Efeu - Die Kulturrundschau

Ausbeutung der Vergangenheit

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11.01.2019. Der Standard staunt im Wiener Dommuseum, wie gut die Passion Christi und feministische Körperpolitik zusammenpassen. Gibt es nicht mehr als fünfzehn Autoren, die man auf den großzügig subventionierten deutschen Bühnen spielen kann, stöhnt die FAZ. Die Filmkritiker erliegen der Sinnlichkeit schöner Bauernmädchen bei der Landarbeit in Marine Francens Debütfilm "Das Mädchen, das lesen konnte". Die Literaturkritiker stürzen sich auf Takis Würgers "Stella". Und die Welt reist durch die poppigen Berliner U-Bahnhöfe von Rainer Gerhard Rümmler.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.01.2019 finden Sie hier

Film

Freiheit des Geistes: Marine Francens "Das Mädchen, das lesen konnte"
Ein Dorf ohne Männer präsentiert Regisseurin Marine Francen in ihrem historischen Bauerndrama "Das Mädchen, das lesen konnte". Realismus ist dabei nicht das dringlichste Anliegen der Regie-Debütantin, schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel. "Das schmale 4:3-Bildformat ist eine Beschränkung, die einen stärkeren Fokus auf die Gesichter der Frauen legt. Man nimmt den schönen Bauernmädchen das harte Landleben zwar nicht ganz ab, aber die lichten Bilder Alain Duplatiers besitzen eine lyrische Durchlässigkeit, die den körperlichen Begehren eine kaum greifbare, sinnliche Qualität verleiht."

Dunja Bialas von Artechock beobachtet eine "genderübergreifende Dialektik von Befruchtung und Befruchtetwerden", wodurch der Film "komplexer ist als die idyllischen Ernte-Bilder es zunächst verheißen. Francen kann sich so zu den Genre-Meistern der Neuzeit rechnen, die in ihren Gemälden stets auch andere, allegorische und ideelle Botschaften chiffrierten. So ist dieser Film zwar eine ideologisch immer wieder auch zweifelhafte Anbetung der körperlichen Arbeit, zugleich aber, und das schließt die Bestellung der Felder mit ein, auch eine Rückbesinnung auf die Errungenschaften der Kultur und der Freiheit des Geistes." Direkt darunter stellt Rüdiger Suchsland einen "sinnlichen, klugen, politischen, feministischen und daher hoch aktuellen" Film in Aussicht. Diese Regisseurin sollte man im Blick behalten, rät Falk Straub auf Kino-Zeit.

Weitere Artikel: Dominik Kamalzadeh empfiehlt im Standard eine Ermanno Olmi und Federico Fellini gewidmete Schau im Österreichischen Filmmuseum in Wien. Holger Kreitling (Welt) und Dirk Peitz (ZeitOnline) erinnern daran, dass mit der Premiere der "Sopranos" vor 20 Jahren das heutige Zeitalter der Qualitätsserien eingeläutet wurde. In der SZ empfiehlt Fritz Göttler eine Reihe im Münchner Werkstattkino, die sich der Rettung der klassischen Kinokopie verschrieben hat.

Besprechen werden Sebastian Gutiérrez' Science-Fiction-Thriller "Elizabeth Harvest" und George Ratliffs "Welcome Home", die beide auf Heimmedien erscheinen (Perlentaucher), Andreas Goldsteins "Adam & Evelyn" (FR, Welt, mehr dazu hier), Peter Hedges' Drogendrama "Ben is Back" mit Julia Roberts (FR, ZeitOnline), die italienische Arte-Serie "Ein Wunder" ("ein Meisterwerk", jubelt D.J. Frederikssonin der FR), eine Kino-Doku über den Modedesigner Alexander McQueen (Presse) und Otto Bathursts "Robin Hood"-Neuverfilmung (SZ, Tagesspiegel).
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Literatur

So konsequent wurde zuletzt kein neuer Roman in den Boden gestampft wie Takis Würgers heute erscheinender "Stella". Der Spiegel-Journalist erzählt darin die Geschichte der Jüdin Stella Goldschlag, eine sogenannte "Greiferin", die andere Juden an die Nazis verriet. SZ-Kritiker Fabian Wolff beobachtet die fortschreitende "Selbstentblößung eines letztlich überforderten Autors. Bitterer, obszöner Tiefpunkt des Romans ist eine Folterszene, in der Würger den Gestapomann Dobberke phonetisches Bairisch sprechen lässt. ... Am Willen zur Ausbeutung der Vergangenheit fehlt es nicht, aber Würger geht wie ein Vampir vor, der die Halsschlagader nicht trifft." FAZ-Kritiker Jan Wiele sieht den Geist Relotius' durch den Roman ziehen und erlebte eine Abfolge abgehangener Klischees: "Fliegeralarm, Schwarzmarkt, Partydroge Pervitin, gescheitelte Nazis, die unter Ausstoß antisemitischer Parolen kurz vor dem Untergang noch einen draufmachen. Die Ausstattung changiert zwischen Fernsehhistorien-Trash und Wes-Anderson-Ästhetik." Dlf Kultur hat mit dem Autor gesprochen.

