Efeu - Die Kulturrundschau
Die zitternden Nuancen historischer Erfahrung
Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Kunst

Richtig objektiv war August Sander bei Erstellung seiner großen Fotoserie "Menschen des 20. Jahrhunderts" natürlich nicht, meint in der FR Michael Kohler anlässlich der großen Sander-Retrospektive in der Photographischen Sammlung/SK Stiftung Kultur in Köln. "Sander war ein Meister der Komposition, und offenbar fand er für jeden die richtigen Worte. Vor seiner Kamera fremdeln weder Kinder noch Industrielle, noch Revolutionäre; umgekehrt versteckte er die unsicheren Blicke nicht, mit denen ihm einige Bettlerinnen um 1930 begegneten. Dass Sander sein Scheitern im Kleinen derart souverän vorzeigte, spricht dafür, dass er es auch im Großen als zwangsläufig einkalkuliert hatte."
Weiteres: Über die art berlin berichten Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung, Birgit Rieger im Tagesspiegel und Astrid Mania in der SZ. Catrin Lorch stellt in der SZ den Filmregisseur Herbert Achternbusch als Maler und Entwerfer von Stoffmustern vor. Besprochen werden die Situationisten-Ausstellung "The Most Dangerous Game" im Berliner Haus der Kulturen der Welt (taz) und die Vasarely-Ausstellung im Frankfurter Städel Museum ("Umso mehr man Victor Vasarelys Arbeiten von den Bezügen befreit, auch von den recht willkürlich gewählten Titeln, die von Orts- bis zu Sternennamen reichen, umso meditativer wird der Sog, die sie immer noch ausüben", denkt sich Till Briegleb in der SZ). In China müssen Künstler dafür bezahlen, wenn sie ihre Bilder in einem Privatmuseum zeigen wollen, berichtet Minh An Szabó de Bucs in der NZZ.
Bühne

De Sade als "fettes, eskapistisches Individuum", Marat als Muskelprotz - Tina Laniks Inszenierung von Peter Weiss' "Marat/Sade" am Münchner Residenztheater lässt nachtkritikerin Anna Landefeld kalt. In Fahrt kommt de Sade (gespielt von Charlotte Schwab im Fatsuit) "immer dann, wenn es darum geht, warum man auf das alles scheiße - die Revolution, auf die im Kreis laufenden Massen, die guten Absichten und so weiter: 'Ich glaube nur an mich selbst!' Hoch lebe der Liberalismus. Das sieht de Sades nimmer müdes, agitierendes Geistes-Gegenstück ganz anders: Jean Paul Marat, ein Prachtstück von einem Revolutionär: drahtig, muskulös, gespielt von Nils Strunk. Lanik lässt die beiden debattieren, verpackt die Streitgespräche in grotesken Szenen. Mal hängt Marat kotzend überm Klo unterm Kreuz. Mal will de Sade, Schöpfer der literarisch-pornografischen Gewaltfantasien schlechthin, doch glatt von diesem ausgepeitscht werden. Frei nach Erich Fromm: Lerne dich selbst und deine Mitmenschen durch Grausamkeit kennen. Bei Lanik verkommt diese Allegorie allerdings zum unbeholfenen Klamauk."
In der SZ ist Anton Rainer milder: "Wer will einen Zauberer für seinen schlecht sitzenden Anzug kritisieren, wenn er doch am Ende die richtige Karte aus dem Stapel zieht?"
Weiteres: Doris Meierheinrich besucht für den Tagesspiegel die Proben zu Andres Veiels "Let them eat money" am Deutschen Theater Berlin. Frankfurt ist Opernhaus des Jahres, meldet der Tagesspiegel. Im Theaterpodcast der nachtkritik unterhalten sich Susanne Burkhardt und Elena Philipp über die Kündigung der Intendantin am Tanztheater Wuppertal, Adolphe Binder, den Fall Jan Fabre und das Theater von Jürgen Gosch
Besprochen werden Mohammad Al Attars Dokumentartheater "The Factory" an der Volksbühne Berlin (Berliner Zeitung, nachtkritik), Thom Luzs musikalischer Max-Frisch-Abend "Der Mensch erscheint im Holozän" am Deutschen Theater Berlin (nachtkritik), Thomas Krupas Adaption von Salman Rushdies Roman "Golden House" am Theater Erlangen ("Sozialwissenschaftliche Theorien und Weltgeschichte - 9/11, Occupy, Obama singt 'Amazing Grace' - fliegen geradezu durch den Saal", freut sich nachtkritiker Andreas Thamm) und Jan Philipp Glogers Ionesco-Projekt "Ein Stein fing Feuer" in Nürnberg (nachtkritik).
