Efeu - Die Kulturrundschau

Die Motorsägenmusik unserer Träume

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.07.2018. Die New York Review of  Books betrachtet Edward Bawdens idyllisches, vom Krieg unterbrochenes Mittelengland. Die New York Times erzählt, wie das Blanton Museum in Texas sich zwei Jahre lang gegen Kritik absichert, bevor es Vincent Valdez' Ku-Klux-Klan-Gemälde ausstellte. In der SZ erzählt der Schriftsteller Adel Mahmoud vom Wahnsinn der Syrer. Die taz erklärt uns, wie man in Botswana Gitarre spielt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.07.2018 finden Sie hier

Musik

In Botswana greift man mit der linken Hand von oben um den Gitarrenhals und spielt mit dem Daumen eine Basssaite, erklärt uns Ole Schulz in der taz. Und überhaupt ist die außerhalb der Landesgrenzen kaum bekannte Country-Blues- und Folk-Tradition der Region höchst interessant, erklärt er weiter: Die Compilation "I'm not here to hunt rabbits" macht uns nun damit bekannt. "Außer Motlogelwa 'Babsi' Barolong (der 85-Jährige ist Kuhhirte, Schreiner und Nachtwächter) sollen übrigens alle Künstler von ihrer Musik leben können", erfährt Schult aus den Liner Notes. "Manch einer hat es zu bescheidenem Ruhm gebracht, andere leben von der Hand in den Mund und werden pro Lied bezahlt, wenn sie in Chabins auftreten, Open-Air-Saloons, wo das billige Shake-Shake angeboten wird, ein alkoholhaltiges Hirsegetränk. Abends kann es hier schon rau zugehen - genauso wie in den schlechten Vierteln der Hauptstadt Gaborone. Von solch zwielichtigen Orten und den Gefahren handeln einige Lieder, andere drehen sich um Unfälle, böse Geister in Handys und segensreiche Kondome."

Dieses Video zeigt sehr beeindruckend das spezifische Gitarrenspiel (und in dieser Playlist gibt es 465 weitere Beispiele, aus der wiederum diese Playlist eine Top10 destilliert hat):



Weitere Artikel: Eleonore Büning gratuliert in der NZZ dem Klavierfestival Ruhr zum dreißigjährigen Bestehen. In der NMZ erinnert Marcus Woelfle an den vor dreißig Jahren verstorbenen Chet Baker.

Besprochen werden David Byrnes Zürcher Auftritt, den Ueli Bernays in der NZZ zum Anlass für ein Porträt des Musikers nutzt, neue Veröffentlichungen über die Ramones (taz) und Peter Strickmanns "Mellow Toes" mit Klängen aus dem Schnarcharchiv des Künstlers, was aber schlussendlich angenehmer klingt, als man zuerst denken mag, denn "Strickmann entlockt der Motorsägenmusik unserer Träume ihre ganz besondere Poesie", wie Niklas Dommaschk in der Jungle World schreibt.

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Stichwörter: Botswana, Gitarre, Country, Ramones, Folk

Bühne

In München haben Volkstheater-Intendant Christian Stückl und Kammerspiele-Intendant Matthias Lilienthal aufgerufen zur "Ausgehetzt"-Demonstration am Sonntag, die sich gegen die Flüchtlingspolitik der CSU richtet. Dafür sollen sie jetzt von der CSU-Bürgermeister Josef Schmid bestraft werden, berichtet Dominik Hutter in der Süddeutschen: "Schmid, der im Herbst vom Rathaus in den Landtag wechseln will, begründete sein Fernbleiben mit dem politischen Neutralitätsgebot öffentlicher Institutionen."

Weitere Artikel: Der Norweger Pål Christian Moe, an verschiedenen Opern und Festivals für das Casting zuständig, erklärt im Interview mit der Welt, worauf es bei der Besetzung von Sängerrollen ankommt: "Der deutsche, englische und französische Publikumsgeschmack ist sehr verschieden. Manche Künstler, die an bestimmten Orten ein Star sind, funktionieren an anderen nicht." Simon Strauß grübelt in der FAZ, warum die Theaterlogen in Italien fast immer leer bleiben. Plácido Domingo spricht im Interview mit der FR über Castorfs Bayreuther "Walküre", die er dirigieren wird, und über Wagnerrollen.
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Film

