Efeu - Die Kulturrundschau

Im Dickicht irrationaler Wünsche

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14.01.2019. Die FAZ hätte sich ein Bauhaus-Jubiläum gewünscht, das auch an die abgründigeren Seiten der Kunstschule erinnert. Der FR geht in die Knie vor den herrschaftlichen Imponiergesten der Mykener. Die NZZ erkundet die Schönheit japanischer Keramik. Perfektes Handwerk erlebt die SZ in Robert Ickes Inszenierung von Arthur Millers "Hexenjagd" in Basel. Und im Dlf Kultur fordert Maxim Biller von der Literaturkritik echte Argumente oder wenigstens richtiges Bauchgefühl.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.01.2019 finden Sie hier

Kunst

Die Mykener konnten nicht nur imposante Goldmasken, sondern auch hübsche Tiere: Stierfigurinen, 12. Jh. v. Chr., Mykene. Foto: Hellenic Ministry of Culture and Sports

In der FR feiert ein überwältigter Christian Thomas die "sagenhaft reiche" Ausstellung über "Mykene" im Badischen Landesmuseum Karlsruhe, die von Griechenland auch deswegen so großzügig bestückt wurde, weil die badischen Landesmuseen zuvor einige Objekte zurückerstatte hatten. Aber Mykene: "Mit Griechenlands Frühzeit war unsere eigene Vorväterzeit auch deswegen so einverstanden, weil es eine unbedingt kriegerische Zeit war, in der Tugenden wie Tapferkeit und Heldentum monumental groß geschrieben wurden. Dafür stehen die Vielzahl der Schwerter, stoisch, wie sie in den Vitrinen liegen, verlangen sie nicht viel Phantasie, dass die Zeit der Helden eine Ära nicht nur besonnener Herrscher, sondern ausgemachter Schurken war - wie es Homer nun mal nahelegt. Das Ethos richtete sich auf Raub, auf Plünderung, die reale Welt der Bronzezeit basierte auf dem agonalen Prinzip. Männer waren Krieger und Jäger. Es herrschte Konkurrenz, die Konkurrenz war beherrschend, innen- und außenpolitisch. Diese Konkurrenz verlangte nach einem Ausdruck, nach Selbstdarstellung. Die Ausstellung zeigt sehr schön und sehr deutlich, dass es angesagt war zu imponieren. Der tiefere Sinn der Repräsentation lag in der Überwältigung. Augen durften übergehen, Gegner sollten in die Knie gehen."

In der SZ stellt Sonja Zekri die neue "Agentur für Internationale Museumskooperation" vor, die mit acht Millionen Euro im Jahr der Welt zeigen soll, dass nicht nur Frankreich, Russland und Britannien Kultur können: "Die geplante Agentur will unter anderem die Entwicklung einer 'gemeinsamen Marke' der deutschen Museen vorantreiben, große internationale Ausstellungskooperationen befördern, andere Länder, also erst einmal: Afrika, beim Bau oder der Verbesserung von Museen unterstützen, Museumsexperten ausbilden, den Austausch von Kuratoren und Objekten beflügeln und - aber das mehr zwischen den Zeilen - die Restitution beschleunigen."

Weiteres: Im Standard beklagt Wim Wenders die neue Welt der Fotografie: "Das Resultat ist heute so viel wichtiger geworden als das Fotografieren selbst. Wenn man uns vor dreißig Jahren erzählt hätte, dass heute Kameras eine Linse nach vorne und eine nach hinten haben, hätten wir gedacht: Spinnt der? Warum soll eine Kamera da hinten fotografieren?" Der Tagesspiegel findet sich im Streit um den finnschen Künstler Jani Leinonen nicht zurecht, dessen gekreuzigter Ronald McDonald heftige Proteste in Israel erregt hat. Allerdings hat sich Leinonen inzwischen der BDS-Kampagen angeschlossen und möchte das Land jetzt doch lieber boykottieren. Der Standard diskutiert die Verdienste des Direktors der österreichischen Bundesmuseen, Klaus Albrecht Schröder, dessen fünfte Vertragsverlängerung ansteht.

