Im Kino

Sibirien ist anderswo

Die Filmkolumne. Von Katrin Doerksen, Jochen Werner
12.02.2020. Abel Ferraras "Tommaso"  mit Willem Dafoe als Alter ego ist Nabelschau eines gemarterten Künstlers, aber auch römisches Licht, nächtliche Gassen und ein Gefühl der Freiheit. Corneliu Porumboius männliches Melodram "La Gomera" führt von den Kanaren nach Bukarest und ins unausweichliche Verderben.


Es gibt eine Szene im Herzen von Abel Ferraras neuem Film, in der die Magie wie auch das Überraschende an ihm aufs Schönste kristallisieren. Willem Dafoe, der den Filmemacher Tommaso spielt, ein einigermaßen offenkundiges Alter Ego Ferraras, ist zu sehen, wie er nächtens die Wohnung verlässt, in der er gemeinsam mit seiner viel jüngeren, russischstämmigen Frau Nikki und der gemeinsamen, dreijährigen Tochter Deedee lebt, um einen auf der Straße herumgrölenden Betrunkenen zu vertreiben. Zunächst fährt er im Fahrstuhl herab, und die brodelnde Wut in seinem Körper machen einen glauben, für die paar Sekunden, die das dauert, einem wilden Tier in einem Käfig zuzusehen. Dann treibt es ihn auf die Straße hinaus, ums Haus herum, die Kamera dicht auf seinen Fersen.

Man kennt das aus den Filmen von Ferrara: die Wut, die Getriebenheit, die stetige Unruhe, die Kamera und Schnitt affiziert und zu Komplizen dieser alles ausbrennenden Fiebrigkeit macht. Man kennt das, aber doch verläuft hier alles anders: Anstatt zu eskalieren, kühlt die Aggression hier rasch ab, als Tommaso sein oben schlafendes Kind erwähnt. Der gerade noch ungehemmt grölende Mann wird plötzlich leise, beginnt zu flüstern, um das Kind nicht zu wecken. Und Tommaso nimmt dieses Angebot zur Schlichtung der Situation an, es entsteht ein Gespräch, gar ein Moment von Nähe zwischen dem vermutlich obdachlosen Trinker aus Pakistan und dem trockenen Süchtigen aus den USA, der in Rom versucht, ein stabiles Leben mit seiner kleinen Familie zu führen. Was voll notdürftig im Zaum gehaltener Wut begann, mündet in eine verblüffend friedvolle Begegnung.

Überhaupt ist dies ein Film, der über weite Strecken von einem in Ferraras Werk ohne Vergleich bleibenden inneren Frieden geprägt ist. Wir begleiten Tommaso durch seinen römischen Alltag - zum Sprach- und Schauspielunterricht, zum Einkauf, zu abendlichen Treffen der Anonymen Alkoholiker -, und bleiben ihm dabei stets ganz nah. In den Augenblicken, in denen er angekommen scheint in diesem Glück, das er am Ende eines getriebenen Lebens wohl selbst am wenigsten erwartet hat. Und in den Augenblicken, in denen er ins Straucheln gerät, immer wieder, in denen das Begehren für andere Frauen ihn übermannt - denn ein "alter weißer Mann", mit allen Lüsternheiten, die diese Zuschreibung so bereithält, das ist Tommaso ganz entschieden auch -; jenen Augenblicken, in denen die Kleinigkeiten des Alltags das labile Glück mit Nikki erschüttern und die alte, mühsam unterdrückte Wut wieder zum Brodeln bringen.



Dies ist also auch ein Film über Angst. Eine Angst, die den Getriebenen erst dann überkommt, wenn er plötzlich merkt, dass er etwas zu verlieren hat. Tommaso hat schon einmal eine Familie gehabt, das erzählt er einmal in seiner AA-Gruppe, in der neben einer Reihe von Laiendarsteller*innen auch Abel Ferrara selbst im Hintergrund den Erzählungen der Gruppenmitglieder lauscht, und da er süchtig war, hat er diese verloren. Die Angst, die ihn nun immer wieder ergreift, ist nicht nur die des Vaters vor dem Tod der Tochter, die in einer schockhaft halluzinatorischen Sequenz wie aus dem Nichts in den Film einschleicht. Es ist auch der nagende Zweifel an der eigenen Fähigkeit, dieses Leben, diesen Frieden auf Dauer zu leben. Immer wieder verschiebt sich die Wirklichkeit der Filmerzählung, oft übergangslos, ins Halluzinatorische, und die Dämonen, die in Tommasos Innerstem unaufhörlich weiterfressen, suchen nach Ausdruck, bis ganz am Ende Wirklichkeit und Alptraum so ineinander verschmelzen, dass ihre Trennschärfe endgültig verloren geht und wir, diesseits der Leinwand, uns nur konsterniert entscheiden können, der hoffnungsvolleren Lesart des Gesehenen unseren Glauben zu schenken und dem sich fortwährend selbst ans Kreuz nagelnden Protagonisten den Frieden eines spät und unerwartet doch noch gelingenden Lebens zu wünschen.

