Efeu - Die Kulturrundschau
Nonos Musik kann man nicht singen
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Musik
Weitere Artikel: Im ZeitOnline-Kommentar trauert Nils Erich um die Berliner Clubs als subversive und "potenziell politische Orte". Fabian Goldmann berichtet im Freitag vom Middle East Union-Festival. Lorenz Jäger schreibt in der FAZ zum Tod von Nanci Griffith. Für Pitchfork holt Stuart Berman den The Gun Clubs LA-Punk-Klassiker "Fire of Love" aus dem Jahr 1981 wieder aus dem Plattenregal. Yasmine M'Barek spricht auf ZeitOnline mit Popstar Lizzo über Body Positivity. Mit Cardi B hat sie gerade eine Single veröffentlicht:
Besprochen werden der Auftakt des Lucerne Festivals mit Igor Levit und Riccardo Chailly (NZZ), Beethovens von Riccardo Muti dirigierte "Missa Solemnis" bei den Salzburger Festspeilen (Standard), Vijay Iyers neues Album "Uneasy" (FR), Joy Orbisons Album "Still Slipping Vol. 1" (Pitchfork), ein Aufritt des finnischen Musikers Jimi Tenor in Hamburg (taz), ein Berliner Konzert von David Barenboim mit seinem West-Eastern Divan Orchestra (Tagesspiegel) und Jewgeni Kissins Auftritt in Salzburg (FAZ).
Bühne

Viel zu sehen, aber wenig zu fühlen bekam SZ-Kritikerin Christine Dössel in Martin Kušejs gewaltsexuell aufgeladener Inszenierung von Schillers "Maria Stuart" bei den Salzburger Festspielen: "Elisabeth wirkt im Kreis dieser Macher und Macker von vornherein allein. Zwar hat sie buchstäblich die Hosen an, aber Bibiana Beglau zeigt auch die Verunsicherung und Brüchigkeit ihrer Figur, gibt ihr erstaunlich weiche Momente, lässt sie immer wieder erstarren und um Fassung ringen. Wie sie das gliedersprachlich tut, mit Beglau-typischen Minimalverbiegungen ihres sehnigen Körpers, ist faszinierend, birgt aber auch die Gefahr des Manierierten. Beim Zusammentreffen der beiden Königinnen ist sie erst die kühl sich gebende Domina, erleidet dann aber durch die rotflammende Süffisanz, mit der Maria (Birgit Minichmayr) auftrumpft, eine Niederlage, von der sie sich nicht mehr erholt."
Da sich Kušejs sein "oft dampfendes Machotum" versage, kann Manuel Brug in der Welt das Damendoppel der beiden "herb-majestätischen Schauspielerinnenköniginnen" in vollen Zügen genießen. In der FR fragt sich Judith von Sternburg allerdings, wie frei die beiden Souveräninnen in dieser Inszenierung sind. In der NZZ gibt Bernd Noack gern zu, dass in diesem Jahr die Frauen in Salzburg den Ton angeben: "Und doch wird bei aller der geballten Weiblichkeit wohl eher ein ganz anderes Bild im Gedächtnis bleiben: dreißig nackte Männer!" Weitere Besprechungen in Nachtkritik und Standard.
Im Tagesspiegel-Interview mit Sandra Luzina erklären René Pollesch und Marlene Engel, wie sie sich ihre Arbeit an der Berliner Volksbühne ein Zukunft vorstellen. Pollesch: "Wir wollen die Arbeitspraxis, die wir in mittlerweile zwanzig Jahren erworben haben, auf ein Haus übertragen. Anna Heesen, die schon sehr lange mit uns arbeitet, hat das 'das autonome Zusammenarbeiten Mehrerer, die Autonomie nicht hermetisch denken', genannt. Die vorherrschende künstlerische Autonomieform ist ja, dass ihre Träger:innen beratungsresistent sind. Bei uns zum Beispiel stellen Bühnenbildner:innen Räume her, für die wir ein Stück erfinden, das heißt, es gibt gar keine Möglichkeit für einen Regisseur, sich da auch noch zu verwirklichen und sich anders einzumischen, als darauf zu reagieren."
Gestern hatte auch Luigi Nonos Oper "Intolleranza 1960" Premiere in Salzburg. Besprechungen gibt es noch nicht, aber ein Interview mit Regisseur Jan Lauwers im Standard über Nonos hochpolitisches Musiktheater, die Vulgarität unserer Zeit und den Zorn des Künstlers: "Nono war ein großartiger Komponist. Seine Musik ist viel stärker als seine politischen Botschaften. 'Faschismus' zu schreien ist eine recht einfache Sache. Wenn Nono seine Botschaft mit schwacher Musik unterlegt hätte, dann wäre dieses Werk schon lange in Vergessenheit geraten. Nonos Musik kann man nicht singen, man kann nicht zu ihr marschieren. Der Chor der Wiener Staatsoper ist der erste in der Geschichte, der diese Musik auswendig gelernt hat. Sie haben dafür eineinhalb Jahre gebraucht, es war fast ein Ding der Unmöglichkeit."
Besprochen werden Barbara Freys Eröffnungsinszenierung der Ruhrtriennale von Edgar Allan Poes "Untergang des Hauses Usher" (hinreißend, findet Martin Krumbholz in der Nachtkritik), Barrie Koskys Inszenierung der "Dreigroschenoper" am Berliner Ensemble (die SZ-Kritiker Helmut Mauro zufolge Brechts Episches Theater auf "muntere Unterhaltung schrumpft, in der FAZ bejubelt Simon Strauß sie allerdings als "eine ausgelassene Feier des Lebensspiels"), Morton Feldmans Oper "Neither in Salzburg (SZ), Oliver Reeses Version der Verlier-Ballade "Sarah" am Berliner Ensemble (Tsp) und Neil LaButes Sozialdrama "Fettes Schwein" auf Tirolerisch bei den Volksschauspielen in Telfs (Standard).
