Efeu - Die Kulturrundschau

Ahnung des Unerhörten

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09.04.2022. Bombastisch gut findet Artechock die Eröffnungsrede des Direktorenduos der Wiener Diagonale, die aller "Message-Kunst" und Boykottaufrufen eine Absage erteilte. Die nachtkritik amüsiert sich mit Kathrin Rögglas Klimasatire "Wasser". Die FAZ besucht das  Theater der Bergarbeiter in Senftenberg. Die SZ unterhält sich mit Karl Ove Knausgård über dessen neuen Roman "Der Morgenstern". Zeit online lauscht der poetisierten Realität von Kae Tempest. Die taz reist zu einer Ausstellung belarusischer Künstler ins polnische Białystok.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.04.2022 finden Sie hier

Film

Völlig hin und weg ist Rüdiger Suchsland von Artechock von der Eröffnungsrede des Direktorenduos der Wiener Diagonale, das sich von "Message-Kunst" klar distanzierte - diese "nannten wir die längste Zeit Propaganda" - und Boykottaufrufen eine Absage erteilte: "Künstler werden ausgeladen oder aus Akademien ausgeschlossen. Der unselige Zeitgeist trifft den Krieg", sagten Peter Schernhuber und Sebastian Höglinger. "Es ist eine Tatsache, dass Krieg immer auch mit den Mitteln der Kulturindustrie geführt wird. Verwechseln wir dies jedoch nicht mit verkürzter Bekenntniskultur. Setzen wir Kunst und Kultur nicht mit Politik gleich. Zumindest nicht, wenn uns noch etwas an einer freien Gesellschaft gelegen ist." Das findet Suchsland "bombastisch! ... Es war toll und angemessen und tat ungemein gut, das so zu hören. Das alles negiert den ganzen Schmäh, den unsere deutsche Kunst- und Medienszene vor allem aus eigener Eitelkeit und Nachher-Besserwisserei auf uns alle ungefragt ausgekübelt hat. Besser kann man es nicht sagen. In Deutschland wäre dergleichen leider undenkbar."

Die Zeit der kernigen Actionhelden ist endgültig vorbei, seufzt Andreas Scheiner in der NZZ: Nicht nur, weil Bruce Willis nun auch abgedankt hat, sondern auch, weil seit knapp 20 Jahren keiner mehr in die USA blickt, um sich von dort Lebensstil und Coolness abzuschauen. Wenn, dann sehnt man sich nach "postnationalen Weltenretter. Und da boten sich die Superhelden aus den Comicbüchern an. ... Die Männer in den Feinripphemden vermögen es kommerziell nicht aufzunehmen mit den nun angesagten Strumpfhosen- und Cape-Trägern. Vielleicht stellten diese auch einfach den logischen nächsten Evolutionsschritt dar: Zunächst schrumpften die machistischen Muskelberge der achtziger Jahre zu heroischen Normalbürgern, und als Nächstes nahm der Actionheld die Gestalt eines schmalbrüstigen Jugendlichen wie Spider-Man an".

Außerdem: In der taz erinnert sich der Filmemacher Gerd Conradt an seine Videoarbeiten im Westberlin der Achtziger. Claus Löser berichtet im Filmdienst vom Filmfestival Vilnius, das ganz im Zeichen des Kriegs in der Ukraine stand. Sedat Aslan berichtet auf Artechock von einer Münchner Tagung zum Thema "Diversität im Film". Als Folge des Ohrfeigeneklats wird Will Smith für zehn Jahre von den Oscargalas ausgeschlossen, melden die Agenturen.

