Efeu - Die Kulturrundschau

Das Ausmaß dessen, was passiert ist

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11.04.2022. In der NZZ beschreibt der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow, wie die russische Truppen zerstören, ohne zu kämpfen. Regisseur Kirill Serebrennikow prophezeit den Russen ein grauenvolles Erwachen aus ihrer Verblendung. SZ und FAZ fragen nach Jossi Wielers Salzburger "Lohengrin"-Inszenierung bang, ob Elsa von Brabant vielleicht doch ihren Bruder ermordet hat. Die NZZ und taz huldigen dem knackigen Indierock der britischen Wet Leg. Außerdem trauern die Feuilletons um den Schauspieler Uwe Bohm, dessen Energien so ungebändigt und unverbildet erschien. 
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.04.2022 finden Sie hier

Literatur

In der NZZ setzt Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. In der 33. Folge berichtet er von langen Schlangen vor Drogerien, dem allgemeinen Medikamentemangel und dass nur Bewegung gegen die Kälte in Zimmern mit entglasten Fenstern hilft. In der 34. Folge geht es um die Wehmut, die ihn angesichts zerstörter Gebäude aus seiner Kindheit packt. "Das, was die Russen jetzt mit uns machen, nennt man 'kontaktlose Kriegsführung', was bedeutet, dass man langsam aber sicher gewinnt, ohne zu kämpfen. Einfach ausgedrückt: Wenn man mit seinen Panzern nichts mehr ausrichten kann, nimmt man die Panzer aus dem Spiel und beginnt, feindliche Städte und Ortschaften zu zerstören und sie nach und nach in eine Mondlandschaft zu verwandeln, zusammen mit allen militärischen und zivilen Kräften. Dann rückt man mit seinen Panzern vor und schnappt sich diese bezaubernden Mondlandschaften, mit denen keiner mehr etwas anfangen kann."

Auf ZeitOnline spricht Miranda Cowley Heller, die zu HBOs Glanzzeiten über die Drama-Sparte wachte, über ihren Debütroman "Der Papierpalast", in dem es um die Sexualität von älteren Frauen geht - und wie die Gesellschaft diese tabuisiert. "Liebesgeschichten mit Frauen über 50 existieren kaum, diese Frauen scheinen nach wie vor unsichtbar zu sein, ausgetrocknet, vom Winde verweht. Stattdessen feiern wir altmodische Romanzen. ... Meine Großmutter bekam ihre Kinder in ihren frühen Zwanzigern. Als sie 60 wurde, hielt auch ich sie für eine alte Frau. Heute bin ich selbst so alt, lese in Zeitschriften, dass die Fünfziger die neuen Vierziger sind. Unsere Kultur verjüngt sich, die Altersmarkierungen verschwinden, aber langsam und nicht überall gleichzeitig. Viele meiner Freundinnen sind komplexe, unabhängige, laute, sexuelle Frauen in ihren Fünfzigern und Sechzigern, die eigentlich die Welt regieren sollten. Aber es kommt noch nicht in Filmen und in der Literatur an."

Außerdem: Nach einer "Leipziger Debatte" zum Thema "Anthropozän" mit zehn Diskutanten stöhnt Andreas Platthaus in der FAZ: "Diese Leipziger Anthropozehn stellten selbst eine Ressourcenverschwendung dar." Gerrit Bartels schreibt im Tagesspiegel über Orte, an denen man Bücher liest. In der FAZ erinnert Christian Geyer-Hindemith an den Schriftsteller Carl Amery, der vor 100 Jahren geboren wurde. Björn Hayer schreibt auf ZeitOnline zum Tod des Dichters Franz Mon.

Besprochen werden unter anderem Gisela von Wysockis "Der hingestreckte Sommer" (Jungle World), Sven Hanuscheks Biografie über Arno Schmidt (FR), N.K. Jemisins "Die Wächterinnen von New York" (FAS), Wole Soyinkas "Die glücklichsten Menschen der Welt" (Zeit) und die Debütromane von Slata Roschal und Elina Penner, die sich darin mit der russlanddeutschen Identität auseinandersetzen (online nachgereicht von der FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Michael Lentz über Franz Mons "unsere tägliche kühlung vergib uns nie wieder":

"gelbnase fadensonne beidhändig genadelter phosphor im
kernschatten
füttert sein achsenlicht..."
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Bühne

Der russische Regisseur Kirill Serebrennikow ist wieder in Berlin. Im Interview mit Susanne Lenz glaubt er nicht, dass die russische Kultur boykottiert werden sollte oder überhaupt könnte. Aber die Ukrainer, die er kennt, votieren ja auch eher für eine Pause, sagt Serebrenniko. Und: "Dieser Krieg, an dessen Möglichkeit weder ich noch einer meiner Freunde geglaubt haben, wird für uns alle viel Zerstörung bringen. Er zerstört unsere Schicksale, unsere Leben - auch wenn das nicht vergleichbar ist mit dem, was in der Ukraine passiert, wo die Städte zerstört werden, wo Menschen umgebracht werden. Die Ukrainer werden ihr Land wieder aufbauen, sie werden als Nation einig sein. Und die ganze Welt hilft ihnen. Aber die Russen erwartet nichts als Grauen und Schmerz, wenn sie das Ausmaß dessen erkennen, was passiert ist."