Besprochen werden eine "feine, wohl durchdachte" Ausstellung der New Yorker Foto-Künstlerin Louise Lawler in der Vertikalen Galerie der Sammlung Verbund in Wien (taz) und eine Schau von Kris Lemsalus' schrillen Aufblasclowns in dr Wiener Secession (Standard).
Archiv: Kunst

Architektur

Modern und emanzipiert: Marianne Brandts Aschenbecher. Foto: Alessi
Niklas Maak zeigt sich in der FAZ schon jetzt genervt von den anstehenden Bauhaus-Feierlichkeiten, die der Welt die 1919 in Weimar gegründete Kunstschule als Wiege des offenen, modernen Deutschlands verkaufen wollen, mit Marcel Breuers Freischwingern und Marianne Brandts Aschenbechern. Aber was ist mit dem arisch-esoterisch Ippen, den vegetarischen Sonnenanbetern und Gropius' Bauhütten-Ideal? "Das Bauhaus war ein Sammelbecken für die unterschiedlichsten Ideen; es war nie nur progressiv, international, emanzipatorisch, sondern auch reaktionär, völkisch, esoterisch, technokratisch, totalitaristisch, rassistisch. Deswegen ist es so interessant, sich mit ihm zu beschäftigen, und zwar gerade auch mit seinen muffigen, abgründigen Seiten: Weil man gerade am Bauhaus sieht, wie eng Emanzipation und Unterdrückung, der Traum vom neuen Menschen und seine technologische Ausbeutung, Reform und Rassenhass, Befreiung des Körpers und Unterjochung in modernen Sekten, Technikglaube und Esoterik zusammenhängen - und wie schnell das eine ins andere umkippen kann."

Besprochen wird die Bauhaus-Ausstellung "Ideal Standard" im Zeppelin-Museum in Friedrichshafen (Welt).
Archiv: Architektur

Bühne

Abrechnung vor gericht: Arthur Millers "Hexenjagd" am Theater Basel. Foto: Sandra Then

Für die SZ hat sich Egbert Tholl Robert Ickes Inszenierung von Arthur Millers "Hexenjagd" in Basel angesehen und ist sehr beeindruckt von der Präzision, mit der Icke Wahn und bigotte Hysterie in Szene setzt: "Er ist in England ein Star und liefert mit 'Hexenjagd' nun seine dritte Arbeit auf dem Kontinent ab. Icke steht, sehr britisch, für perfektes Handwerk und hohe Schauspielkunst. Hier geht es nicht um einen konzeptuellen Überbau, hier wirkt das Spiel für sich. Und das machen die Darsteller in Basel so gut, dass jede Szene mühelos in diesem Gerichtssaal ablaufen kann, auch die privaten, was dramaturgisch auch äußerst sinnstiftend ist, da bei Miller eigentlich jede Szene eine Verhandlung ist, auch im Privatem." Die Nachtkritik ist durchaus beeindruckt, bleibt aber auf Distanz: "Es brodelt nicht mehr in Salem, es brennt. Und im Publikumsraum? Wird es einem angesichts des Ideenreichtums dieses Abends warm ums Herz."

Besprochen werden Hakan Savaş Micans Inszenierung von Erich Maria Remarques Roman "Die Nacht von Lissabon" im Gorki Theater ("Beglückend!", jubelt die Nachtkritik, taz, FAZ), Robert Borgmanns "Warten auf Godot" in Frankfurt (FAZ, Nachtkritik), Franz-Xaver Mayrs Uraufführung von  Enis Macis Stück "Autos" im Wiener Schauspielhaus (Nachtkritik).
Archiv: Bühne

