Efeu - Die Kulturrundschau

Diese Angst ist real

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.02.2022. Wie verhält es sich jetzt mit den "gut verdienenden Klassikrussen", die mit Putin klüngeln, aber vom westlichen Kulturpublikum bejubelt werden, fragt die Welt. Die SZ geht derweil der Frage nach, weshalb gerade unter den Kostgängern westlicher Freiheiten zahlreiche Putinfreunde zu finden sind. In der taz erzählt der Regisseur Andreas Merz-Raykov, weshalb sich Künstler in Russland lieber gleich selbst zensieren. Die NZZ verkündet einen Paradigmenwechsel im Streit um die Sammlung Bührle. SZ lernt in sechs Museen in Paris, wie aus Mode ein bisschen Kunst wird. Und ZeitOnline beamt sich mit Fishbach für einen Moment aus der Gegenwart weg.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.02.2022 finden Sie hier

Musik

Wie verhält es sich jetzt mit den "gut verdienenden Klassikrussen" wie Valery Gergiev und Anna Netrebko, die vom westlichen Kulturpublikum bejubelt werden, aber mit Putin küngeln, fragt sich Manuel Brug in der Welt. "Soll es jetzt also, parallel zu wirtschaftlichen Sanktionen, auch kulturelle Sanktionen gegen den Aggressor Russland? Werden seine Kulturbotschafter in Mitleidenschaft gezogen werden? ... Und wie werden sich die Münchner Philharmoniker verhalten, wo Valery Gergiev ab dem 17. März neuerlich mit Bruckners 8. Sinfonie am Pult erwartet wird?"

ZeitOnline-Rezensent Maximilian Sippenauer greift das neue Album "Avec les Yeux" von Fishbach derweil dankbar auf, um sich einfach für einen Moment aus der Gegenwart wegzubeamen, nämlich in eine "gute alte Zeit", die auf diffuse Weise möglichst weit vor dem Jahr 2020 liegt: "Fishbach hyperaffimiert diese Sehnsucht. Avec les Yeux klingt nach der besten alten Zeit. Nach Glam-Rock, New Wave und Chanson. ... Die Künstlerin lässt ihr Schlagzeug so fern hallen, als trommelte da jemand in einer Airbus-Fabrikhalle. Darüber schlängeln und züngeln sich Gitarrensolos, rostig und schneidend wie ehedem bei Whitesnake. Außerdem schallt, was die Sounddatenbank an verrückten Instrumenten hergibt: E-Cembalo, E-Panflöte, E-Kuhglocke."



Außerdem: Im - noch vor der russischen Invasion - geführten VAN-Gespräch spricht Anna Stavychenko, die Intendantin des Kyiv Symphony Orchestras, über ihre Sorgen angesichts Putins Aggressionen. In der Zeit fragt sich Can Dündar, ob die türkische Popmusik-Opposition Erdoğan zu Fall bringen kann, nachdem sich nun auch der populäre Sänger Tarkan in einem Song fast eindeutig gegen ihn positioniert hat. Hartmut Welscher plaudert für VAN mit der Dirigentin Joana Mallwitz über deren sagenhaften Erfolg in den letzten fünf Jahren. Albrecht Selge befasst sich in VAN mit Hanns Eislers spätem Lied "XX. Parteitag". Im Standard spricht der Rapper Mavi Phoenix über seine Transition von einer Frau zum Mann. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Kevin Hanschke über "Der blaue Planet" von Karat. In der NZZ gratuliert Christian Wildhagen dem Geiger Gidon Kremer zum 75. Geburtstag. Für die FAZ porträtiert Rasmus Peters die beiden "Wunderkinder" Alma Deutscher und Laetitia Hahn. Und in seiner VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker hier über Chaya Arbel und dort über Antje Vowinckel.

Besprochen werden das neue Casper-Album "Alles war schön und nichts tat weh" (Freitag), das Comeback-Album "The Zealot Gene" von Jethro Tull (Standard), ein Filmkonzert des Tonhalle-Orchesters zu Fritz Langs Stummfilm "Nibelungen" (NZZ), ein Auftritt von Oksana Lyniv in Wien (Standard) und Sasamis Metalalbum "Squeeze" (taz).
Archiv: Musik

