Efeu - Die Kulturrundschau

Bedrückend dionysisch

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20.03.2017. In der Wiener Burg-Inszenierung von Aischylos' "Orestie" sehen Standard und Nachtkritik das schwarze Blut von Bürgern die Bühne hinunterrinnen. Der NZZ schallt aus Frankfurts Altstadt ein Aufschrei nach verlorener Heimeligkeit entgegen. Die FAZ bringt ein Zehn-Punkte-Papier gegen Schinkels Bauakademie. Die SZ hätte Sebastiano del Piombo gern vor der Freundschaft Michelangelos bewahrt. Im Standard erlebt die Schauspielerin Taraneh Alidoosti den Iran auf einmal richtig punkig. Und alle trauern um Chuck Berry: Be good!, ruft Barack Obama ihm nach.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.03.2017 finden Sie hier

Musik


Chuck Berry ist gestorben - und damit "der fleischgewordene Rock'n'Roll", wie Karl Fluch im Standard schreibt. Mit seinen Klassikern "Johnny B. Goode", "Rock And Roll Music" und "Roll Over Beethoven" schuf er "drei Lieder, die die Welt verändert haben", würdigt Thomas Stillbauer den Verstorbenen in der FR. Berrys stilbildendes Gitarrenspiel war "virtuos auf eine sehr eigene, kantig unbeholfene Art", merkt Stefan Hentz in der NZZ an. Zu Berrys wichtigstem Verdienst zählt Tagesspiegel-Autor Bodo Mrozek "die E-Gitarre als das maßgebliche Instrument des Rock'n'Roll überhaupt erst etabliert zu haben." Matthias Heine macht in der Welt eine andere Leistung stärker: Berry "öffnete die Schleusen, durch die der Rhythm & Blues in den Hauptstrom des zunächst sehr weißen Rock 'n' Roll floss und diesen schwarz färbte." Berry schuf die "Ästhetik des Rock", schreibt Jens-Christian Rabe in der SZ. Diese bringe es fertig, "das Allerprofanste als quasi-religiöses emotionales Hochamt aufzuführen. Das kulturelle Klima des Westens war danach ein anderes." Wie sehr Berry am gesellschaftlichen Klima litt, fokussiert Julian Weber in der taz, der unter anderem die schlimme Lage der afroamerikanischen Bevölkerung in den 50ern hervorhebt. Weitere Nachrufe in FAZ, Berliner Zeitung und auf ZeitOnline. OpenCulture dokumentiert unterdessen, wie Chuck Berry auf die ersten Punkrock-Scheiben reagierte.



Weiteres: Für die taz porträtiert Jan Paersch den israelischen Jazzer Omer Klein, der für eine Tour nach Deutschland kommt. Jonas Engelmann schreibt in der Jungle World über den verweigerungssüchtigen Musiker Mark Wynn. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Philipp Krohn über "The Musical Box" aus der noch von Peter Gabriel geprägten Frühphase von Genesis.



Besprochen werden ein Auftritt von Depeche Mode (taz, Tagesspiegel, Berliner Zeitung), der Auftakt der Berliner MaerzMusik mit einem Julius Eastman gewidmeten Abend (Tagesspiegel, SZ), ein Konzert des Schlagzeugers Martin Grubinger (NZZ) und eine neue Platte von Judith Holofernes (Tagesspiegel).
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Architektur

Ausgerechnet Frankfurt, die einzige deutsche Stadt mit einer nennenswerten Skyline, rekonstruiert seine Altstadt wie in einer "altmodischen Märchenstunde", stöhnt Jürgen Tietz in der NZZ, den dieser "gebaute Aufschrei nach verlorener Heimeligkeit" geradezu sin Verzweiflung stürzt. Aura muss doch wahrhaftig sein, um sich zu entfalten: "Der große Irrtum einer derart fiktionalen Stadtarchitektur ist es, dass sie wie eine gebaute Zeitmaschine wirkt. Doch sie ist nur ein Abziehbild einer deutschen Seelenlandschaft, in der die Verwundungen der Kriegs- und Nachkriegszeit bis in die nach-nachfolgende Generation andauern. So entsteht eine weinerliche Mischung aus Verlust und Verdrängung, aus romantischer Sehnsucht und einer Unfähigkeit zu trauern." Und dass dabei gerademal sechzig neue Wohnungen herausspringen, findet er auch nicht sehr zukunftsweisend.