Lumpenritter oder lässiger Held: Richard Wagners Lohengrin. Foto: Ruth Waltz / Osterfestspiele Salzburg

Intellektuell und emotional gepackt wurde Helmut Maurò in der SZ von Jossi Wielers "Lohengrin"-Inszenierung bei den Salzburger Osterfestspielen, mit Christian Thielemann am Dirigentenpult: "Der Retter Lohengrin, dargestellt vom amerikanischen Tenor Eric Cutler, ist kein strahlender Heldentenor, agiert mit dunklerem Timbre und selten im Fortissimo. Er ist auch kein strammer Soldat, sondern ein langhaarig-lässig herumschlendernder Hippie, der über seiner blechernen Rüstung ausgebeulte zerrissene Khaki-Hosen trägt und oben Schlabbershirt mit Wams. Weiche Schale, harter Kern. Elsa ist hingerissen: 'Als eine Blume auf der Wiese wollt ich mich beugen deinem Tritt.' So weit kommt es nicht. Als eigentliche Heldin haben die Inszenierenden aber Ortrud vorgesehen. Sie verkörpert nicht mehr nur die rachsüchtige, machthungrige Ehefrau, sie ist nun vor allem ein stabiler Gegenpol zur immer irrationaler agierenden Politik. Volk und Soldateska sind ohnehin längst in schiere Glaubensreiche abgedriftet." Auch in der FAZ findet Florian Amort Jossi Wielers Deutung nicht abwegig, nach der Elsa von Brabant doch ihren jüngeren Bruder Gottfried ermordet hat, um selbst an die Macht zu kommen." Tsp-Kritikerin Kirsten Liese sieht in dem Abend vor allem einen Triumph für Thielemann, der sich damit nach zehn Jahren als Künstlerischer Leiter der Osterfestspiele verabschiedet. Dem Standard-Kritiker Ljubisa Tosic ist der Lohengrin zu verulkt: "Er wirkt jedoch wie ein Mix aus Aquaman und Lumpenritter. Er könnte aus einem Sketch von Monty Python kommen."

Weiteres: Im Interview mit Witold Mrozek spricht der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch über sein Theaterstücke "Der Bulle", in dem er das schlesisch-historische Gedächtnis zur Sprache bringt, das sich vom deutschen wie auch vom polnischen stark unterscheidet.

Besprochen werden Nuran David Calis' dokumentarisches Stück über die Morde von Mölln am Kölner Schauspiel (Nachtkritik, taz), Tschaikowskis "Pique Dame" bei den Osterfestspielen in Baden-Baden (die FAZ-Kritiker Jan Brachmann sängerisch hevorragend findet, aber inszenatorisch stinkend "wie ranzige Butter"), Leonie Böhms Inszenierung "König Teiresias" frei nach Sophokles am Theater Basel (Nachtkritik), Tod Machovers Kammeroper "Schoenberg in Hollywood" in der Wiener Volksoper (Standard), die Revue "Himmlische Zeiten" im Fritz Rémond Theater Frankfurt (FR) und die Richard-Wagner-Ausstellung im DHM Berlin (Welt).
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Film

Der Schauspieler Uwe Bohm ist überraschend im Alter von 60 Jahren gestorben. Bekannt wurde er als kleiner Junge in der Hauptrolle von Hark Bohms "Nordsee ist Mordsee", in den letzten Jahren war er vor allem im "Tatort" zu sehen. Er war "war ein Kraftschauspieler aus sich selbst heraus", schreibt Christine Dössel in der SZ, die vor allem von Bohm als Theaterschauspieler in der Zadek-Familie schwärmt. "Er hatte etwas Ungeschliffenes, Unverbildetes, ungebändigt Energetisches. Mit seinen schwarzen Knopfaugen stierte er in Weiten und Abgründe, vor denen andere erschrecken. Er hatte diesen irren Blick, gerahmt von vollem schwarzem Haar, der ihn vor allem im Fernsehen zum Bösewicht prädestinierte, meist einem sehr charmanten, dem nicht nur Frauen verfallen." Auch Harry Nutt sinniert in der FR vor allem über Bohms Physiognomie: "Vor jeder Zuschreibung, die seine Erscheinung durch Drehbuch und Rolle erhielt, fiel er auf durch sein Gesicht. Sinnlich, sommersprossig, undurchdringlich. Letzteres war es wohl auch, was Uwe Bohm für die Rolle des Ganoven prädestinierte. Oft war er vor der Kamera einer, der zu kalter Gewalt fähig ist, ein norddeutscher Mafioso, dann aber auch wieder ein zärtlich-zerbrechlicher Typ. Bohms Kapital als Schauspieler war seine Wandlungsfähigkeit, die er weniger aus Rhetorik oder Bewegung erzielte, sondern aus den Augenwinkeln heraus zu steuern vermochte."

