyse-Startup Theranos, das einst mit wundersamsten Versprechungen an den Markt ging, teilweise in Milliardenhöhe gehandelt wurde, dann aber mangels funktionierender Geräte, die allerdings schon im Einsatz waren, kläglich scheiterte und fortan die Gerichte beschäftigte. "Obwohl Holmes immer wieder versucht, sich so darzustellen, als wäre sie durch die äußeren Umstände, durch Finanzinvestoren und Risikokapitalunternehmen zum Betrug verleitet worden, zeigt die Serie überzeugend das Gegenteil", schreibt Charlotte Szász in der Welt. Die Serie "spielt mit allen üblichen Hollywood-Klischees des missverstandenen Genies, nur um dann den Vorhang zurückzuziehen und zu enthüllen, dass Holmes nicht nur unbeholfen, sondern auch dumm, gemein und peinlich ist." Und Holmes spielt "immer wieder die Empowermentkarte aus. Frauen müssten in dieser männerdominierten Welt besonders lernen sich durchzusetzen. Und obwohl das natürlich stimmt, öffnen sich ihnen dafür Türen durch leere Anklagen. Sie benutzen den Feminismus als diskursive Waffe gegen die Benachteiligung, um sich selbst beim Verkauf ihres inhaltslosen Produktes Vorteile zu verschaffen." Im Freitag bespricht Dorbila Kontic die Serie und das "Grifter"-Phänomen. Die Serie basiert außerdem auf einer gleichnamigen Podcast-Reportage.

Besprochen werden Robert Eggers' "The Northman" (ZeitOnline, BLZ, Tsp, mehr dazu bereits hier), Gaspar Noés Sterbedrama "Vortex" mit Dario Argento (NZZ), Peter Brunners diese Woche in Österreich startender "Luzifer" mit Franz Rogowski (Presse), Catherine Corsins "In den besten Händen" (SZ, Tsp) und Julian Fellowes' Serie "The Gilded Age" (taz).
Archiv: Film

Bühne

Ermonela Jaho als Angelica in Puccinis "Suor Angelica". Foto aus Jan Schmidt-Garres Film "Fuoco Sacro"


Keine Diven, sondern drei kluge, fantastisch begabte, ganz unterschiedliche Künstlerinnen hat der Regisseur Jan Schmidt-Garre für seinen Film "Fuoco Sacro" vor die Kamera geholt, um  das "Geheimnis des expressiven Singens", das einen in die Seele trifft, zu ergründen. In der FAZ ist Jürgen Kesting hin und weg: "'Eine gequälte Seele zu haben', bekennt Ermonela Jaho, 'hilft einem Künstler, weil man dann bereit ist, an die Extreme geht.' Dass es keine Primadonnen-Floskel ist, wird im Seelenspiegel der Mimik ihres wunderschönen Antlitzes beglaubigt. In Barbara Hannigan ist der Sonderfall einer intellektuellen Sängerin (und Dirigentin!) zu erleben, die es zwar nicht vermeiden kann, 'ein Teil der Rolle' zu werden, aber doch exakt mit heißkaltem Kopf austariert, ob sie sich bei einer heiklen Passage mit der sicheren B-Variante begnügt oder sich auf das Risiko der A-Lösung einlässt: 'Die nicht ganz gelungene Version A ist besser als die gelungene B.' Bei ihr rinnen die Tränen, wie von Rousseau gefordert, aus dem Verstande. Die sanguinisch impulsive Asmik Grigorian ist offenbar das von innen brennende 'stage animal'; sie hat, wie sie bekennt, Jahre gebraucht, um ohne Beta-blocker auf die Bühne zu gehen." In der Welt lässt sich Manuel Brug vor allem vom Gesang Ermonela Jahos betören, "die Rollen wirklich in jeder Körperfaser und jedem Ton mitbebt, mitlebt, mitatmet. Und wenn man das Glück hat, sie zu erleben, spürt man es sofort. Sie hat eine magische Ausstrahlung, die sich ganz langsam Bahn bricht, einer antiken Sirene gleich; auch wenn ihr Gesang niemanden in den Tod treibt, nur zu Tränen."