Entscheidend ist der kreative Impuls: Alejandro Jodorowskys "Poesía sin fin"

Sehr viel Freude kann man an "Poesía sin fin" haben, versichert Lukas Foerster im Perlentaucher. Bei dem farbenfrohen Spektakel handelt es sich um dem zweiten Teil aus Alejandro Jodorowskys autobiografischem Zyklus, mit dem sich der mittlerweile fast neunzigjährige Popstar des Mitternachtskinos der Siebziger zurückmeldet. Je episodischer dieser Film wird, desto besser wird er, erfahren wir: "Und auch, umso mehr Jodorowsky die Kunst (...) als eine Welt für sich zeigt, als einen Freiraum, als eine Lizenz zum Blödsinnmachen. In ihrer konkreten Ausformung hat diese Kunst aus den fiktionalen Jodorowsky'schen Flegeljahren auch noch nicht allzu viel zu tun mit der blutrünstigen, blasphemischen, abjekten Drastik der Bildwelten von 'El Topo' und 'Montana Sacra'. Stattdessen dominieren vulgärer Lowbrow-Humor (furzende Clowns; obszönes Kasperletheater), versponnene Erotomanie, Verkleidungs- und Maskierungsspiele. Entscheidend ist durchweg der kreative Impuls, nicht das Ergebnis."

Dem Lob schließt sich auch Dennis Vetter in der taz an: Bei Jodorowsky "wird die Dichtkunst zum Gestaltungsprinzip eines halb erfundenen Lebens. ... Der Umstand, dass der Regisseur heute beinahe so alt ist wie das Kino selbst, ist seinem Film in keinem Moment anzusehen. Ganz im Gegenteil: Neben 'Endless Poetry' wirkt ein Großteil heutiger Produktionen träge und altbacken."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel-Essay preist Sabine Horst die "wilde Diversitätspolitik" des japanischen Animationsfilms. Der Horrorfilm wendet sich derzeit vermehrt gesellschaftlichen Themen zu und ist damit stark wie lange nicht mehr, erklärt Nina Jerzy in der NZZ.

Besprochen werden Hélène Cattets und Bruno Forzanis auf BluRay veröffentlichte Manchette/Bastid-Verfilmung "Leichen unter brennender Sonne" ("ein Experimentalfilm aus Sex-and-Crime-Trash-Material", schreibt Ekkehard Knörer in der taz), Susanna Nicchiarellis Biopic "Nico, 1988" (Perlentaucher, taz, SZ), Hans Weingartners Roadmovie "303" (SZ), Sacha Baron Cohens TV-Satire "Who is America?" (ZeitOnline), Stefano Sollimas Actionthriller "Sicario 2" (SZ, ZeitOnline), die Ausstellung von Wim Wenders' Polaroids im C/O-Berlin (taz, FAZ) und der zweite Teil des ABBA-Musicals "Mamma Mia" (NZZ, Tagesspiegel, FAZ).
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Literatur

Die SZ beginnt mit einer Reihe, in der syrische Autoren über ihre Heimat schreiben. Als ersten Gast konnte sie den Schriftsteller Adel Mahmoud gewinnen, der Realitätssplitter aus seiner Heimat liefert. Einmal etwa fragte er einen Arzt, der in einer Irrenanstalt arbeitet: "Mit welchem Modell ließe sich der Wahnsinn der Syrer dieser Tage veranschaulichen? Er dachte nach und sagte dann, einer der Patienten zeichne mit Kreide einen Strich auf den Betonboden im Flur der Anstalt und fordere seine Mitinsassen auf, unter dem Strich hindurchzugehen. Wer es schafft, ist frei. Nach einer Stunde seien die Köpfe, die Gesichter und Kinne von allen blutig und ihre Zähne ausgeschlagen."