Es gibt einen zweiten Film, der diesen hier immer wieder begleitet, kommentiert, aufbricht und der sich in Form von Storyboards, Regieanweisungen, Stock Footage in ihn einschreibt. Dieser Film spielt im vereisten Sibirien, und Willem Dafoe spielt darin einen einsamen, zurückgezogen lebenden Mann, der sich dem Kampf mit einem Bär stellen muss. Nach jahrelangem Ringen um die Finanzierung existiert dieser Film nun wirklich, er heißt "Siberia" und ist Ende des Monats im Wettbewerb von Carlo Chatrians erster Berlinale zu sehen. Die Dämonen, die Drogen, das Eis, der Bär, der "Tanz der Geister" des deutschen Titels (man könnte meinen, jeder in den deutschen Arthousekinos platzierte Film muss heute klingen wie "Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran") - das sind alles Elemente im selben, introspektiven, letztlich stets auch autobiografischen Kinokosmos von Abel Ferrara, und natürlich ist "Tommaso" letztlich Nabelschau eines gemarterten Künstlers. Die schönsten, berührendsten Momente dieses ungeheuer schönen und tief berührenden Filmes sind jedoch die, die ganz äußerlich bleiben. Das römische Licht, das frische Gemüse im Einkaufskorb, die leeren nächtlichen Gassen, das Versprechen von Freiheit, endlich, das in der Luft zu liegen scheint und das man geradezu riechen kann. Sibirien ist anderswo, hier ist es Frühling, und klar, der Bär liegt auf der Lauer. Aber das ist eine Geschichte für einen anderen Film.

Jochen Werner

Tommaso - Italien 2019 - Regie: Abel Ferrara - Darsteller: Christina Chiriac, Willem Dafoe, Anna Ferrara, Stella Mastrantonio - Laufzeit: 115 Minuten.

***



Ma-ma. Zwei sich gleichende Silben, zwei sich gleichende Pfeiftöne, jeweils am Ende ein bisschen in die Höhe gezogen. Alles, was man sagen kann, kann man auch pfeifen, wenn man "el silbo" beherrscht, eine uralte Pfeifsprache, die auf der Kanareninsel La Gomera entwickelt wurde, um sich über große Distanzen und tiefe Schluchten hinweg zu verständigen. Es braucht die richtige Atemtechnik, stützend aus dem Bauch, dazu einen Finger im Mund, angewinkelt, als hätte man ihn am Abzug einer Pistole. Die Lippen ein wenig nach innen gesogen. Wer nicht eingeweiht ist, hält eine Unterhaltung auf "el silbo" höchstwahrscheinlich für Vogelgezwitscher, was die Sprache zu einem perfekten Code für Kriminelle macht.

Deswegen beginnt der Film mit Cristi (Vlad Ivanov), der auf einer Fähre nach La Gomera sitzt, dazu spielt Iggy Pops "Passenger". Cristi ist ein rumänischer Polizist aus der Drogenfahndung, aber er ist auch korrupt und arbeitet mit den Gangstern zusammen, die er aushebeln soll. Es ist schwer auseinanderzuhalten - und das soll es offensichtlich auch sein - wer in "La Gomera" mit wem paktiert, wer wen überwacht, wer wem vertraut und wer das zu Unrecht tut. In dieser Hinsicht ist der Film ein typischer Neo-Noir. Der das Noir wörtlich nimmt. Der Vorspann steht Weiß auf Schwarz - aber nicht einfach auf einem Insert mit dem Hex-Wert #000000. Sondern auf der mattschwarzen Finsternis, die sich über Cristis Auto senkt, als er in La Gomeras barrancos durch einen Tunnel fährt. In der Bildmitte leuchtet wie eine wage Hoffnung ein Flecken Tageslicht, der Tunnelausgang.