Apropos Rekonstruktionswahn: Der Bund will 62 Millionen Euro für den Wiederaufbau von Schinkels Bauakademie in Berlin, in einem Zehn-Punkt-Papier fürchten die Kuratoren und Kritiker Oliver Elser, Florian Heilmeyer und Ulrich Müller in der FAZ Schlimmstes: "Die Neue Bauakademie darf kein zweites Stadtschloss werden. Das Humboldtforum ist zum neopreußischen Fassadenzombie geworden, hinter dessen Oberfläche aus Natursteinschnitzereien eine zeitgenössische Kulturmaschine versteckt wird. Deren inhaltliche Ausrichtung wurde viel zu spät definiert, was zu den bekannten gewaltigen Konflikten mit dem Schlossfassadenkorsett geführt hat. Der Bauakademie droht jetzt dasselbe Schicksal. Ein Architekturwettbewerb mit dem Zwang zur Fassadenrekonstruktion würde ein weiteres Debakel produzieren."
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Bühne


Bürger als bluttriefende Körper: Aischylos' "Orestie". Foto: Burgtheater.

Klug, aber ein wenig brav findet Margarete Affenzeller im Standard Antú Romero Nunes' Inszenierung von Aischylos' "Orestie": "Sie ist solide und setzt optisch ganz auf Antikenfantasie: Mythologische Kleistergesichter, -gewänder und Landschaften. Das 'schwarze Blut der Bürger' rinnt wie direkt vom Opferaltar mittig die leichte Bühnenschräge herab." In der Nachtkritik erscheint Leopold Lippert einiges an der Inszenierung etwas trashig, aber ihre Körperlichkeit doch sehr soghaft: "In dieser Orestie wird über weite Strecken beeindruckend chorisch erzählt und abgewogen. Gleichzeitig ereignet sich ein bedrückend dionysischer Blutrausch, der hochdramatisch auf die Betroffenheit der Zuschauer*innen setzt. Nunes gibt dem gesprochenen Wort ausreichend Raum (Übersetzung von Peter Stein). Aber er lässt auch rachlüsterne, bluttriefende Körper spektakulär aufeinander los."


Ulrich Matthes und Olivia Grigolli im "Tod eines Handlungsreisenden". am Deutschen Theater. Foto: Arno Declair

In der FAZ erlebt Simon Strauss Bastian Krafts Inszenierung von Arthur Millers "Tod eines Handlungsreisenden" am Deutschen Theater als maßgeschneidert für Ulrich Matthes: "Für ihn und sein facettenreiches Verzweiflungsspiel hat er die Bühne leergeräumt, alle Ausstattung und Regieeinfälle auf das Wesentliche reduziert. Nur eine Lampe baumelt wie ein Galgenstrick über Matthes Kopf. Ansonsten ist er auf weiter Flur allein mit der großen Anstrengung, die ihn sein Leben kostet." Nicht richtig überzeigt von Millers Stück, das bei aller Kapitalismuskritik doch sehr am American Dream hänge, meint Michael Wolf in der Nachtkritik: "Bastian Kraft setzt mit seiner Inszenierung eher ein ästhetisches, denn ein politsches Statement."

Weiteres: In der SZ durchsteht Rudolf Neumaier Frank Castorfs siebenstündige "Faust"-Inszenierung zwischen Mitternacht und Morgengrauen. Mit großer Begeisterung berichtet Michael Laages in Nachtkritik von Leander Haußmanns "Cyrano de Bergerac", bei der ihm vor allem die von Klaus Figge choreografierten Fechtszenen imponiert haben: "Auch deshalb gelingt, mit Meister Figge, der tiefstmögliche Sprung hinein in die Vergangenheit."

