Efeu - Die Kulturrundschau

Nennen wir es Wiener Voodoo

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18.07.2018. Der Guardian steht hingerissen vor den New-York-Fotos von Saul Leiter. Ärger gibt's im Burgtheater, wo Martin Kusej das Ensemble umbaut, berichtet der Standard, der schon um das schöne Begräbnis für einige Schauspieler fürchtet. Die NZZ würdigt den französischen Comiczeichner Lewis Trondheim als Autor. Der Tagesspiegel erinnert an die Verdienste der nun endgültig untergegangenen Weinstein Company für den Film.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.07.2018 finden Sie hier

Kunst

Saul Leiter, Taxi, 1957. ©Saul Leiter Foundation, Courtesy Gallery FIFTY ONE


Guardian-Kritiker Sean O'Hagan steht in Barcelona staunend in der Foto Colectania Galerie vor 130 Fotoarbeiten des erst im späten Alter zu Ruhm gelangten Saul Leiter. New York ist sein Thema, aber nicht das wuselige New York von Garry Winogrand oder Joel Meyerowitz. "Was Leiter statt dessen einfängt und steigert, ist die Atmosphäre eines anderen, älteren Manhattans - ein fast ruhiger Ort, manchmal von warmem Sommerlicht durchflutet, manchmal von fallendem Schnee bedeckt. Oft fotografiert er durch beschlagene Fenster oder fängt eine vorübergehende Reflexion ein. Er hält die Menschen fest werden in einem Moment der Abwesenheit, wenn sie an Ampeln warten oder in einem stehenden Auto vor sich hin träumen. Manchmal fotografierte er nachts oder in der Dämmerung, gerade als das Licht verblasste, so dass die Menschen als geisterhafte Silhouetten gegen die tiefen Rot- und Grüntöne von Werbetafeln und Neonschildern erscheinen. Er isoliert einzelne menschliche Figuren in starkem Relief gegen Schnee oder Regen. Schirme sind ein wiederkehrendes Motiv, ihre kreisrunde Geometrie zieht das Auge unwiderstehlich an, wie ein Spritzer Rot oder Orange in einem impressionistischen Gemälde."

Besprochen werden außerdem eine Ausstellung Museum of the City of New York mit Zeichnungen rebellischer Frauen in der viktorianischen Ära (Guardian), die Otto-Wagner-Ausstellung im Wien Museum (NZZ) und eine Werkschau von Roman Ondak im Kunstforum Ostdeutsche Galerie in Regensburg (FAZ).
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Bühne

Ärger am Burgtheater. Martin Kušej, der sein Amt als neuer Intendant im Herbst 2019 antritt, baut bereits das Ensemble um, berichtet Margarete Affenzeller im Standard. "Vor allem die Hartmann-Leute würden das Haus verlassen, sagt ein Ensemblemitglied, das ungenannt bleiben möchte", andere Schauspieler werden Kusej vom Residenztheater nach Wien folgen. "Viele stellen sich derzeit aber die Frage: Können fundamentale personelle Änderungen ein Haus nachhaltig schädigen? Gerade an der Burg spielt das Ensemble traditionell eine große Rolle: Der besondere Nimbus von Burgschauspielern liegt in der historischen Bedeutung des Theaters begründet. Deren Künstler genossen zur Kaiserzeit gesellschaftlich höchstes Ansehen. Sie waren meist auf Lebenszeit angestellt. Ein geradezu herrschaftliches Porträt wie das der ersten Doyenne Christiane Weidner anno 1786 spricht Bände. Wie kein anderes deutschsprachiges Theater ehrt das Haus seine Publikumslieblinge mit in Auftrag gegebenen Gemälden für die Porträtgalerie. Auch die Begräbnisrituale der Ehrenmitglieder sind einzigartig."

Im darunter stehenden Interview wiegelt Martin Kusej ab: "Der Großteil des derzeitigen Ensembles wird weiter auf den Burgtheater-Bühnen zu erleben sein. Die Zahl von 40 Prozent ist falsch."