Farben sind wichtig in "La Gomera". Regisseur Corneliu Porumboiu, einer der Protagonisten der Rumänischen Neuen Welle, unterlegt die nach seinen Figuren benannten Kapitelüberschriften mit monochromen Farbflächen. Diese Töne finden sich danach in der Inszenierung wieder. Meist als Wandfarben oder Vorhänge, gelegentlich auch als bläulich-nebliges Licht, dessen geheimnisvoller Schein einen nächtlichen Wald aufglimmen lässt. Aber am wichtigsten sind im Film die Innenräume, immer wieder durch die schlierig-pixelige Optik verborgener Überwachungskameras gefilmt. Die Subjekte in den Räumen wissen, dass sie beobachtet werden und richten ihre Leben sorgfältig nach den Überwachern hinter den Kameras aus.



Bei der visuellen Vielschichtigkeit, die  Porumboiu bei der Inszenierung von La Gomera an den Tag legt, erscheint es wie ein absurder Witz, dass ihn das Alleinstellungsmerkmal im Zentrum des Films kaum interessiert. Ausgerechnet das Element, das das größte Potential für Verwicklungen, Verzögerungen, Übersetzungsfehler, Missverständnisse bereit hielte - das Erlernen von "el silbo" - degradiert er zum bloßen Ornament. Zwei knapp angedeutete Übungsstunden, ein bisschen Schwimmen im Meer um die Lunge zu stärken, ein Probedurchlauf über die Schluchten der Insel hinweg - dann sitzt die Pfeifsprache. Sie wird zum hübschen Detail neben am laufenden Band produzierten Anspielungen auf Klassiker des Gangstergenres, neben den bewusst platzierten Farbflächen und betont ausdruckslosen Gesichtern. Sie macht aus "La Gomera" selbst eine monochrome Tapete, deren Raufaserstruktur einen ganz eigenen, zu entschlüsselnden Code bildet.

Gerade in Anbetracht all dieser Referenzen liegt es nahe, den Film als pastiche-triefende Gangsterkomödie misszuverstehen, die irgendwie cool sein will, selbstironisch augenzwinkernd, meta. Die Einzelteile unter anderen Vorzeichen zu lesen, scheint mir jedoch weiter zu führen: Vlad Ivanovs ausdrucksloses Gesicht, den sorgfältig orchestrierten Einsatz der Farben und Lichter, die traurige Absurdität des Pfeifens, die sparsam eingesetzte Musik. Als männliches Melodram erhält "La Gomera" eine Bitterkeit, die sich viel tiefer ins Bewusstsein eingräbt als eine launige Darreichung an die cinephile In-crowd.

Denn die Kinemathek, in der sich zwei Figuren treffen, um unter dem Gefechtslärm aus John Fords "The Searchers" ihre nächsten Schritte zu vereinbaren, ist offensichtlich so gut wie menschenleer. Das Filmstudio, in dem der finale Showdown stattfinden soll, bleibt leblose Kulisse - und dann verweigert Porumboiu der Kulisse auch noch, zum Ort des tatsächlichen Finales zu werden. Iggy Pops "Passenger" schaut weiter in den Himmel. Ihm bleibt nichts anderes übrig, von der Stadt kriegt er nur die "ripped backside". Ein tristes Bukarest, dessen Häuserschluchten die pfeifenden Figuren noch weiter voneinander zu entfernen scheinen als die Schluchten der Kanareninsel. Alle Transitbewegungen in "La Gomera" - mit der Fähre auf das Eiland und wieder zurück, mit dem Auto die Serpentinen entlang und durch finstere Tunnel, zu Fuß durch ranzige Hausflure, führen immer nur weiter ins Verderben und nie scheint das die Figuren auch nur im Geringsten zu erstaunen. Ob man diese Schablone nun über die Situation in Rumänien legt, auf den Zustand Europas oder auch nur den der Filmindustrie selbst - was bleibt, ist Bitterkeit.

Katrin Doerksen

La gomera - Rumänien 2019 - Regie: Corneliu Porumboiu - Darsteller: Vlad Ivanov, Catrinel Marlon, Rodica Lazar, Agustí Villaronga, Sabin Tambrea, Cristóbal Pinto - Laufzeit: 97 Minuten.