Efeu - Die Kulturrundschau

Tempi, Themen, Tonlagen

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14.08.2021. Wenige Künstler stellen Kinder so authentisch dar wie Yoshitoma Nara, stellt Hyperallergic in L.A. fest und blickt auf Kinder, die Botschaften sprengen und auf Hitlers Kopf stehen. In der taz befürchtet Stephan Erfurt, dass es am Ende gar kein Bundesinstitut für Fotografie geben wird. Die NZZ feiert die Unberechenbarkeit des Filmfestivals in Locarno.  Die SZ tanzt mit Patricia Kopatchinskajas "Dies Irae"-Projekt in Salzburg ein verrückten Totentanz zu Krieg und Klimakrise.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.08.2021 finden Sie hier

Kunst

Bild: Yoshitomo Nara, Peace of Mind, 2019, © Yoshitomo Nara 2019, photo by Keizo Kioku, courtesy of the artist. Collection of Andrew Xue.

Nur wenigen Künstlern ist es gelungen, Kinder so authentisch darzustellen wie Yoshitoma Nara, erkennt Tara Yarlagadda (Hyperallergic) beim Besuch des Los Angeles County Museums of Art, das aktuell die bisher größte Ausstellung des japanischen Künstlers zeigt: "In Naras Welt vermitteln Kinder ein breites Spektrum menschlicher Emotionen, das von gelassener Süße bis hin zu glühender Wut reicht. In einigen seiner Porträts zum Beispiel winken uns verschlafen aussehende süße Kinder mit geschlossenen Augen zu. In anderen Werken starrt das Kind mit weit aufgerissenen Augen den Betrachter mit einem hohlen, fast beunruhigenden Blick direkt an. Und in einem dunkleren Gemälde wird die Wut des Kindes heftig, als es in einer Hand ein Messer in Richtung einer Katze schwingt, während es in der anderen eine Bombe hält. (…) Auf Gemälden aus den 1990er-Jahren sprengen Kinder Botschaften gegen die nukleare Aufrüstung, eine Reflexion über das damals wachsende nukleare Wettrüsten und Naras eigene Erziehung im Japan nach dem Zweiten Weltkrieg. In einem grafischeren Gemälde steht ein Kind auf Hitlers Kopf, was Naras eigene Antikriegs- und Antifaschismus-Haltung widerspiegelt."

Im taz-Gespräch mit Thomas Winkler erklärt Stephan Erfurt, Leiter des C/O Berlin, weshalb er kaum noch fotografiert und warum die deutsche Fotoszene dringend das Bundesinstitut für Fotografie braucht, egal ob in Düsseldorf oder Essen: "Ich mache mir Sorgen, dass das Institut über die Standortfrage gerade zerredet wird. Und dass in Coronazeiten und nach der kommenden Wahl eine Umwertung stattfindet und die Politik sagt, wir müssen erst einmal bestehende Institutionen retten. Man muss sehen: Die leitenden Player, die das damals durchgesetzt haben, der Oberbürgermeister von Düsseldorf und der Politiker, der im Haushaltsausschuss des Bundestags die Millionen für Düsseldorf durchgesetzt hat, die sind alle schon wieder raus aus der Politik. (...) Es gibt eine große Not bei den Fotografen, die nicht wissen, was mit ihren Archiven passieren soll."

Außerdem: Für die FAZ hat Barbara Catoir Young-Jae Lee, die Leiterin der Keramischen Werkstatt Margarethenhöhe in Essen besucht. Ebenfalls in der FAZ berichtet Andreas Platthaus von einem Berliner Diskussionsabend zu "Kolonialrassismus in Feiningers Karikaturen" in der Galerie Parterre: "Auftritt Kien Nghi Ha, Kulturwissenschaftler und eine Instanz der deutschen 'Asian Diasporic Studies'. Schon im Katalog seien ihm die von Feininger verwendeten Stereotypen bei der Darstellung von Chinesen aufgefallen, doch der Besuch in der Galerie Parterre selbst habe ihm nun noch viel mehr und Drastischeres vor Augen geführt. Das fehle aber im Katalog ebenso wie eine Thematisierung der kulturpolitischen Brisanz von Feiningers Karikaturen. Könne man das nicht eine bewusste Verharmlosung nennen? Eine solche Frage zu stellen heißt, sie zu bejahen." Der Tagesanzeiger bringt eine sehr schöne Fotostrecke des Schweizer Fotografen Andrea Garbald.
Archiv: Kunst