Design

Für westliche Augen ist japanische Keramik, die ihren natürlichen Ursprung keineswegs hinter Kulturleistungen verbirgt, sondern gerade noch betont, auf den ersten Blick nicht ohne weiteres schön. Umso leidenschaftlicher sind jene Sammler, die sich mit Haut und Haar ihrer Leidenschaft widmen. Einen von ihnen hat Philipp Meier für die NZZ porträtiert, auch wenn dieser die Anonymität vorzieht und daher Herr Rot genannt wird: "Viele können mit einer pechschwarzen Teeschale nicht viel anfangen, zu 'schmutzig' kommt sie ihnen vor oder erinnert gar irgendwie an Teer. Für Rot aber ist das anders. In ihrer kraftvollen Gegenwart wie bescheidenen Verhaltenheit zugleich gilt ihm eine solche Teeschale als die Essenz japanischer Töpferkunst - und letztlich ganz einfach als unglaublich faszinierend. Erklären lasse sich das kaum, wie unser Sammler immer wieder betont: Es sei unmöglich, dies in Worte zu fassen. Da verlieren sich die Beweggründe dann eben ganz einfach im Dickicht irrationaler Wünsche und Begehrlichkeiten."
Archiv: Design
Stichwörter: Keramik, Japan, Anonymität

Film

Sehr ambivalent betrachtet Andreas Busche die Doku "Fahrenheit 11/9", mit der Filmemacher Michael Moore erörtern will, wie es zur Präsidentschaft Donald Trumps kommen konnte, wie ausgerechnet die sogenannten kleinen Leute darauf kommen konnten, einen reichen Multimillionär zu wählen: "Fahrenheit 11/9" ist "bei allen guten Absichten ein konfuser Film, der seine Argumente selten stringent zu Ende führt, sich manchmal auch unnötig lange auf Nebenschauplätzen aufhält oder sich in individuellen Schicksalen verliert. ... Dennoch ist Michael Moore als Kommentator unschätzbar wertvoll, weil er - im Gegensatz zu den Politexperten in den Küstenmetropolen - tatsächlich noch aus dem heartland auf Amerika blickt. Seine Heimatstadt Flint im Bundesstaat Michigan, der im November an die Republikaner ging, dient in fast allen seinen Produktionen als Seismograf für die prekäre Arbeiterklasse."

Weitere Artikel: In der SZ gratuliert Fritz Göttler dem Drehbuchautor und Regisseur Lawrence Kasdan zum Siebzigsten. Besprochen werden Andreas Goldsteins Verfilmung von Ingo Schulzes Wenderoman "Adam und Evelyn" (Freitag, mehr dazu hier) und der japanische Trickfilm "Mary und die Blume der Hexen" von Hiromasa Yonebayashi (SZ).
Archiv: Film

Literatur

Schriftsteller Maxim Biller reibt sich in seiner Lieferung für die Glossenreihe "Kalt-Deutsch" des Dlf Kultur sehr daran, dass die deutsche Literaturkritik in Romanen Dinge und Sachverhalte gern "verhandelt" sieht. "Verhandeln" ist für Biller ein Begriff aus der Juristerei: Schriftsteller jedoch sitzen nicht zu Gericht, sie "erzählen einfach nur davon, wie es ist, ein Mensch zu sein, obwohl man sich das gar nicht ausgesucht hat. ... Wieso verstehen die heutigen Kritiker das nicht? Warum schreiben sie einerseits oft so unentschlossen-schwammig, so pseudo-akademisch ambivalent über ein Buch, statt darüber mit echten Argumenten und richtigem Bauchgefühl zu urteilen? Und wieso überhöhen sie andererseits die Schriftsteller zu Richtern, die für uns Leser angeblich mit ihren Romanen und Geschichten über das Leben an sich zu Gericht sitzen?"