Außerdem: In der taz berichtet Luise Glum von einer interaktiven Theaterperformance des Künstlers Franz Wanner, der zuvor in München Räume aufgesucht hatte, die der BND für sich beansprucht. Nachgetragen sei noch ein Artikel aus der taz von gestern, in dem Daphne Weber über erste Versuche von Theaterschaffenden informiert, sich gewerkschaftlich zu organisieren.
Archiv: Bühne

Literatur

Les petits riens - Lewis Trondheim
Anhand der Karriere des französischen Comiczeichners Lewis Trondheim schreibt Christian Gasser in der NZZ über das sich wandelnde Selbstbild in Trondheims Zunft: "Die gegenwärtige Vielfalt und Qualität der Comics hat mehrere Ursachen. Ein wesentlicher Grund ist das Selbstverständnis der Comic-Schaffenden, das sich in den letzten 25 Jahren grundlegend verändert hat. Sie haben ihre Rolle als Dienstleister ihrer Figuren und Verlage abgelegt und verstehen sich heute als Autoren. Erst dieses Selbstbewusstsein ermöglichte es, die Comics von ihrer stereotypen Formelhaftigkeit zu befreien. In diesem Prozess spielte der 1964 geborene Lewis Trondheim eine zentrale Rolle, und so gilt er bis heute als Inbegriff des modernen Comic-Autors."

Weitere Artikel: Der Vorwurf sexueller Übergriffe hat den israelischen Schriftsteller Ari Shavit vor ein paar Jahren zum Verstummen gebracht. Ein großes (hinter einer Paywall verstecktes) Interview in Haaretz markiert jetzt seine Rückkehr in die Öffentlichkeit, berichtet Anja Reich in der FR. In dem Gespräch zeige Shavit sich zwar konsequent geläutert - aber gut lesen lässt sich das dennoch nicht, meint Reich: "Jedes Wort klingt, als sei es mit einem Therapeuten und Anwalt abgesprochen, das Gegenteil der klaren, schnörkellosen Sprache seiner Texte über den Nahost-Konflikt. ... Das Interview wirkt unehrlich, verzweifelt und berechnend. Man spürt Shavits Bedürfnis, geliebt zu werden, alles richtig zu machen." Zu lange für eine Auswertung am frühen Morgen, zu vielversprechend um bis zur nächsten Magazinrundschau zu warten: In einem episch langen Artikel beim Guardian verspricht Andrew Brown, alles Wissenswerte zu dem "hässlichen Skandal", der in diesem Jahr zur Absage des Nobelpreises geführt hat, zusammengetragen zu haben.

Besprochen werden unter anderem Johannes Franzens Studie "Indiskrete Fiktionen. Theorie und Praxis des Schlüsselromans 1960-2015" (Tagesspiegel), Waguih Ghalis "Snooker in Kairo" (NZZ), Alberto Breccias Comic "Lovecraft" (taz), Ananij Kokurins "Der Tisch" (FR), Sabine Haupts "Der blaue Faden - Pariser Dunkelziffern" (NZZ), Mike Wilsons "Rockabilly" (ZeitOnline), Meg Wolitzers "Das weibliche Prinzip" (Berliner Zeitung) und Vincent Almendros' "Ein Sommer" (taz).
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Film

Mit dem Verkauf der Weinstein Company an die Investoren Lantern Capital, die die Filmbibliothek künftig unter dem Titel Lantern Entertainment auswerten will, geht zumindest hinsichtlich der Filmproduktion eine zumal in den Neunzigern besonders ruhmreiche Ära der amerikanischen Filmgeschichte zu Ende, schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel: Damals holte Weinstein den Indie-Film in den Mainstream und begründete die Karrieren zahlreicher heute namhafter und gefeierter Filmemacher. Und heute? "Eine neue Zeitrechnung beginnt. In Hollywood erreicht mit der Fusion von AT&T und Time Warner sowie der geplanten Übernahme von 20th Century Fox durch Disney die Konzentration von globalen Unterhaltungskonzernen bald ihren Sättigungsgrad. Traditionelle Filmstudios wie Miramax oder die Weinstein Company, die im klassischen Sinn mit Regisseuren - früher: Autorenfilmern - arbeiten, diese aufbauen und zu kommerziellen Erfolgen verhelfen, gehören wohl der Vergangenheit an. Kleinere Studios wie Blumhouse erzielen allenfalls noch Achtungserfolge."