Literatur

Rudolf Walther legt in der taz die Hintergründe des sensationellen Céline-Funds in Frankreich dar (unser Resümee). Kurz gesagt: Wie immer geht so etwas nicht ohne kleinteiligen Streitereien über die Bühne. Für die Zukunft stellt der Kubikmeter an Blättern eine Herausforderung dar: "Die Céline-Ausgabe in der Pléiade-Reihe muss gründlich überarbeitet werden und die wüsten Pamphlete Célines aus den 30er Jahren harren der kritischen Kommentierung und Interpretation. Die Debatte darüber, wie damit umzugehen sei, dass Céline ein genialer, avantgardistischer Sprachvirtuose und gleichzeitig ein ganz ordinärer Antisemit und Antikommunist war, wird ohne Zweifel in eine neue Runde gehen - trotz der bereits fast unübersehbaren Literatur dazu."

Weitere Artikel: Gregor Dotzauer liest für den Tagesspiegel die neue Ausgabe der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter. Antonio Fian verbeugt sich im Standard mit einem Dialog an die Entencomicsübersetzerin Dr. Erika Fuchs, über die beim BR noch ein schönes Radiofeature von Markus Metz und Georg Seeßlen online steht. Arno Widmann erinnert in der FR an den vor 250 Jahren geborenen Schriftsteller Walter Scott. Im "Literarischen Leben" der FAZ porträtiert Jürg Altwegg den Schriftsteller und Übersetzer Georges-Arthur Goldschmid.

Besprochen werden unter anderem Esther Kinskys Gedichtband "FlussLand Tagliamento" (SZ), Emma Clines Erzählband "Daddy" (Zeit), Katharina Volckmers Debütroman "Der Termin" (Tagesspiegel), Una Mannions "Licht zwischen den Bäumen" (FR), Mary Millers Erzählungsband "Always Happy Hour" (taz), Sergej Lebedews Krimi "Das perfekte Gift" (taz), Michael A. Meyers Biografie über den Rabbiner Leo Baeck (Welt) und Roberto Andòs "Ciros Versteck" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

In Locarno geht der erste Filmfestivaljahrgang unter dem neuen Leiter Giona A. Nazzaro zu Ende, die NZZ resümiert: Dessen erster Wettbewerb "wusste mit geradezu perfektem Risk-Management zu überzeugen", findet Andreas Scheiner. "Facettenreicher geht's kaum": Mystisch angehauchtes Slow Cinema, Brachialhumor, zurückhaltendes Arthauskino. "Tempi, Themen, Tonlagen - von einem Extrem wechselte es ins andere", so war "hier für jeden etwas dabei. Aber am besten, klar, ging man überall rein. Denn in ihrer Unberechenbarkeit, in ihren stilistischen Brüchen bereitete diese Filmauswahl das größte Vergnügen. Übergeordnete Themen setzte der Wettbewerb weniger, aber das störte nicht. Die Selektion geriet trotzdem nicht beliebig. Denn die Filme verband ein Sinn für Ästhetisches. Verglichen mit Chatrian oder Hinstin, so hat man den Eindruck, legt Nazzaro größeren Wert aufs Kinohandwerk. Bei ihm zählt nicht nur die Idee, sondern auch die saubere Ausführung." Für Urs Bühlers Geschmack hingegen gab es auf der Piazza Grande spürbar zu wenig Komödien, aber viel zu viele Actionfilme im Angebot, sodass er glatt eine Bleivergiftung fürchtet.