Besprochen werden Rossinis Oper "Elisabetta, regina d'Inghilterra" im Theater an der Wien (Standard) und Paul Hindemiths Oper "Mathis der Maler" in Mainz (FAZ).
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Kunst


Sebastiano del Piombo, Solomons Urteil, etwa 1506-9

Sehr ungerecht findet Kia Vahland in der SZ, wie die National Gallery in London den Renaissance-Maler Sebastiano del Piombo zum bloßen Getreuen Michelangelos degradiert, und das auch noch im Namen der Künstlerfreundschaft: "Michelangelo gönnt seinem Freund weit weniger als dieser ihm, ab und an schadet er ihm gar. Als der Venezianer ihn einmal bittet, beim Vatikan zu erwirken, dass er einen Auftrag bekommt, tut Michelangelo das in einem so höhnischen Brief, dass Sebastiano zum Gespött am Hofe wird. 'Dein Brief ist das einzige Gesprächsthema im Palast, alle lachen', schreibt Sebastiano dem Freund ohne Vorwurf. Und ergänzt: 'Du wirst mich immer als Freund behalten, gekocht oder geröstet. Ich werde dazu nichts mehr sagen, du bist der Meister.' Vielleicht hätte er sich lieber einen Freund gesucht, der nicht so viel mächtiger war als er und vor allem nicht so launisch."

Weiteres: Ingo Arend ist in der taz ganz hingerissen von der Sanftmut, mit der sich die Autokratie in Dubai präsentiert. Auch die Offenheit des dortigen Global Art Forum findet er in einem Text, der sich wie ein Advertorial liest, große Klasse: "Selbstverständlich sind die Emirate eine Autokratie, die auf rechtloser Fremdarbeit und Zensur gründet. Freilich eine sanfte, verglichen mit den martialischen Attitüden Donald Trumps." Besprochen wird die Ausstellung "Max Liebermann und der Sport" in der Liebermann-Villa in Berlin (FAZ).
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Literatur

Der deutschen Literatur geht es prächtig. Das behauptet zumindest Gerrit Bartels, der vor der am Mittwoch beginnenden Leipziger Buchmesse im Tagesspiegel darüber staunt, wie ungestüm und vital sich die Debüts des literarischen Nachwuchses (etwa von Fatma Aydemir und Takis Würger) und überhaupt die Neuerscheinungen der Saison zeigen. Umso ärgerlicher findet er es, dass die Buchmesse noch immer keinen eigenständigen Preis für die Lyrik auslobt und auch in der Belletristik in erster Linie auf Literatur mit besonders großem L setzt: "Von Aufbruch und Sturm und Drang kann bei dieser betulichen Auswahl keine Rede sein. Hier wird eine ganze Generation ignoriert, die zwar handwerklich noch ihre Schwächen hat, naturgemäß auch kein Werk (wieder Großbuchstaben!), aber viele Stoffe, Lebensstoffe, direkt aus der Gegenwart, und eben den Drang, diese aufzubereiten."

Für den Tagesspiegel besucht Gregor Dotzauer Litauen, das in diesem Jahr Gastland der Leipziger Buchmesse ist. Judith Leister liest sich für die NZZ durch die Neuerscheinungen aus Litauen. Ihre Beobachtung dabei: "Autoren wie Laurynas Katkus, Eugenijus Alisanka oder Marius Ivaskevicius untersuchen die Brüche und Gräben, die das 20. Jahrhundert und die jüngste Vergangenheit im kollektiven Schicksal und in individuellen Lebensläufen hinterlassen haben. Die Loslösung von hergebrachten Narrativen und die Suche nach Identität, die Rolle Litauens in Europa und das Verhältnis zu Russland spielen eine zentrale Rolle."