Das zeigt sich auch in Deutschland, wo die wenigen Studios, die professionell produzieren können, derzeit zur Freude der Buchhaltung zwar kurz vor der "Überhitzung" stehen, wie Thomas Magenheim-Hörmann in der FR schreibt. Der Grund: Streaming-Angebote wie Amazon und Netflix sorgen derzeit für hohe Buchungszahlen. "Für eine Firma wie Bavaria, die 2019 ihr hundertjähriges Bestehen feiert und in mancher Hinsicht nicht die modernste ist, hat das allerdings auch seine Schattenseiten. 'Wir haben Nachholbedarf', räumt Franckenstein ein. Mit modernisierungswürdiger IT, fehlendem Kreativpersonal in Form von Autoren oder Topschauspielern und Kapazitätsengpässen bei den Studios gibt es gleich mehrere Baustellen, die alle Geld kosten."

Weitere Artikel: Michael Kienzl berichtet auf critic.de sympathisch abschweifend vom Filmfestival in Bologna, bei dem sich alles um das sinnliche Erleben von Filmgeschichte dreht. Auf ZeitOnline spricht Maria Furtwängler über feministische Erweckungserlebnisse und ihr Engagement für mehr Frauen in Film und Fernsehen. In der SZ berichtet  Cathrin Kahlweit von den Plänen des Drehbuchautors Andrew Davies, Jane Austens unvollendeten Roman "Sanditon" fürs Fernsehen zu einem Abschluss zu bringen. Andreas Busche (Tagesspiegel), Fritz Göttler (SZ) und Tobias Sedlmaier (NZZ) gratulieren Paul Verhoeven zum 80. Geburtstag,

Besprochen werden Astrid Johanna Ofners essayistische Peter-Weiss-Verfilmung "Abschied von den Eltern" (Standard), die Fortsetzung des ABBA-Musicals "Mamma Mia" (SZ), Stefano Sollimas "Sicario 2" (FAZ) und Sacha Baron Cohens TV-Satire "Who Is America?" (Welt).
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Musik

Traditionelle Americana, auf Wienerisch neu eingespielt - kann das funktionieren? Na aber klar doch, versichert Karl Fluch im Standard, nachdem er Ernst Moldens neues Album "Hurra" gehört hat. Das Ausgangsmaterial findet Molden unter anderem bei Woody Guthrie und Gillian Welch, skelettiert aufs Wesentliche wird es zudem: "Das Sopransaxofon furzt bodennah wie ein Landstreicher nach einem scharfen Gumbo - es herrscht eine gewisse Trägheit, doch sollte man sie nicht mit Fadesse verwechseln. Die Musik stapelt tief, ist aber feinfühlig gespielt und gescheit getextet, eine Mischung aus Zucker und Gift: Nennen wir es Wiener Voodoo. Sie ist mit sicherem Instinkt von einer Sprache in die andere transformiert worden, ohne ihre Emotionalität am Grenzbalken abzugeben." Da hören wir doch gerne mal rein:



Weitere Artikel: Eric Facon empfiehlt in der NZZ ein Konzert von Southside Johnny. Jens Uthoff (Berliner Zeitung) und Christian Schröder (Tagesspiegel) erinnern an die vor 30 Jahren gestorbene Sängerin Nico.

Besprochen werden das neue Album der Nine Inch Nails (FR), David Longstreths neues, unter dem Alias Dirty Projectors veröffentlichtes Album "Lamp Lit Prose" (SZ) und weitere neue Popveröffentlichungen, darunter das zweite Album der Postpunk-Band Nose Picker, die laut SZ-Kritikerin Juliane Liebert zwar nicht gerade das Rad neu erfinden, aber sympathisch knochentrockene Schrammelriffs bieten: "Wie schön." Eine Kostprobe:

Archiv: Musik