Literatur

"Im Schock hilft immer - immer! - die Literatur", ruft Nils Minkmar in der SZ und umkreist in einem schwermütigen Essay die Frage, wie es kommt, dass gerade unter den Kostgängern westlicher Freiheiten zahlreiche Putinfreunde zu finden sind. "In seinem Memoirenband 'Erinnerung, sprich' beschreibt Nabokov, wie er während des Studiums in Cambridge vergeblich versucht, liberale Intellektuelle vom wahren Wesen Lenins zu überzeugen. Gerade seine gebildeten und kunstsinnigen Freunde, mit denen er sich in Debatten über Literatur so gut verstand, gaben, wenn es um Russland ging, die 'erstaunlichsten Dummheiten' von sich. ...Wir Schlafwandler, die wir Kafka, Montaigne und Nabokov verehren, wir müssen nun für die Zukunft unserer Kinder sorgen: Nie wieder darf ein einzelner Mensch über eine solche Macht verfügen."

Außerdem: Die taz spricht mit dem ugandischen Schriftsteller Kakwenza Rukirabashaija, der nun im deutschen Exil angekommen ist, nachdem er in seiner Heimat Ende vergangenen Jahres verhaftet und wochenlang gefoltert wurde, weil er den Präsidenten seines Landes und dessen Sohn beleidigt haben soll. Im Kulturpodcast des Dlf Kultur sprechen die Autorin und Übersetzerin Isabel Bogdan und der Verleger Sebastian Guggolz über den Kampf der Übersetzer für mehr Sichtbarkeit.

Besprochen werden unter anderem Omar Shahid Hamids Spionageroman "Verrat" ("eine aufregende neue Stimme aus der vermeintlichen Peripherie", schwärmt Thomas Wörtche im Dlf Kultur), Natasha Browns "Zusammenkunft" (FR), Ingo Schulzes Essay "Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte" (Freitag) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Květa Pacovskás "Mondgespräche" (SZ).
Archiv: Literatur

Film

In den letzten Jahren wird in der Filmbranche immer häufiger auch mal vor Gericht gestritten, wenn es um Nachzahlungen zu besonders erfolgreichen Filmen geht. Im klassischen Hollywood hätte man über sowas nur müde gelächelt, schreibt Tobias Kniebe in der SZ in seinem Abriss über die Geschichte der Verhandlungen, was den Vertragswert von Schauspielern betrifft. Wer grundsätzlich Gewinnbeteiligungen will, sollte vielleicht auch über grundsätzliche Verlustbeteiligungen nachdenken, meint er. Früher galt immerhin für alle, die hoch hinaus wollten, "eine beinah sprichwörtliche Grundregel: Richtig Geld macht man nie mit dem ersten großen Hit. Es ist immer erst der nächste Film, bei dem in den Vertragsverhandlungen die Kasse klingelt, und das Angenehme dabei ist, dass dieser nächste Film auch floppen kann. So wenig, wie man als Filmschaffender am ersten Erfolg finanziell beteiligt war, so wenig wurde man für den Flop, der irgendwann folgen konnte, abgestraft. Das war, ungefähr seit Erfindung des Kinematografen, der 'Deal'."

Außerdem: Matthias Lerf spricht im Tagesanzeiger mit Kenneth Branagh über dessen neuen Film "Belfast", der auch heute breit besprochen wird (Zeit, FAZ, SZ, Welt, unsere Kritik hier).

Besprochen werden Josephine Deckers "Über mir der Himmel" (Tsp, unsere Kritik hier), Andrey Arnolds dokumentarischer Essayfilm "Cow" (Freitag), das Sportdrama "King Richard" mit Will Smith (Welt), die auf Arte gezeigte Prostitutionsserie "Red Light" (FAZ), Kaouther Ben Hanias "Der Mann, der seine Haut verkaufte" (Standard), Christian Schäfers "Trübe Wolken" (Tsp), Nadav Lapids "Aheds Knie" (Standard) und die Neuausgabe der "Fraggles" (Freitag),
Archiv: Film

Bühne

Der Regisseur Andreas Merz-Raykov, der auch schon in Russland gearbeitet hat, inszeniert derzeit am Berliner Theater TD Davide Enias Roman "Schiffbruch vor Lampedusa". Im taz-Gespräch mit Astrid Kaminski erklärt er, wie weit politisches Theater in Russland möglich ist: "Man muss anders politisch sein, viel mit Blitzableitern und Flaschenpost arbeiten. Die Schauspieler:innen sind handwerklich fantastisch ausgestattet, haben in der Breite hervorragende Qualitäten; was ich in Russland im Theater jedoch massiv erlebt habe - auch in anderen Staaten des Ostens -, ist Selbstzensur. Diese unglaubliche Angst: Wenn wir das oder jenes machen, bekommen wir weniger Geld. (…) Diese Angst ist real: Ich habe einmal ein Theater mit einer Inszenierung von Shakespeares 'Was ihr wollt' in den Ruin getrieben. Das war noch nicht einmal wirklich politisch, aber es ging, weil das im Stück eben so ist, um fluide Sexualität. Im Publikum saß die Kulturministerin von Krasnojarsk, das ist in Zentralsibirien, und sie fand die Darstellung homosexuellen Begehrens unmöglich. Daraufhin musste das Theater die gesamte Fördersumme zurückzahlen. Vieles läuft über Geld."