Film
Geht diese neue Offenheit für Genre zulasten der Filmkunst? Solche Fragen wurden in Locarno oft diskutiert, berichtet Anke Leweke im Tagesspiegel. Sicher, "dem Publikum sollte Unterhaltung geboten werden - auch im schönsten dialogischen Sinn. Gleichzeitig sprechen aus diesen Filmen persönliche Weltsichten und Visionen, wird implizit auch Politisches verhandelt. Schon seit einiger Zeit lässt sich diese Bewegung beobachten, etwa in dem oscargekrönten südkoreanischen Thriller 'Parasite' von Bong joon-ho, der mit gnadenlosem Blick die Klassenverhältnisse in seiner Heimat seziert. In schöner Beiläufigkeit betreibt auch Edwin Ursachenforschung für die brutalen Exzesse seiner beiden Helden." Artechock-Kritiker Rüdiger Suchsland sah im Gewinnerfilm "die Verschmelzung von Genrekino und individuellem Autorenzugang, von Ernst und Spaß, Lumière- und Meliès-Kino. Die Schönheit von Todesverachtung und Mut, von Motorradfahrten und Martial Arts, von Faustkämpfen und überhaupt Gewalt im Kino geht hier listig zusammen mit Kritik an Machotum und Männlichkeitsritualen."
Das Kino in seiner ganzen Bandbreite war hier zu sehen, schreibt Michael Ranze in der FAZ: Der Wettbewerb war eine "Schau der Extreme, zwischen oberflächlich und vielschichtig, zwischen verrückt und anrührend, zwischen brutal und zärtlich. ... Und dann wieder gab es Filme, die waren einfach kühn in ihrer Erzählhaltung, mutig im Stil, originell in den Bildern, mit Geschichten über starke, aber auch sehr verletzliche Frauen." Als Beispiele nennt Ranze Alexander Zeldovichs "Medea" mit der georgischen Schauspielerin Tinatin Dalakishvili und Natalya Kudryashovas "Gerda" mit Anastasiya Krasovskaya. Außerdem wurde in Locarno der Regisseur John Landis für sein Lebenswerk ausgezeichnet, berichtet sich Isabel Pfaff in der SZ, die allerdings auch etwas schlucken muss: Zwar ist Landis zweifellos eine "Ikone des Kinos", seine Filme aber sind in ihrer anarchischen Ungehobeltheit dann doch eher "Kino von gestern".
Weitere Artikel: Die Schauspielerin Marlee Matlin spricht in der SZ über ihre Arbeit in dem (von Anke Sterneborg besprochenen) Gehörlosenfilm "Coda" (mehr dazu bereits hier). Besprochen werden die israelische Netflix-Serie "Hit & Run" (ZeitOnline), der queere Brandenburger Heimatfilm "Neubau" mit Tucké Royale (ZeitOnline) und die Serie "Heels" (FAZ).
Literatur
Weitere Artikel: Dennis Scheck ist einfach kein Reich-Ranicki, seufzt Magnus Klaue auf ZeitOnline.
Besprochen werden unter anderem Bogdan Wojdowskis im Original ursprüngliche 1971 erschienenen Holocaustroman "Brot für die Toten" (NZZ), Daniela Kriens "Der Brand" und Elke Schmitters "Inneres Wetter" (Freitag), Mathieu Bablets SF-Comic "Shangri-La" (Tagesspiegel), der von Alexander Braun herausgegebene Band mit allen bunten Sonntagsstrips von George Herrimans Comicklassiker "Krazy Kat" (Standard), Sandro Veronesis "Der Kolibri" (Standard), Michael Jansens Reportage "Bilder Levante" (SZ) und eine Hörspiel-Ausgabe von Lizzie Dorons Roman "Who the Fuck Is Kafka" (FAZ).
In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Friedrich Christian Delius über das Gedicht "an einen radiohörer", das er selbst als junger Mann angesichts des Mauerbau geschrieben hat.
"(auf die Frage, wie der 13. August in Zukunft zu begehen sei)
sing vom verschlingenden Plural
von den Orakeln der..."
Kunst

Haben die New Yorker die Uffizien leer geräumt? Überwältigt ist Stefan Trinks in der FAZ von der Renaissance-Schau "The Medici" im Metropolitan Museum, das die Kunstblüte Florenz' zur Zeit der Medici in aller Pracht in Szene setzt: "Sie widmet sich erstmals in dieser Opulenz den Jahrzehnten der nicht nur dem Florentiner Republikaner Michelangelo (der vor ihnen nach Rom floh und dessen spektakuläres Porträt natürlich zu sehen ist) verhassten Alleinherrschaft der Medici, insbesondere jener Cosimos I. de' Medici, der 1537 Herzog von Florenz wurde. Die schleichenden Anfänge dieser Quasidiktatur in Glanz und Gloria werden ebenfalls anhand von Bildern rekapituliert: Nach dem Scheitern der sogenannten Pazzi-Verschwörung, die Lorenzo den Prächtigen sowie seinen Bruder und Mitregenten Giuliano di Piero de' Medici aus dem Weg räumen sollte, schuf der überlebende Lorenzo Fakten und schränkte in diesem Ausnahmezustand immer mehr Freiheitsrechte ein, und zwar nach innen und außen ... bis die Medici Großherzöge der gesamten Toskana waren."