Weiteres: Roman Bucheli erinnert sich in der NZZ an sein Erstaunen darüber, als er vor einigen Jahren in Zürich auf Hugo Loetschers Wohnsitz stieß, wo man diesen Schriftsteller doch stets auf Reisen wähnte. Besprochen werden Meg Wolitzers "Das weibliche Prinzip" (FR), Laetitia Colombanis "Der Zopf" (Tagesspiegel), Rachel Cusks "Kudos" (Tagesspiegel), Nelson Mandelas "Briefe aus dem Gefängnis" (Zeit), Friederike Mayröckers "Pathos und Schwalbe" (SZ) und Christian Y. Schmidts "Der letzte Huelsenbeck" (FAZ).
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Kunst

Edward Bawden: Refugees at Udine, 1945, Imperial War Museum Collections


Man könnte die Bilder aus Mittelengland von Edward Bawden idyllisch, lahm oder - noch schlimmer - charmant nennen, aber Jenny Uglow sieht das in der New York Review of Books anders: Eine sommerliche Frische weht sie in der Bawden-Ausstellung der Dulwich Gallery an. Und Bawden konnte auch anders: "Die überraschendsten Werke in Dulwich sind die Porträts und Massenszenen, die Bawden zwischen 1940 und 1945 malte, als er noch offizieller Kriegskünstler war. Dieser Beitrag führte ihn auf eine 'Cook's Tour', wie er es nannte, von Südafrika nach Äthiopien, Libanon, Irak und Italien. Wenn er in der Vergangenheit Schwierigkeiten beim Zeichnen hatte, dann entpuppte er sich hier als ein großartiger, unmittelbarer, direkter - man betrachte nur den fein gekleideten und ängstlichen Sergeant der von den Italienern gebildeten Polizei, den er nach der italienischen Niederlage 1941 in Äthiopien gezeichnet hat."

Vincent Valdez, The City I, 2015-16, Blanton Museum of Art


In der New York Times beschreibt Michael Hardy mit allergrößtem Ernst und Respekt den Aufwand des Blanton Museum of Art in Austin/Texas, eine Ausstellung von Vincent Valdez' fast zehn Meter langem Ku-Klux-Klan-Gemäldes gegen Kritik abzusichern. Der Künstler will mit dem Gemälde, dass die Klan-Mitglieder mit Smartphones und einem modernen Truck im Hintergrund zeigt, demonstrieren, dass die mörderische Gruppe eben nicht der Vergangenheit angehört. Das Museum hat dennoch zwei Jahre gebraucht um sicherzustellen, dass das auch allgemein bekannt wird: Das Bild wurde etlichen Personen und Gruppen vorab vorgestellt, die Ärger machen könnten (leider vergaß man die schwarze Bürgerrechtsorganisation NAACP), am Eingang warnt ein Schild, das Bild könne "starke Emotionen" hervorrufen. "Und um den historischen Kontext herzustellen, hat das Blanton sechs Galerie-'Gastgeber' eingestellt, von denen mindestens einer (neben dem Wachmann) jederzeit in der Galerie sein wird, um Fragen zum Gemälde zu beantworten. Ein Videobildschirm in der Galerie wird ein Interview mit Herrn Valdez im Loop spielen. Der Wandtext zur Einführung des Gemäldes wurde von der Kuratorin Veronica Roberts verfasst, die davon ausgeht, dass sie die sechs Absätze mindestens 400 Mal überarbeitet hat. Ergänzt wird die Ausstellung durch eine Reihe von Vorträgen und Programmen von Dienstag bis Oktober sowie eine ausführliche Website." Na, dann kann ja nichts mehr schief gehen.

Weitere Artikel: Anne Katrin Feßler stellt im Standard die feministische Künstlerin Katharina Cibulka vor. Zum Tod der Künstlerin Christa Dichgans schreiben Till Briegleb in der SZ und Rose-Maria Gropp in der FAZ.

ATELIER D'ORA | Selbstbildnis der Photographin d'Ora | 1929 © ullstein bild collection
Besprochen werden eine Ausstellung der Fotos von Madame d'Ora im Wiener Leopold Museum (Standard), eine Ausstellung des amerikanischen Künstlers Matt Mullican im Pirelli Hangar in Mailand (die Peter Iden in der FR in einem Zusammenhang mit der Kapitalismuskritik des Mailänder Philosophen Diego Fusaro stellt), eine Ausstellung über Aufbruch und Umbruch im Werk von Käthe Kollwitz im Käthe Kollwitz Museum in Köln (FR), die Ausstellung "The Long Now" im me Collectors Room (taz), ein Band über den "Kulturbund auf dem Eibenhof" am Scharmützelsee (Berliner Zeitung) und eine Ausstellung der Polaroids von Wim Wenders im C/O Berlin (FAZ).
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