Der Schriftsteller Kjell Espmark und der Historiker Peter Englund kehren in die Schwedische Akademie zurück, die damit wieder beschlussfähig ist. Im Tagesspiegel kennt Gerrit Bartels die Gründe für den Wiedereinstieg der beiden "Abtrünnigen": Sie "erklärten schwedischen Medien so: 'Die Lage erfordert, dass das Beste für die Akademie über die persönlichen Gegensätze gestellt werden muss', so Englund. 'Die Machtverhältnisse in der Akademie haben sich entscheidend verändert; einzelne Mitglieder können das Gremium nicht mehr dominieren.' Zumindest können Engdahl und Frostenson nicht mehr weiter zusammen Front machen. Frostensons Sitz ruht nach den Vorwürfen gegen sie wegen der Namensnennungen von Litertaurnobelpreisträgerinnen vorab und möglicher ökonomischer Vorteile deshalb. Die 'Abtrünnigen' forderten, dass gerade auch sie das Gremium verlässt."

Die FAZ dokumentiert die Dankesrede des Schriftstellers Christoph Peters zum Erhalt des Wolfgang-Koeppen-Preises, in der dieser Koeppens BRD-Roman "Das Treibhaus" in höchsten Tönen lobt und preist: Zur Bewältigung der globalen politischen Lage brauche es keine Erlöserfiguren, "die uns vor düster wabernden Bedrohungsszenarien in Sicherheit bringen, sondern Romane wie 'Das Treibhaus' mit Figuren wie Keetenheuve, die von der undurchdringlichen Komplexität des menschlichen Herzens und der Vielgestaltigkeit der menschlichen Verhältnisse erzählen. Das ist das Narrativ der Demokratie, und es bildet die Basis dafür, dass wir als klar denkende und rational handelnde Menschen immer wieder genug Selbstkritik, Geduld und Einfühlung für die zähen und langwierigen Ausgleichsverhandlungen mitbringen, von denen der Fortbestand einer offenen Gesellschaft abhängt."

Weitere Artikel: Rainer Moritz begibt sich für die NZZ auf Ingeborg Bachmanns Spuren in Klagenfurt. Für die taz porträtiert Frank Keil die mit Mara-Cassens-Preis für den besten Debütroman ausgezeichnete Schriftstellerin Anja Kampmann. Auf ZeitOnline glossiert Christoph Schröder über die eben vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels veröffentlichten Jahresverkaufscharts. Besprochen werden der Briefwechsel zwischen Hanne Trautwein und Hermann Lenz (Tagesspiegel), Goran Vojnovics "Unter dem Feigenbaum" (Tagesspiegel), Sergej Lebedews "Kronos' Kinder" (SZund neue Bücher über Queen Victoria (FAZ).
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Kunst

Anders Krisar, Arm (right), 2006. Courtesy Anders Krisar. 
Wagemutig und "intensiv" findet Anne Katrin Fessler im Standard die Ausstellung "Zeig mir deine Wunden" im Wiener Dommuseum, die Bilder der christlichen Passion mit zeitgenössischen Darstellungen von Verletzungen von Individuum und Gesellschaft konfrontiert: "Körperpolitisch sind auch die Selbstverletzungen von Renate Bertlmann oder Valie Export zu verstehen. Fast unerträglich sind die Bilder der mit einem Teppichmesser in der Nagelhaut stochernden Künstlerin im Video ... Remote ... Remote ... (1973); mit den Zähnen reißt sie sich die Hautfetzen von den Nägeln. Und weil dem Körper Macht und Gewalt eingeschrieben sind, hat sich Katrina Daschner 'Angst essen Seele auf' auf den Unterarm tätowieren lassen. Unsichtbare Verletzungen, wie jene sexuellen Missbrauchs, sichtbar zu machen gelingt hingegen Anders Krisár: Die (Über-)Griffe erwachsener Hände zeichnen sich als Vertiefungen auf Torso und Gliedmaßen eines Kindes ab."

Im Dlf-Gespräch mit Stefan Koldehoff erklärt die Kuratorin Maria Müller-Schareck, die jüngst in der Kunstsammlung NRW für die gerade in der Londoner Tate Modern zu sehende Anni-Albers-Ausstellung verantwortlich zeichnete, warum Albers ihrer Meinung nach ins Kunst- und nicht ins Kunstgewerbemuseum gehört. In der Dlf-Kultur-Serie "Frauen im Bauhaus" stellt Vladimir Balzer die Japanerin Michiko Yamawaki vor, die bei Anni Albers Weberei lernte. Von Plowdiws holprigem Weg zur Kulturhauptstadt berichtet im Standard Stefanie Ruep.