Besprochen werden Jacques Audiards "Wo in Paris die Sonne aufgeht" (Artechock, FAZ, unsere Kritik), Alexander Koberidzes "Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?" (Artechock, mehr dazu hier), Matthew Bissonnettes "Death of a Ladies' Man" (Jungle World, unsere Kritik), Michael Showalters Biopic "The Eyes of Tammy Faye" für das Jessica Chastain einen Oscar gewann (Tsp), Richard Linklaters auf Netflix gezeigter Film "Apollo 10 1/2" (Presse), Hong Sang-soos "Introduction" (Standard), die Apple-Serie "Slow Horses" mit Gary Oldman (Freitag) und David Yates' "Phantastische Tierwesen - Dumbledores Geheimnisse" (Artechock).
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Kunst

Rebecca Belmore, Prototype for ishkode (fire), 2021. Foto: Whitney Biennale
Nach einigen Skandälchen und Corona ist die Whitney Biennale zu neuem Leben erwacht, freut sich in der Welt Hannes Stein, der in der Neuausgabe einen wunderbar vielfältigen Überblick über die amerikanische Gegenwartskunst erhält. Was für ihn vielleicht daran liegt, dass "kaum einer der in der Whitney Biennale von 2022 vertretenen Künstler weiß, männlich und heterosexuell". Am stärksten berührt hat Stein die Skulptur, "ishkode (fire)" der "Kanadierin Rebecca Belmore, die zum Volk der Asnishinaabe gehört. Eine menschliche Gestalt; eine Gestalt, die aus einem Schlafsack geformt ist, als hätte sie sich ihn umgeworfen. (Bei genauem Hinsehen besteht dieser Schlafsack aus gehärtetem Ton, und innen steckt niemand.) Die Schlafsackgestalt schreitet, sie geht irgendwohin. Und umgeben ist sie von Patronenhülsen und von Kupferdraht, die diese Hülsen zusammenhalten. Das ist alles. Ganz einfach - und so monumental wie eine Barlach-Skulptur. Was Rebecca Balmore da gestaltet hat, ist die Figur des Überlebenden; und natürlich spielt es keine Rolle, ob der einsame Mensch, der da schreitet, ein amerikanischer Ureinwohner oder einer der Bewohner von Butscha ist, der irgendwie Putins Mördern entkam."

Jan Helda, Granica i czas. Niepewność granicy, 2019 video 1'19'', dwa obiekty, wymiary zmienne

Julia Hubernagel ist für die taz ins polnische Białystok gereist, direkt an der Grenze zu Belarus, wo belarusische Künstler in der Galeria Arsenał (und bald auch in der Leipziger Gfzk-Galerie) Werke ausstellen, für die sie in ihrer Heimat verhaftet würden: "Doch die Grenze nach Polen ist nicht nur für Belarus:innen schwer zu überwinden. Zwischen den beiden Ländern wächst ein dichter Wald, der als eines der letzten verbliebenen Urwaldgebiete Europas gilt. Wegen neuer Krisen fast vergessen, irren darin immer noch schlecht ausgerüstete Geflüchtete umher, die Lukaschenko aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan einfliegen ließ, um die Europäische Union unter Druck zu setzen. Wie viele dort noch ausharren, ist unklar. ... Einer der belarussischen Künstler hat sich der Situation in den Grenzwäldern angenommen. Der in Berlin lebende Jura Shust fügt in seiner Videoarbeit Drohnenaufnahmen des polnischen Grenzschutzes und Handyvideos von Geflüchteten nahtlos aneinander. Die Aufnahmen sprechen für sich: Geflüchteten, die sich in den Wäldern behelfsmäßig Unterschlüpfe bauen, deplatziert, gefangen in einem Konflikt zwischen Ost und West."

Hier ein Video von Shust:



Besprochen werden außerdem eine Ausstellung über Italien "zwischen Sehnsucht und Massentourismus" im Kunstmuseum Oskar Reinhart in Winterthur (NZZ), die Ausstellung "Heidi in Israel. Eine Spurensuche" im Jüdischen Museum in München (FAZ) und die Ausstellung "Rache. Geschichte und Fantasie" im Jüdischen Museum in Frankfurt am Main (FAZ).
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Literatur