Im nachtkritik-Gespräch über Kunstfreiheit erklärt der Jurist Jens Kersten, wie Gerichte oft um den Kunstbegriff ringen und wie neutral staatlich geförderte Kunst sein muss: "Prinzipiell muss man zwischen dem Kunstwerk und der Institution unterscheiden. Die Kunst ist frei. Ein Theaterstück darf gegen die AfD gerichtet sein. Insofern gelten die allgemeinen Schranken der Kunstfreiheit, wie beispielsweise das Persönlichkeitsrecht. Staatliche Institutionen hingegen haben einen festgeschriebenen Widmungszweck: ein staatliches Theater beispielsweise, Theaterstücke aufzuführen. Das Theater kann diesen demokratisch gesetzten Widmungszweck nicht einfach umdefinieren und sagen: Wir sind jetzt ein Anti-AfD-Theater. Das würde das parteipolitische Neutralitätsgebot staatlicher Institutionen verletzen. Aber selbstverständlich bleibt es auch staatlichen Institution, also zum Beispiel einem staatlichen Theater, vollkommen unbenommen, sich für die Menschenwürde und gegen Rassismus, für Toleranz und Demokratie zu engagieren. Denn dies sind Verfassungswerte, die wiederum alle staatlichen Institutionen und eben auch staatliche Theater verpflichten."

Besprochen werden Matthias Hartmanns Inszenierung von Tschaikowskys Oper "Pique Dame" in der Mailänder Scala (SZ), Guy Weizmans Inszenierung von Anne Carsons "Bitch, I'm a Goddes" am Staatstheater Hannover (nachtkritik) und Evgeny Titovs Inszenierung von Strindbergs "Der Vater" am Staatstheater Wiesbaden (FAZ).
Archiv: Bühne

Design

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

Ein Beitrag geteilt von Jean-Paul Audouy (@roodoodoo974)


Wenn das Modedesign in die heiligen Hallen der Kunstmuseen abwandert - wie jetzt in Paris zu sehen, wo sich eine Yves-Saint-Laurent-Schau über gleich sechs Häuser verteilt (unser Resümee) -, dann vollzieht das Modedesign nach, was der Kunst seit der Renaissance gelang: sich vom schnöden Handwerk abnabeln, kommentiert Catrin Lorch in der SZ. "Es ist die Aura des Genies, des einsamen Künstlers, die auf das Label abstrahlen soll. Und die gibt es nur im Kunstmuseum. Ein so außergewöhnlicher, hochbegabter Designer wie Yves Saint Laurent hat zu Lebzeiten bei aller Arroganz nie beansprucht, Künstler zu sein." So bleibe in Paris "bei aller Euphorie eben auch unübersehbar: Piet Mondrians so reduzierte, blaupausenflache Gemälde stellen sich nach einem knappen Jahrhundert im Museum ihren Nachbarn aus Impressionismus, Fauvismus, Expressionismus immer noch mit schlichter Kühle in den Weg. Sie sind ein neuer Entwurf des Sehens und Fühlens. Mondrian wusste, dass wenn diese Reduktion gelingt, die Verhältnisse neu gemischt werden. Und die so ähnlichen Linien und Farbflächen auf dem Kleid sind eben doch nur ein Muster. Gemacht für Schaufenster, Boulevards oder Restaurants."

"Ein fantastisches Vergnügen" ist diese Ausstellung aber eben doch, schreibt Tanja Rest ebenfalls in der SZ und unterstreicht: "Es schadet einem Picasso-Cape des Göttlichen nicht, wenn es neben einem echten Picasso hängt und von ihm ein klein wenig zurechtgestutzt wird. Sie sind ja auch keine Zwillinge, sondern entfernte Verwandte." Eindrücke der Ausstellung finden sich unter diesem Instagram-Hashtag.