Film
Im Kracauer-Stipendiumsblog des Filmdiensts berichtet Lukas Foerster von seiner Begeisterung für Claudia Weills in den Seibzigern entstandenen Indie-New-York-Film "Girlfriends", in dem ihn die kurze Einstellung eines Pferdes ziemlich umhaut: "Was hier isoliert wird, ist ein Stück ästhetische Erfahrung im Modus der Kontemplation, ein Naturschönes, das nicht zu einer stabilen, warenförmigen Postkartenansicht gerinnt, sondern brüchig bleibt, sich nur durch einen glücklichen Zufall ergibt, nicht ohne weiteres wiederholbar (oder mobilisierbar) ist. Ein Moment des Glücks, der Übereinstimmung von Innen und Außen, Psyche und Welt, Kunst und Leben." Auf Youtube gibt es ein Filmgespräch mit der Filmemacherin über ihren Film:
Weitere Artikel: Für den Filmdienst schlendert Josef Nagel durch das in der Mole Antoniella untergebrachte Filmmuseum in Turin. Das Zurich Film Festival wirft in diesem Jahr einen Blick ins Filmland Italien, berichtet Susanne Ostwald in der NZZ. Einigermaßen dämlich findet Jungle-World-Autor Dierk Saathoff viele der zum 20-jährigen Jubiläum erschienenen Würdigungen von "Sex and the City", die den verdienten Serienklassiker ziemlich in die Tonne hauen, dabei "werden viele der angeprangerten Aussagen in der Serie selbst schon problematisiert."
Besprochen werden Eva Trobischs "Alles ist gut" (Freitag, mehr dazu hier), Brad Birds "Die Unglaublichen 2" (SZ) Michael Moores in den USA anlaufender Anti-Trump-Film "Fahrenheit 11/9" (Zeit) und die Free-TV-Premiere des Serien-Großprojekts "Babylon Berlin" (NZZ, Welt, zahlreiche Kritiken und Artikel hier in unseren Presseschauen zur eigentlichen Premiere der Serie vor einem Jahr, außerdem hat die FAZ die Regisseure Hendrik Handloegten, Achim von Borries und Tom Tykwer nochmal an einen Tisch gesetzt).
Literatur
Weitere Artikel: Für den Tagesspiegel hat Deniz Utlu den derzeit in Berlin lebenden türkischen Schriftsteller Murathan Mungan besucht. Denis Scheck ergänzt seinen Welt-Literaturkanon um Les Murrays Versroman "Fredy Neptune". Florian Illies erinnert in der Zeit an den vor hundert Jahren gestorbenen Erzähler Eduard von Keyserling. Die FAZ dokumentiert Arno Geigers Dankesrede zum Joseph-Breitbach-Preis.
Außerdem präsentiert die Literarische Welt die fünf Finalistinnen und Finalisten ihres Schreibwettbewerbs "Die Welt von morgen" für Nachwuchsschriftsteller: Hier die Beiträge von Zelda Biller, Alexander Schnickmann, Mareike Froitzheim, Kristin Höller und Peregrina Walter.
Besprochen werden unter anderem David Foster Wallace' Essaysammlung "Der Spaß an der Sache" (taz), Nino Haratischwilis "Die Katze und der General" (taz), Inger-Maria Mahlkes "Archipel" (Berliner Zeitung), Louise Pennys Krimi "Hinter den drei Kiefern" (FR), Stephan Thomes "Gott der Barbaren" (NZZ), das von Wanja Mues' gelesene Hörbuch zu James Baldwins Roman "Von dieser Welt" (taz), Karl-Heinz Otts "Und jeden Morgen das Meer" (SZ) und Ketil Bjørnstads "Die Welt, die meine war" (FAZ).
Musik
Weiteres: Im BR2-Feature befasst sich Klaus Walter mit dem von Rhian Jones und Eli Davies herausgegebenen Buch "Under My Thumb", in dem es darum geht, "warum Frauen ausgerechnet diejenigen Männer und ihre Musik lieben, die sie, im günstigsten Fall, in ein heißes Sexsymbol verwandeln und im weniger günstigen Fall in ein bescheuertes Spielzeug." Für die Spex plaudert Franziska Kreuzpaintner mit Matthew Halsall, dem Gründer des Jazzlabels Gondwana Records. In der Austropop-Reihe des Standard erinnert Karl Fluch an den vor zehn Jahren verstorbenen Hansi Lang, der seinen Durchbruch in der New-Wave-Zeit erlebte.
Besprochen werden Tim Heckers "Konoyo" (Pitchfork) und das neue Album der Band Crippled Black Phoenix (FAZ).