Für die Literarische Welt hat der Schriftsteller Peter Stephan Jungk den Dokumentarfilmer und TV-Porträtisten Georg Stefan Troller in der Normandie besucht, wo er demnächst seine ersten 100 Jahre voll macht. Seine fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen entstandenen "Pariser Journale" und "Personenbeschreibungen" sind Legende, ein Schatz, den das Fernsehen aus unerfindlichen Gründen bis heute nicht via Mediathek hebt (hier immerhin eine Playlist auf Youtube). Damals herrschten für kluge Köpfe noch bessere Zeiten: "Beim ZDF hat man mich mich in Ruhe meine Sachen machen lassen, über 22 Jahre hinweg. Büro, Schneideraum, meine Sekretärin, die ich übrigens später geheiratet habe - alles in Paris in der Rue Goethe." Sehnsucht nach einer internationalen Karriere hatte er hingegen nie, er hatte vielmehr "Europasehnsucht. Amerikamüdigkeit. Heimweh."

Weitere Artikel: Bitter findet es Claudius Seidl in seinem FAZ-Nachruf auf Peter Fleischmann, dass der kürzlich verstorbene Autorenfilmer (unser Resümee) heute nur noch Experten ein Begriff ist - dabei "haben seine Filme einen Sog, eine Spannung, eine Unangestrengtheit, die dem jungen deutschen Film sonst eher fremd war." Für die taz wirft Fabian Tietke einen Blick ins Programm der Filmreihe "Chaos und Aufbruch - Berlin 1920|2020" des Berliner Zeughauskinos. Ebenfalls im Berliner Zeughauskino läuft eine Reihe mit Filmen des japanischen Regisseurs Takahisa Zeze, die uns Robert Wagner auf critic.de empfiehlt. Und das hier hatten wir vor ein paar Tagen im Tagesspiegel übersehen, weisen aber gerne nachgereicht darauf hin: Susanne Kippenberger lässt sich vom Filmemacher Adolf Weidemann seinen Ruhrpott zeigen.

Besprochen werden Siân Heders auf Apple gezeigter Gehörlosenfilm "Coda" (FAZ, mehr dazu hier), Ferdinando Cito Filomarinos für Netflix gedrehten Thriller "Beckett", der dieses Jahr das Filmfestival von Locarno eröffnete (FAZ), Michel Francos mexikanischer Thriller "New Order" (Filmbulletin), Daryl Weins und Zoe Lister-Jones' "How it Ends" (Jungle World), der Dokumentarfilm "Wem gehört mein Dorf?" über einen Streit mit einem Investoren auf Rügen (Freitag, Welt) und die Netflix-Serie "My Unorthodox Life" (Presse).
Archiv: Film

Bühne

Szene aus "Fräulein Julie". Bild: Arno Declair
Weit mehr als einen "packenden, gut gespielten Psychothriller" erlebt taz-Kritikerin Katja Kollmann in Timofej Kuljabins Inszenierung von August Strindbergs "Fräulein Julie" am Deutschen Theater. Der russische Regisseur macht aus der Menage a trois ein Quartett, indem er Julie den Kontrollfreak und Ex-Lover Thomas an die Seite stellt - und aus dem Stück auch dank Olev Golovkos Bühnenbild eine Parabel über die Verbindung von Kontrolle und Macht, so Kollmann: "Selten ist Überwachung so sinnlich dargestellt worden. Aus diesem Grund ist der Blick auf die Bühne beklemmend und interessant zugleich. Wohin richten sich die Augen? Auf die Realität in der Küche? Auf das Video, das einen zum Teil der Überwachung macht? Oder auf Thomas, der so selbst zum Überwachten wird? Eigentlich ist das Publikum in der Position eines totalitären Sicherheitsapparats." "Man kann sich den Abend als Psycho-Krimi und Mann-Frau-Komödie mit etwas guilty-pleasure-Bewusstsein gut anschauen", meint indes Nachtkritikerin Jorinde Minna Markert, die sich allerdings eine "Neubetrachtung des misogynen Kerns des Stücks" gewünscht hätte. "Eine emotional überdrehte Affären-Zimmerschlacht", winkt Peter Laudenbach in der SZ ab.