Besprochen werden die Ausstellung "80 Jahre Krieg" im Rijksmuseum Amsterdam (Tagesspiegel) die Eduardo-Chillida-Ausstellung im Museum Wiesbaden (FR), die Johann-Heinrich-Füssli-Ausstellung im Kunstmuseum Basel (FR) und die Ausstellung "Jean-Jacques Lequeu. Bâtisseur de fantasmes" im Pariser Petit Palais (FAZ).
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Musik

Tazlerin Julia Lorenz legt sich mit dem neuen Deerhunter-Album "Why Hasn't Everything Already Disappeared?" zur Baudrillard- und Heidegger-Lektüre in die Wüste. Der Alarmismus des Albumtitels wird allerdings nicht eingelöst, erfahren wir: "Mag die Abrissbirne auch über allen Gewissheiten schweben; der Klang dieses Albums würde auch dann noch von Menschlichkeit und analoger Wärme erzählen, wenn Cox eine halbe Stunde Waffentypen aufzählen würde." Eine Hörprobe:



Das Sammeln japanischer Schallplatten weist einige Besonderheiten auf, erfahren wir von Andreas Hartmann, der für die taz die beiden Berliner Importhändler Japan Records und Mion Records besucht hat: Zu den Reizen japanischer Veröffentlichungen zählen nicht nur die Exklusivität der Platte oder deren abweichende Gestaltung, sondern auch "der sogenannte Obi - eine Art Banderole -, der jeder neu gekauften japanischen Platte beiliegt. Bei gebrauchtem Vinyl aus Japan lautet eine Frage deswegen: Ist der Obi dabei oder nicht? Mit oder ohne könne zu extremen Wertschwankungen führen, sagt Andre Schneider von Japan Records. 'Es gibt eine Platte der Beatles, die ist mit Obi ein paar Tausend Euro wert. Ohne Obi dagegen gerade mal 60 Euro.'"

Weitere Artikel: In der NZZ meditiert Daniel Haas über das Phänomen Helene Fischer und arbeitet im Zuge deren vier Abstinenzregeln heraus. Besprochen werden Daniil Trifonovs Konzert mit den Wiener Philharmonikern (Standard), ein von Kirill Petrenko dirigiertes Konzert des Bundesjugendorchesters (viel zu brav, viel zu mustergültig kam der Auftritt des Orchesters SZ-Kritikerin Julia Spinola vor, Tagesspiegel), ein Konzert des Zürcher Tonhalle-Orchesters unter Juanjo Mena (NZZ), das Comeback der Backstreet Boys (Standard) und das Album "Erziehung zur Müdigkeit" der Punkband Pogendroblem ("alles andere als blöd", zerstreut Jens Uthoff in der taz etwaige Bedenken).
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Bühne

Kaum ein Land subventioniert seine Theater so wie Deutschland, schreibt Simon Strauss in der FAZ und doch grassiert auf deutschen Bühnen eine Einfallslosigkeit, als gäbe es lediglich einen Kanon von fünfzehn Autoren, meint er: "Gibt es wirklich keinen anderen als Tschechow? Niemanden neben Strindberg und Ibsen? Was ist mit den knapp fünfzig Theaterstücken eines Alexander Ostrowski? Hat Bjørnson den Nobelpreis nicht auch als Dramatiker bekommen? Wen gab es an der Seite von Beckett und Ionesco? Sind Arthur Adamov und Jacques Audiberti zu Recht vergessen? Ist Jean Anouilhs 'Der Walzer der Toreros' zu sehr Boulevard? Was ist mit einem Stück wie 'Ganze Tage in den Bäumen' von Marguerite Duras oder der 'Wupper' von Else Lasker-Schüler? Könnte sich das Interesse an Geschlechtergerechtigkeit nicht auch einmal inhaltlich zeigen? Mehr Fleißer gespielt werden?"

In der SZ würdigt Peter Laudenbach den 2001 verstorbenen Regisseur Einar Schleef, der dieses Jahr 75 geworden wäre: "Schleefs Herausforderung lag in der großen Form seiner Arbeiten, im Wissen um Geschichte und damit um Gewalt und in der Überzeugung, dass es im Theater bitte sehr um alles zu gehen habe."

Besprochen wird Alexander Kukelkas "Die Überflüssigen" im Wiener Nestroyhof (Standard).
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Architektur

Bild: Axel Mauruszat. U-Bhf Fehrbelliner-Platz
Immer mehr Berliner U-Bahnhöfe stehen unter Denkmalschutz, meldet Marcus Woeller in der Welt - und zwar nicht nur die, die Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden, sondern auch jene, die der Baudirektor Rainer Gerhard Rümmler, der bei Hans Scharoun Architektur studierte, in den Sechzigern bis Achtzigern entwarf: "Das retro-futuristische Eingangsgebäude am Fehrbelliner Platz setzt den nötigen Kontrast zur monumentalen Platzeinfassung in der NS-Ästhetik der Dreißigerjahre. Und auch wenn man den Bahnhof Konstanzer Straße (1969-73) aus Spielfilmen kennt, weil er oft für Dreharbeiten gecastet wird, lohnt er besonders. Denn auf der U 7 bog Rümmler in seine Pop-Art-Phase ein. Leicht gekrümmt liegt der Bahnhof im Wilmersdorfer Sandboden wie eine Warhol-Banane. An den Wänden Kleinkeramik in schnellen Streifen. Gelb, Orange, Braun. Schlanke Pfeiler mit abgerundeten Aluminiumpaneelen. Schwarzer Gussasphalt auf dem Boden."
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