Hochamt im Feuilleton: Karl Ove Knausgård veröffentlicht mit "Der Morgenstern" einen neuen Roman. Besprechungen gibt es in taz, FAZ und Tagesspiegel. Im Original erschien der Roman schon vor anderthalb Jahren und ist Knausgård seitdem etwas fremd geworden, gesteht er im SZ-Interview Thomas Steinfeld. Die deutsche Ausgabe fasst 900 Seiten, geplant ist erneut ein mehrteiliger Zyklus. "Ich will ja, dass die Atmosphäre des Buches von einer Ahnung des Unerhörten durchdrungen wird, dass das andere gegenwärtig ist, auch wenn der Abwasch gemacht wird oder die Windeln gewechselt werden. Zugleich kann das Unerhörte nicht etwas Bestimmtes sein. Und es kommen theologische Spekulationen in diesem Buch vor, über Gott und den Teufel oder darüber, ob der eine nicht der andere ist, mitten im gewöhnlichen Leben. Das muss in der Schwebe gehalten werden, und dafür braucht es Platz." Von Knausgårds Lesung in Frankfurt berichtet Marcus Hladek in der FR.

In einer kurzen Notiz in der SZ denkt die ungarische Schriftstellerin Noemi Kiss über ihr Heimatland nach und warum es vor allem die Landbevölkerung ist, die Orban erneut an die Macht gewählt hat. "In einer patriarchalen Autokratie, wie es das zeitgenössische Ungarn ist, ist es für eine Schriftstellerin noch einmal einen Hauch komplizierter, die Spielregeln zu verstehen. Es hilft, immer daran zu denken, dass Viktor Orbán ein Dorfmensch ist. Ein Majoratsherr mit gut gefülltem Bauch aus dem 19. Jahrhundert. Bauch ist Herrschaft und Herrschaft bedeutet Landgut und Reichtum. Reichtum wird begrüßt und bejubelt - und immer wieder gewählt. Besonders dann, wenn der Reichtum verteilt wird. Orbáns Spitzname ist Robin Hood, weil er vor Wahlen gerne EU-Gelder verteilt. Wo er auftritt, gibt es viel zu essen und zu trinken."

Außerdem: Die NZZ setzt Sergei Gerasimows Kriegstagebuch aus Charkiw mit der 32. Lieferung fort. In den Actionszenen der Weltliteratur erinnert Gisela Trahms daran, wie Robert Walser einmal, nachdem er "Der Woche" für einen Roman eine horrende Summe in Rechnung stellte, die diese nicht begleichen wollte, einen Tobsuchtsanfall gegenüber seinem Chef bekam: "Sie Kamel verstehen überhaupt nichts von Literatur!" Katrin Hörnlein berichet in der Zeit von einer Initiative, die Kinderbücher für geflüchtete Kinder drucken will. Sandra Kegel (FAZ) und Marie Schmidt (SZ) schreiben Nachrufe auf den Dichter Franz Mon. Andreas Platthaus gratuliert in der FAZ dem Schriftsteller Richard Wagner zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Eva Vitijas Dokumentarfilm "Loving Highsmith" über das Liebesleben von Patricia Highsmith (SZ, Tsp), Fran Lebowitz' Essayband "New York und der Rest der Welt" (Standard), Imre Kertészs "Heimweh nach dem Tod. Arbeitstagebuch zur Entstehung des 'Romans eines Schicksallosen'" (SZ), Delphine de Vigans "Die Kinder sind Könige" (FR), Aisha Franz' Comic "Work-Life-Balance" (Tsp), Reinhard Kaiser-Mühleckers "Wilderer" (taz), Alina Bronskys "Schallplattensommer" (Tsp) und Jean Kyoung Fraziers "Pizza Girl" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

