Efeu - Die Kulturrundschau
Mit heißkaltem Kopf
Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.04.2022. Wunderbare surrealistische Kunst finden die Kritiker auf der Biennale in Venedig. Und dass über 90 Prozent der Teilnehmer Frauen sind, stört überhaupt nicht. In der NZZ verzweifelt der ukrainische Autor Sergei Gerasimow über seine russischen Verwandten, die der Ukraine eine Lektion erteilen und sie zugleich vor ukrainischen Nazis retten wollen. Die Welt lernt aus der Hulu-Serie "The Dropout" über Elizabeth Holmes und ihr Blutanalyse-Startup Theranos, wie Feminismus auch dem Betrug dienen kann. Die FAZ erkundet mit Jan Schmidt-Garres Film "Fuoco Sacro" das Geheimnis des expressiven Singens. Die SZ hört Hardcore-Punk der Achtziger.
9punkt - Die Debattenrundschau
vom
22.04.2022
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Kunst



Literatur
Sergei Gerasimow verzweifelt in seinem aktuellen Kriegstagebuch aus Charkiw (NZZ), wenn er dieser Tage mit seinen russischen Verwandten und Freunden spricht. Nicht einmal die Journalisten unter ihnen versuchen, sich im Internet aus anderen Quellen als denen der eigenen Regierung zu informieren, sondern nehmen dankbar vorlieb mit den Verlautbarungen. "Das ist ein großer Unterschied zu den Siebziger- oder Achtzigerjahren, als wir alle mit unseren schlechten Radios Voice of America und andere feindliche Stimmen hörten, die durch das Rauschen verunstaltet waren. Damals wollten wir die Wahrheit wissen. Die Menschen im heutigen Russland wollen das nicht. Diejenigen, die einmal unsere Freunde waren, hassen uns jetzt und wollen uns eine Lektion erteilen. Zugleich wollen sie uns vor den ukrainischen Nazis retten."
Wird Russisch als lingua franca aus Osteuropa nach dem Ukrainekrieg genauso verschwinden wie das Deutsche in Mittelosteuropa nach dem Holocaust? Das fragt sich Sabine Berking in einem taz-Essay: "Wird es nach Mariupol und Butscha möglich sein, Gedichte auf Russisch zu schreiben? ... Welche Rolle wird das Russische nach dem Krieg in der Welt, in der Kultur noch spielen? Wird es, wie der in der Schweiz lebende Schriftsteller Michail Schischkin hofft, eine Stunde null für die russische Gesellschaft geben? Wird man außerhalb Russlands diese schöne, reiche Sprache auch weiterhin erlernen wollen? ... Russisch hat seine Unschuld verloren. Nicht nur in der Ukraine bezeichnen sich immer weniger Bürger als russische Muttersprachler, auch in Estland und Lettland, wo eine große russische Minderheit lebt, schwindet das Zugehörigkeitsgefühl zum Land und der Sprache der Herkunft, in Litauen soll Russisch nur noch zweite Fremdsprache in den Schulen werden."
Besprochen wird unter anderem Peter Handkes "Zwiegespräch" (NZZ).
Wird Russisch als lingua franca aus Osteuropa nach dem Ukrainekrieg genauso verschwinden wie das Deutsche in Mittelosteuropa nach dem Holocaust? Das fragt sich Sabine Berking in einem taz-Essay: "Wird es nach Mariupol und Butscha möglich sein, Gedichte auf Russisch zu schreiben? ... Welche Rolle wird das Russische nach dem Krieg in der Welt, in der Kultur noch spielen? Wird es, wie der in der Schweiz lebende Schriftsteller Michail Schischkin hofft, eine Stunde null für die russische Gesellschaft geben? Wird man außerhalb Russlands diese schöne, reiche Sprache auch weiterhin erlernen wollen? ... Russisch hat seine Unschuld verloren. Nicht nur in der Ukraine bezeichnen sich immer weniger Bürger als russische Muttersprachler, auch in Estland und Lettland, wo eine große russische Minderheit lebt, schwindet das Zugehörigkeitsgefühl zum Land und der Sprache der Herkunft, in Litauen soll Russisch nur noch zweite Fremdsprache in den Schulen werden."
Besprochen wird unter anderem Peter Handkes "Zwiegespräch" (NZZ).