Dem österreichischen Film droht ein Produktionsstop im Laufe des Jahres, berichtet Dominik Kamalzadeh von einer Diskussion während der Diagonale in Graz: "Der Grund für die plötzliche Dramatik: Die im Wirtschaftsministerium angesiedelte Förderschiene Filmstandort Austria (Fisa) hat ihre jährlichen Mittel von 7,5 Mio. Euro für 2022 bereits im ersten Quartal komplett ausgeschöpft. Ohne dieses Cash-Rebate-Modell, bei dem 25 Prozent der Ausgaben rückerstattet werden, könnten heuer bis zu 20 bereits durchfinanzierte Produktionen nicht realisiert werden."

Weitere Artikel: In der Welt packt Elmar Krekeler das blanke Grausen, als er sich deutsche TV-Serien der Achtziger wieder zu Gemüte führt. Besprochen werden Jacques Audiards "Wo in Paris die Sonne aufgeht" (Tsp, unsere Kritik hier), der dritte Teil der "Fantastische Tierwesen"-Reihe (TA), die Sky-Serie "Somebody Somewhere" (taz) und die ARD-Serie "Euer Ehren" (FAZ).
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Kunst

In der Berliner Zeitung feiert Maritta Tkalec ausgiebig, dass Walter Womackas DDR-Liebling "Am Strand" wieder in das Haus des Malers in Lodin auf Usedom  zurückkehrt.

Besprochen werden die Whitney-Biennale in New York (SZ), die aus München übernommen Ausstellung der Schweizer Künstlerin Heidi Bucher im Kunszmuseum Bern (NZZ), die Raffael-Ausstellung in der National Gallery (FAZ) und die Ausstellung "Freundschaftsanfrage No. 1", für die der Fotograf Hans-Christian Schink seine Werke mit Beständen des Von-der-Heydt-Museums in Wuppertal verbindet (FAZ).
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Stichwörter: Raffael

Musik

Im Standard-Interview spricht sich Nikolaus Bachler, Leiter der Salzburger Festspiele, im Hinblick auf Valery Gergiev und Anna Netrebko für mehr Gelassenheit aus, auch wenn er seine ersten Statements in der Debatte, als er sich über den Umgang mit den beiden noch gepfeffert echauffierte, etwas relativiert. Gergievs Entlassung "war wahrscheinlich war die einzig mögliche Reaktion, ob es auch die einzig richtige war, weiß ich nicht. Wir leben in einem demokratischen Rechtsstaat, eigentlich kann nur ein Gericht ein Berufsverbot aussprechen. Die Vorgangsweise halte ich weiterhin für problematisch." Und er findet, "eine Sängerin, die wahrscheinlich die prominenteste im ganzen Klassikmarkt ist, kann man nicht ausgrenzen. Grundsätzlich nicht. Netrebko ist keine Politikerin, sie ist nicht Teil der russischen Nomenklatur. Weil sie Russin ist, hat man sich mit ihr geschmückt."

Im Indierock wurde schon lange keine Band mehr so gehypt wie die Newcomer Wet Leg - nicht zuletzt, weil der Youtube-Algorithmus es mit dem britischen Duo ziemlich gut meinte. Gehypt werde zurecht, meint Ueli Bernays in der NZZ: Die Single "Chaise Longue" etwa "entpuppte sich als selten knackiger Ohrwurm: als ein eingängiges Lied im Post-Punk-Stil. Dazu passte der absurde, in lakonischem Sprechgesang vorgetragene Text im Sinne britischer Selbstironie." Für die taz hat sich Stephanie Grimm mit der Band zum Gespräch mit der Band verabredet. Die beiden Musikerinnen "wirken so zugänglich wie uneitel, angenehm frei von Sendungsbewusstsein. ... Zitierfähiges kommt bei dem so vergnüglichen wie unergiebigen Interview allerdings kaum heraus - was erfrischend wirkt, in Zeiten, wo Künstler*innen sich fast schon verpflichtet zu fühlen scheinen, Abgründe zu beackern: die privaten (Identitätswirren! Psychische Beschädigungen!) ebenso wie die politischen (Klimawandel! Konflikte!). Wet Leg blicken lieber nonchalant auf ihre eigene überschaubare Welt."



Besprochen werden ein Prokofjew- und Schostakowitsch-Abend mit dem DSO (Tsp), ein Frankfurter Konzert des Ensembles Reflektor (FR), Jack Whites Album "Fear of the Dawn" (Standard) und die Aufnahme einer Münchner Aufführung von Verdis "Messa da Requiem" durch den Chor und das Orchester des BRs unter Riccardo Muti aus dem Jahr 1981 (FAZ).
Archiv: Musik