Weiteres: Antonia Mundig erkundet für das Van Magazin das Mecklenburgische Staatstheater in Schwerin. Besprochen wird Oliver Frljićs Inszenierung "Dantons Tod / Iphigenie" am Gorki Theater (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Musik

Das eben eröffnete Museum of Modern Electronic Music in Frankfurt hat (zugunsten der eigenen Stadt) glatt die Geschichte von Techno in Ost-Deutschland unterschlagen, ärgert sich Victor Sattler in der FAZ. In den zu Technobunkern umgewidmeten Industriebrachen des Ostens "war das Provisorische so sehr Ästhetik wie Folge der Umstände", die das Projekt TreuhandTechno derzeit an der Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft untersucht. "Bereits im amerikanischen Detroit, wo der Techno-Begriff 1988 erstmals aufkam, reagierte das Genre auf die Tristesse eines untergehenden Industriestandortes. Das Krisennarrativ bekam eine ostdeutsche Prägung."

Wer die Gegenwart verstehen will, muss den Hardcore-Punk der Achtziger (und die dem entsprungenen Bewegungen) kennen, schreibt Andreas Bernard in der SZ, nachdem er sich via Zoom lange mit Ian MacKaye, einem der Masterminds der damaligen Bewegung, Gitarrist bei der stilbildenden Band Fugazi und mit seinem Label Dischord Records noch immer tätig ist. "An einem Frühstückstisch morgens nach einem Fugazi-Konzert war schon 1988 kein tierisches Produkt zu finden. Plastikmüll wurde vermieden. Und die kürzlich wiedervereinigte Band Bikini Kill, deren Bassistin Kathi Wilcox mit dem anderen Fugazi-Sänger Guy Picciotto verheiratet ist, löste zur gleichen Zeit die 'Riot Grrl'-Bewegung aus, die Urszene des neuen Feminismus. Untrennbar verknüpft mit dieser selbstfürsorglichen, konsequent antisexistischen Ethik in einer männlich dominierten Punk-Welt war in der Hardcore-Szene ein unternehmerischer Geist, ein Wille zur Herstellung eigener Kommunikationsstrukturen, die nur, wie Ian MacKaye im Gespräch betont, durch eine 'strong work ethic', durch unbezahlte, selbstausbeuterische Arbeit möglich wurde." Die Doku "Salad Days" wirft einen Blick auf die Geschichte von MacKayes Label, das den Hardcore-Punk entscheidend geprägt hat und seitdem die Musikszene Washington D.C.s dokumentiert:



Außerdem: Anlässlich des Record Store Days, der morgen wieder begangen wird, blickt Konstantin Nowotny im Freitag auf den anhaltenden Vinyl-Hype, den die Musikindustrie gerade nach allen Regeln der Kunst mit immer weiter steigenden Preisen melkt. Bei seinem ersten Konzert ohne Einschränkungen fühlt sich Hannes Soltau vom Tagesspiegel noch ziemlich unwohl.

Besprochen werden das Debütalbum von DJ Travella, dessen ekstatisch-schnelle Singeli-Musik tazler Johann Voigt ziemlich mitreißt, Fontaines D.C.s "Skinty Fia" (Pitchfork), eine Lied-CD der Sopranistin Golda Schultz (SZ), Craig Browns Buch "One Two Three Four" über die Geschichte der Beatles (FAZ) und eine Kollaboration der Plastik Beatniks, eines neuen Projekts der Acher-Brüder, mit dem Hörspielautor Andreas Ammer und Leo Hopfinger zu Ehren des Beatnik-Dichters Bob Kaufman (taz). Wir hören rein:

Archiv: Musik