Außerdem: In de FAZ schreibt Andreas Rossmann zum 100. Geburtstag von Giorgio Strehler und zum 65. Todestag von Bertolt Brecht. Besprochen wird Barry Koskys Inszenierung von Brechts "Dreigroschenoper" am Berliner Ensemble ("Sein Brecht ist entbeint, aber die Knochen glitzern", meint Manuel Brug in der Welt, weitere Besprechung in der Nachtkritik), Ades Zabels neues Neuköllnical im Kreuzberger BKA (Tagesspiegel), das Theaterfestival "Berlin is not am Ring" auf dem Gelände der ehemaligen DDR-Fahrbereitschaft (Tagesspiegel), Bernd R. Bienerts Inszenierung von Christoph Willibald Glucks vergessener Oper "La Corona" im Teatro Barocco auf der Burg Perchtoldsdorf (Standard) und Philipp Preuss' Inszenierung von Tschechows "Onkel Wanja" am Theater an der Ruhr (Nachtkritik).
Archiv: Bühne

Musik

Die Musik und die Klimakrise beschäftigen heute die Feuilletons. In Salzburg führte Patricia Kopatchinskaja ihr "Dies Irae"-Projekt auf - ihre These dazu: Die Kriege der Gegenwart haben ihren Ursprung im Klimawandel. "Zunächst schiebt sie zwei Werke ineinander, die vom Krieg künden", berichtet Egbert Tholl in der SZ: Zunächst "Battalia" von Heinrich Ignaz Franz Biber aus dem Kriegsjahr 1673: "Die Musik ist weitgehend völlig verrückt, imitiert Schlachtenlärm, lässt das Orchester wie Betrunkene lallen, es tost und kracht, ungeheuer modern. Zwischen die Schlachten-Sätze schiebt Kopatchinskaja Teile von George Crumbs 'Black Angels', entstanden während des Vietnamkriegs, ein Totentanz für elektronisch verstärktes Streichquartett, voller höchst surrealer Klangeffekte. ... Barock und Moderne zielen stupend kongruent aufs selbe, die erste Kulmination wird erreicht in Kopatchinskajas eigenem Stück 'Wut', das so klingt, wie es heißt, voller virtuosem Furor. Als klangliches Gegenbild singt daraufhin der MusicAeterna-Chor Antonio Lottis 'Crucifixus', betörend innig und intim."

In der Elbphilharmonie hingegen ließ sich Dave Longstreth für seinen Abend "Song of the Earth in Crisis" von Mahlers "Lied von der Erde" inspirieren, schreibt Gregor Kessler in der taz. "Schnell wird die naheliegende Idee verworfen, dem Versiegeln und Roden, Explorieren und Kontaminieren des Anthropozäns eine kakophonische Entsprechung zu geben. Wer braucht schon ästhetische Dystopie, wenn die reale immer erkennbarer wird? ... Wie das 'Lied von der Erde' gliedert sich die Dramatik des Zyklus in sechs Teile, pendelt zwischen Mahnung, Trauer und Hoffnung. Das Stück sei weniger ein 'Lied über die krisengeschüttelte Erde', sagt Longstreth, als vielmehr 'ein Gebet, dass wir es besser machen, unser Chaos wieder in Ordnung bringen'."

Weitere Artikel: Im Standard blickt Amira Ben Saoud gemeinsam mit der Rapperin Eli Preiss auf die Debatte um #deutschrapmetoo. Andreas Hartmann porträtiert für den Tagesspiegel den Berliner Labelmacher Moritz von Oswald.

Besprochen werden eine Monteverdi-Aufführung unter dem Taktstock des neuen Leipziger Thomaskantors Andreas Reize (NZZ) und DāM-FunKs Album "Above the Fray" (Pitchfork). Wir hören rein:

Archiv: Musik

Architektur

Mindestens so gut wie die Ausstellung im neu eröffneten HC-Andersen-Haus im dänischen Odense gefällt Kai Strittmatter in der SZ das Haus selbst, entworfen von dem japanischen Architekten Kengo Kuma: "Kuma sagt, er sei mit Andersens Märchen aufgewachsen, wie alle Japaner, alle Dänen, alle Deutschen. Es wirkt wie vorsichtig hineingepflanzt ins Zentrum der kleinen Stadt mit ihren engen Gassen und niedrigen Häusern. Ein organischer Bau, ganz ohne Ecken, Kanten, scharfe Winkel, bei dem die von Kumas Mitarbeiterin Yuki Ikeguchi gesetzte Landschaft, die Hecken, der Bambus und das Buschwerk integraler Teil der Architektur sind. Es wächst noch, dieses Haus, und es wird noch in zehn, in fünfzig und in hundert Jahren wachsen.
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