"Wasser". Foto: Sebastian Hoppe


In Kathrin Rögglas Klimasatire "Das Wasser", in Dresden von Jan Gehler uraufgeführt, findet nachtkritiker Michael Bartsch den ganzen Witz, der das Thema überhaupt erst erträglich macht. "Zunächst werden wir wie in einem Exposé mit der 'Flut' konfrontiert, mit der konkreten Erfahrung des Flusses im Wohnzimmer, der zuvor eine Straße war. Wie in Sachsen 2002, wo die Autorin zum Stück recherchiert hat. Die erste halbe Stunde läuft ein chorisch oder verteilt gesprochener Monolog eines prototypischen Bürgers, der es im Wortsinn ausbaden muss. Adressat ist das Publikum, beim Vorrücken der Gruppe an die Rampe beinahe attackiert, oder sind anonymer 'die da oben', an die man jegliche Verantwortung delegieren kann. 'Wir hätten es wissen können, wenn man uns Bescheid gesagt hätte!' Dieser blockartige Auftritt löst sich in lose Rollen auf, Voraussetzung für köstliche Parodien der immer schuldlosen Verantwortungslosigkeitsträger, aber auch des Durchschnittsspießers." Dass das funktioniert und nicht überheblich wirkt, liegt für Bartsch daran, wie Kathrin Röggla "in einer Art von weisem Sarkasmus Äquidistanz zu allen" hält: "Auch die modernen Prophetinnen und Propheten des Untergangs müssen Spott einstecken."

Niemand ist perfekt, aber als Bergmann ist man verdammt nah dran. Foto: Steffen Rasche


Wie ganz konkret Theater von der Realität "da draußen" erzählen kann, wenn es denn will, erlebt auch Kevin Hanschke (FAZ) im Theater der Bergarbeiter in Senftenberg, wo Oliver Bukowskis Stück "Der Sohn" die jüngere Transformationsgeschichte der Lausitz am Beispiel einer Familie erzählt: "Dabei geht es um Arbeitslosigkeit und Abstiegsangst, Wandel und Stagnation. Aber am Ende tritt Elon Musk als Erlöser auf. Dass in diesem Stück die ostdeutsche Gegenwart verhandelt wird, mit all ihren Brüchen, Problemen und Widersprüchen, wird schon vor der Vorstellung klar. Vor dem Senftenberger Theater, der 'Neuen Bühne', hat sich das Publikum versammelt und wartet auf den Einlass. Es wird über die steigenden Benzinpreise diskutiert, der Ukrainekonflikt gestreift und in Aussicht gestellt, was das für die Kohleindustrie bedeutet."

Besprochen werden Christoph Marthalers "Der letzte Pfiff - ein Drehschwindel" am Theater Basel (nachtkritik), eine neue "Fledermaus", inszeniert von Joseph E. Köpplinger am Münchner Gärtnerplatztheater (nmz), Jerry Bocks Musikkomödie "Liebesbrief nach Ladenschluss" in Annaberg-Buchholz (nmz) und Katja Wolfs Inszenierung von "Himmlische Zeiten" im Frankfurter Rémond-Theater (FR).
Archiv: Bühne

Musik

Das neue Album "The Line is a Curve" von Kae Tempest "macht bestehende Realitäten greifbar, indem es sie poetisiert", schreibt Johann Voigt auf ZeitOnline. Es gehe um Ängste, um "wwige Selbstsuche, verfasst in klaren Sprachbildern." Für Distanz sorge der Sound. "Er bleibt verschleiert durch hintergründig lärmende Synthesizer, analog eingespielte, leicht entrückte Drums sowie Piano- und Gitarrensprengsel, die in ihrer Schönheit schon wieder nach Karikatur klingen." Außerdem die Stimme: "Kein klebriger Autotune, kein Vocoder, keine Verzerrung. Tempests Stimme erzeugt Intimität durch Natürlichkeit, wird mal von den Instrumentals übertönt, kämpft sich wieder hervor, ist mal brüchig, prescht dann wieder laut los. Auch solche unregelmäßigen Wellenbewegungen erzeugen Realität."



Weitere  Artikel: Aida Baghernejad spricht für den Tagesspiegel mit der Hamburger Sängerin Zoe Wees, die zwei Jahre nach ihrem Debüt ein internationales Publikum vorweisen kann. Eva Oer wirft für die taz einen Blick auf den American Song Contest.

Besprochen werden das neue Album von Calexico (Standard), eine Aufführung von Bachs Matthäuspassion des Collegium Vocale Gents unter Philippe Herreweghe (Standard), der neue Song von Pink Floyd (SZ, mehr dazu hier) und das Debütalbum des Indieduos Wet Leg (Tsp, Pitchfork).

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