Film

Startups, die so richtig scheitern und die Menschen mit sich in den Abgrund reißen, und andere millionenschwere Betrügereien - solche "Grifter Stories" sind nach dem TrueCrime-Hype das aktuelle große Ding in der Serienproduktion. Beispiel "The Dropout" von Hulu über Elizabeth Holmes und ihr Blutanalyse-Startup Theranos, das einst mit wundersamsten Versprechungen an den Markt ging, teilweise in Milliardenhöhe gehandelt wurde, dann aber mangels funktionierender Geräte, die allerdings schon im Einsatz waren, kläglich scheiterte und fortan die Gerichte beschäftigte. "Obwohl Holmes immer wieder versucht, sich so darzustellen, als wäre sie durch die äußeren Umstände, durch Finanzinvestoren und Risikokapitalunternehmen zum Betrug verleitet worden, zeigt die Serie überzeugend das Gegenteil", schreibt Charlotte Szász in der Welt. Die Serie "spielt mit allen üblichen Hollywood-Klischees des missverstandenen Genies, nur um dann den Vorhang zurückzuziehen und zu enthüllen, dass Holmes nicht nur unbeholfen, sondern auch dumm, gemein und peinlich ist." Und Holmes spielt "immer wieder die Empowermentkarte aus. Frauen müssten in dieser männerdominierten Welt besonders lernen sich durchzusetzen. Und obwohl das natürlich stimmt, öffnen sich ihnen dafür Türen durch leere Anklagen. Sie benutzen den Feminismus als diskursive Waffe gegen die Benachteiligung, um sich selbst beim Verkauf ihres inhaltslosen Produktes Vorteile zu verschaffen." Im Freitag bespricht Dorbila Kontic die Serie und das "Grifter"-Phänomen. Die Serie basiert außerdem auf einer gleichnamigen Podcast-Reportage.
Besprochen werden Robert Eggers' "The Northman" (ZeitOnline, BLZ, Tsp, mehr dazu bereits hier), Gaspar Noés Sterbedrama "Vortex" mit Dario Argento (NZZ), Peter Brunners diese Woche in Österreich startender "Luzifer" mit Franz Rogowski (Presse), Catherine Corsins "In den besten Händen" (SZ, Tsp) und Julian Fellowes' Serie "The Gilded Age" (taz).
Bühne

Weiteres: Antonia Mundig erkundet für das Van Magazin das Mecklenburgische Staatstheater in Schwerin. Besprochen wird Oliver Frljićs Inszenierung "Dantons Tod / Iphigenie" am Gorki Theater (nachtkritik).
Musik
Das eben eröffnete Museum of Modern Electronic Music in Frankfurt hat (zugunsten der eigenen Stadt) glatt die Geschichte von Techno in Ost-Deutschland unterschlagen, ärgert sich Victor Sattler in der FAZ. In den zu Technobunkern umgewidmeten Industriebrachen des Ostens "war das Provisorische so sehr Ästhetik wie Folge der Umstände", die das Projekt TreuhandTechno derzeit an der Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft untersucht. "Bereits im amerikanischen Detroit, wo der Techno-Begriff 1988 erstmals aufkam, reagierte das Genre auf die Tristesse eines untergehenden Industriestandortes. Das Krisennarrativ bekam eine ostdeutsche Prägung."
Wer die Gegenwart verstehen will, muss den Hardcore-Punk der Achtziger (und die dem entsprungenen Bewegungen) kennen, schreibt Andreas Bernard in der SZ, nachdem er sich via Zoom lange mit Ian MacKaye, einem der Masterminds der damaligen Bewegung, Gitarrist bei der stilbildenden Band Fugazi und mit seinem Label Dischord Records noch immer tätig ist. "An einem Frühstückstisch morgens nach einem Fugazi-Konzert war schon 1988 kein tierisches Produkt zu finden. Plastikmüll wurde vermieden. Und die kürzlich wiedervereinigte Band Bikini Kill, deren Bassistin Kathi Wilcox mit dem anderen Fugazi-Sänger Guy Picciotto verheiratet ist, löste zur gleichen Zeit die 'Riot Grrl'-Bewegung aus, die Urszene des neuen Feminismus. Untrennbar verknüpft mit dieser selbstfürsorglichen, konsequent antisexistischen Ethik in einer männlich dominierten Punk-Welt war in der Hardcore-Szene ein unternehmerischer Geist, ein Wille zur Herstellung eigener Kommunikationsstrukturen, die nur, wie Ian MacKaye im Gespräch betont, durch eine 'strong work ethic', durch unbezahlte, selbstausbeuterische Arbeit möglich wurde." Die Doku "Salad Days" wirft einen Blick auf die Geschichte von MacKayes Label, das den Hardcore-Punk entscheidend geprägt hat und seitdem die Musikszene Washington D.C.s dokumentiert:
Außerdem: Anlässlich des Record Store Days, der morgen wieder begangen wird, blickt Konstantin Nowotny im Freitag auf den anhaltenden Vinyl-Hype, den die Musikindustrie gerade nach allen Regeln der Kunst mit immer weiter steigenden Preisen melkt. Bei seinem ersten Konzert ohne Einschränkungen fühlt sich Hannes Soltau vom Tagesspiegel noch ziemlich unwohl.