Besprochen wird außerdem Konstantin Grcics Ausstellung "New Normals" im Berliner Haus am Waldsee (FAZ, mehr dazu bereits hier).
Archiv: Design

Kunst

Mit den Augen der Künstlerin Jenny Holzer schaut Alexandra Wach (FAZ) im Kunstmuseum Basel noch mal ganz neu auf Louise Bourgeois. Dort nämlich hat Holzer, die mit Bourgeois befreundet war, eine Hommage mit dem Titel "The Violence of Handwriting Across a Page" inszeniert: "Jenseits der omnipräsenten Textbilder begegnet man … Kissenstapeln mit Gobelinmustern und einem an die Künstlerin adressierten Briefumschlag mit dem Absender The White House Washington, dessen Rückseite die Zeichnung eines am Haken hängenden Penis offenbart. Da wäre auch noch eine klaustrophobische Landschaft mit eierförmigen Erhebungen, eine Art fleischige Tropfhöhle, die den vielsagenden Titel 'The Destruction of the Father' trägt. Außerdem hybride, im häuslichen Territorium gefangene Marmorskulpturen, genannt 'Femmes Maisons'. Sie sind alles andere als heimelig. Überhaupt die Frauen. Ihre malträtierten Körper bluten, beim Gebären und beim Sex. Wenn sie es nicht tun, fristen sie auf einem Felsen aus Holz das Dasein einer nackten Eremitin, wie in der souverän das bildhauerische Vokabular beherrschenden Skulptur 'Topiary' von 2005, die einem Miniaturfrauenkörper einen surrealen Zapfenkopf entwachsen lässt."

In der NZZ atmet Thomas Ribi auf: Die Stiftung Bührle hat die Verträge öffentlich gemacht, in denen festgelegt wird, zu welchen Bedingungen die Kunstsammlung von Emil Georg Bührle als Dauerleihgabe im Kunsthaus Zürich gezeigt wird. (Unsere Resümees) Für Ribi ist das nicht weniger als ein "Paradigmenwechsel": Zum einen sei es nicht üblich, private Verträge öffentlich zu machen, zum anderen wird das Kunsthaus im neuen Vertrag verpflichtet, die Richtlinien der Washingtoner Konferenz von 1998 und der Erklärung von Theresienstadt (2009) anzuwenden: "Ein so klares Bekenntnis zu den heute geltenden Richtlinien im Umgang mit Raubkunst und Fluchtgut hatte man von der Stiftung Bührle bisher noch nicht gehört. Die Verantwortung für Abklärungen über die Herkunft von Bildern liegt nun in erster Linie beim Kunsthaus. Es wird sich der Aufgabe stellen müssen und kann sich nicht mehr darauf berufen, dass ihm die Hände gebunden seien. Die Stiftung kann nach wie vor eigene Provenienzforschung betreiben, aber sie kann das Kunsthaus nicht daran hindern, Untersuchungen anzustellen."

Hannah Höch war weit mehr als nur Dadaistin, lernt Christian Schröder im Tagesspiegel in der Ausstellung "Abermillionen Anschauungen" im Berliner Bröhan-Museum, das vor allem das surrealistische, expressionistische und konstruktivistische Werk der Avantgarde-Künstlerin würdigt: "Manche ihrer Werke wirken wie Science-Fiction. Die 'Symbolische Landschaft III' (1930) zeigt eine lebensfeindliche, rot glühende Wüste, in der stachelige Pflanzen aufragen. Im Vordergrund liegt eine puppenhafte Frau, deren Bauch zwei Babys entsteigen. Das Gemälde erinnert an die wuchernden Phantasielandschaften von Max Ernst. Höch sieht in ihm einen 'Seelenverwandten', schreibt ihm in einem Brief, dass der Surrealismus für sie 'der Faden' geworden sei, 'der allein durch alle Wirrnisse hielt'."

Außerdem: In der Berliner Zeitung gratuliert Ingeborg Ruthe dem Maler Konrad Knebel zum Neunzigsten. In der FR berichtet Ingeborg Ruthe vom Rechtsstreit um Alfons Muchas "Slawisches Epos", das bis zum Jahr 2026 ein Museum in Prag bekommen soll. Besprochen werden die Ausstellung "New Normals" mit Werken von Konstantin Grcic im Berliner Haus am Waldsee (FAZ) und die Ausstellung "100 Jahre Paul Flora. Von bitterbös bis augenzwinkernd" im Karikaturenmuseum in Krems an der Donau (FAZ).
Archiv: Kunst