Weitere Artikel: Libération berichtet, dass Cesare Battisti in Bolivien festgenommen wurde und über Brasilien wahrscheinlich nach Italien ausgeliefert werden wird. Obwohl er wegen vierfachen Mordes verurteilt war, genoss Battisti den Schutz und Sympathie zahlloser französischen Intellektuellen und Schriftsteller. Das Logbuch Suhrkamp dokumentiert Jan Böttchers im vergangenen November zur Autorenwerkstatt "Gesellschaftliche Debatten und literarisches Schreiben" gehaltene Keynote, in der er das literarisch-linke Potenzial der Abweichungen vom Normdeutschen feiert. In der FAZ bringt der Kunsthistoriker Golo Maurer Hintergründe zu einem bislang unveröffentlichten Brief des Schriftstellers Hermann Lenz an den Kunsthistoriker August Grisebach. Ulrike Draesner fragt sich in der Freitext-Reihe von ZeitOnline auf ihrer Chaiselonge liegend und Netflix bingend, ob sie überhaupt noch Romane lesen muss. Für den Tagesspiegel hat Michael Braun die Vorstellung von Sascha Andersons neuem Gedichtband in Frankfurt besucht.

Besprochen werden das von Claus Peymann gelesene Hörbuch von Thomas Bernhards "Meine Reise" (Freitag), Takis Würgers "Stella" (Tagesspiegel), diverse im Berlin der Weimarer Zeit spielende Comics (Standard), J.K. Rowlings unter dem Pseudonym Robert Galbraith veröffentlichter Krimi "Weißer Tod" (Berliner Zeitung), diverse Comics, die sich mit Krankheiten befassen (Jungle World), Sibylle Benninghoff-Lühls Studie "Die ganze Welt ein Garten? Flora und Fauna in Ernst Jüngers schriftlichem Nachlass" (Tagesspiegel), Min Jin Lees "Ein einfaches Leben" (online nachgereicht von der FAZ) und Amir Hassan Cheheltans "Der standhafte Papagei - Erinnerungen an Teheran 1979" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Mathias Mayer über Rainer Maria Rilkes "Sonett an Orpheus (Erster Teil, Nr. 13)":

"Voller Apfel, Birne und Banane,
Stachelbeere ... Alles dieses spricht
Tod und Leben in den Mund ... Ich ahne ..."
Archiv: Literatur

Musik

Julian Weber plaudert in der taz mit Carsten "Erobique" Meyer über die von ihm komponierten Soundtracks zur Erfolgsserie "Tatortreiniger", die gerade eingestellt wurde. Die pophistorischen Sounds, die Meyer hier aufgreift, kommen nicht von ungefähr: "Ich sammle popkulturelle Schätze. Wenn ich ins Studio gehe, stehen da nicht nur alte Orgeln und ein Schlagzeug, sondern auch Schallplatten. An der Wand hängen Bilder, die ich auf Flohmärkten gefunden habe. Das Bücherregal ist voll mit Werken zu den abseitigsten Popfiguren. Durch diese Materialfülle löst sich dann das Referenzmoment auf und wird zur amorphen Masse. Ich war in der Jugend Mod, das Geschmackvolle bedeutet mir noch was. Bestimmte analoge Aufnahmetechniken sind mir wichtig. Lieber eine Flöte spielen, als eine Midi-Flöte zu benutzen." Hörproben gibt es bei Spotify:



Weitere Artikel: Frederik Hanssen berichtet im Tagesspiegel, wie die Dresdner Philharmoniker ihre Bekanntheit steigern wollen. Für Pitchfork holt Jeremy D. Larson das Album "Spirit of Eden" von Talk Talk aus dem Jahr 1988 wieder aus dem Plattenschrank. Besprochen werden die Doku-Serie "Surviving R. Kelly" (Tagesspiegel), ein Konzert des Gershwin Piano Quartets (NZZ), ein Konzert von The Rhythm and Beat Organization (taz). ein Auftritt von Behemoth (FR) und neue Musikveröffentlichungen, darunter das Debüt des puerto-ricanischen Rappers Bad Bunny. Darauf am beeindruckendsten findet FAZ-Kritiker Martin Andris dieses Stück:


Archiv: Musik