Besprochen werden das Debütalbum von DJ Travella, dessen ekstatisch-schnelle Singeli-Musik tazler Johann Voigt ziemlich mitreißt, Fontaines D.C.s "Skinty Fia" (Pitchfork), eine Lied-CD der Sopranistin Golda Schultz (SZ), Craig Browns Buch "One Two Three Four" über die Geschichte der Beatles (FAZ) und eine Kollaboration der Plastik Beatniks, eines neuen Projekts der Acher-Brüder, mit dem Hörspielautor Andreas Ammer und Leo Hopfinger zu Ehren des Beatnik-Dichters Bob Kaufman (taz). Wir hören rein:
Wer die Gegenwart verstehen will, muss den Hardcore-Punk der Achtziger (und die dem entsprungenen Bewegungen) kennen, schreibt Andreas Bernard in der SZ, nachdem er sich via Zoom lange mit Ian MacKaye, einem der Masterminds der damaligen Bewegung, Gitarrist bei der stilbildenden Band Fugazi und mit seinem Label Dischord Records noch immer tätig ist. "An einem Frühstückstisch morgens nach einem Fugazi-Konzert war schon 1988 kein tierisches Produkt zu finden. Plastikmüll wurde vermieden. Und die kürzlich wiedervereinigte Band Bikini Kill, deren Bassistin Kathi Wilcox mit dem anderen Fugazi-Sänger Guy Picciotto verheiratet ist, löste zur gleichen Zeit die 'Riot Grrl'-Bewegung aus, die Urszene des neuen Feminismus. Untrennbar verknüpft mit dieser selbstfürsorglichen, konsequent antisexistischen Ethik in einer männlich dominierten Punk-Welt war in der Hardcore-Szene ein unternehmerischer Geist, ein Wille zur Herstellung eigener Kommunikationsstrukturen, die nur, wie Ian MacKaye im Gespräch betont, durch eine 'strong work ethic', durch unbezahlte, selbstausbeuterische Arbeit möglich wurde." Die Doku "Salad Days" wirft einen Blick auf die Geschichte von MacKayes Label, das den Hardcore-Punk entscheidend geprägt hat und seitdem die Musikszene Washington D.C.s dokumentiert:
Außerdem: Anlässlich des Record Store Days, der morgen wieder begangen wird, blickt Konstantin Nowotny im Freitag auf den anhaltenden Vinyl-Hype, den die Musikindustrie gerade nach allen Regeln der Kunst mit immer weiter steigenden Preisen melkt. Bei seinem ersten Konzert ohne Einschränkungen fühlt sich Hannes Soltau vom Tagesspiegel noch ziemlich unwohl.
Besprochen werden das Debütalbum von DJ Travella, dessen ekstatisch-schnelle Singeli-Musik tazler Johann Voigt ziemlich mitreißt, Fontaines D.C.s "Skinty Fia" (Pitchfork), eine Lied-CD der Sopranistin Golda Schultz (SZ), Craig Browns Buch "One Two Three Four" über die Geschichte der Beatles (FAZ) und eine Kollaboration der Plastik Beatniks, eines neuen Projekts der Acher-Brüder, mit dem Hörspielautor Andreas Ammer und Leo Hopfinger zu Ehren des Beatnik-Dichters Bob Kaufman (taz). Wir hören rein:
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