Derek Walcott war "der letzte große Lyriker der Moderne", schreibt Tobias Döring im FAZ-Nachruf auf den verstorbenen Literaturnobelpreisträger, und zwar dergestalt, "dass in jedem seiner Verse eine Elegie auf die verlorene Sprachmacht mitschwingt". Und: Seine Gedichte "waren der Inbegriff einer neuen, selbstbewussten Weltliteratur nach dem Ende der kolonialen Ära", schreibt Richard Kämmerlings in der Welt: "Walcott erschien als Homer für unsere Zeit, der die Antillen mit der griechischen Inselwelt der Antike dichterisch verschmolz." (Bild: Bert Nienhuis, 2008. CC BY-SA 3.0)

Weiteres: Hans-Peter Kunisch berichtet in der SZ von den Debatten auf der Litcologne. Für die FAZ war Oliver Jungen bei diesen "anderthalb Wochen Literaturkarneval." FAZ-Kritiker Andreas Platthaus besucht gemeinsam mit Schriftstellerin Hanya Yanagihara das Kunstmuseum Stuttgart. Im Tagesspiegel schreibt Ralph Trommer einen Nachruf auf den Comickünstler Bernie Wrightson.

Außerdem sind in den Mediatheken des Hörfunks über das Wochenende einige interessante Sendungen zusammengekommen: Im SWR2-Forum diskutieren Martin Ebel (Tagesanzeiger), Meike Feßmann (Autorin und Kritikerin) und Dirk Knipphals (taz) über die Arbeit von Preisjurys. Ein WDR-Feature befasst sich mit Matthias Énards Roman "Kompass". In der SWR-Sendereihe "Zeitgenossen" spricht Anja Brockert mit dem Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel. Und Deutschlandradio Kultur erkundet im Feature von Maike Albath Venedig in der Literatur.

Besprochen werden Lukas Bärfuss' "Hagard" (Tagesspiegel, Freitag), der erste Band der Ingeborg-Bachmann-Gesamtausgabe (Tagesspiegel), der zweite Band von Karl-Heinz Bohrers Memoiren (Zeit), Tomas Espedals "Biografie, Tagebuch, Briefe" (Freitag), Clemens Meyers neuer Erzählband "Die stillen Trabanten" (SZ), Steffen Popps Lyrikband "118" (Standard), Riad Sattoufs Comic "Esthers Tagebücher" (Tagesspiegel), Arno Franks "So, und jetzt kommst Du" (FAS) und neue Hörbücher, darunter "Harry Rowohlt erzählt sein Leben von der Wiege bis zur Biege" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Frieder von Ammon über Phalaikos' "Kenotaph für einen Schiffbrüchigen":

"Phokos ging in der Fremde zugrunde. Denn der Woge konnte sein schwarzes
Schiff nicht entrinnen und hielt ihr nicht stand.
..."
Archiv: Literatur

Film

Im Standard unterhält sich Dominik Kamalzadeh mit der iranischen Schauspielerin Taraneh Alidoosti über Asghar Farhadis "The Salesman", in dem sie die Hauptrolle spielt: Sie glaubt, dass die Situation der Künstler und Filmemacher in ihrem Land sich derzeit etwas bessert: "Schon allein durch das Internet hat diese Generation eine andere Sensibilität. Sie hat keine Angst davor, dass ihre Filme keine Erlaubnis bekommen, gezeigt zu werden. Die Leute wissen, dass sie anderswo ihre Zuschauer finden. Ich sehe da wirklich eine Veränderung. Auch die Gesellschaft wird punkiger, roher, direkter - es gibt weniger Platz für Postkartenkunst."

Besprochen werden Tatjana Turanskyjs und Marita Nehers "Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen" (Freitag) und eine DVD-Ausgabe von Fernando Birris Experimentalfilm-Epos "ORG" aus den 70ern mit Terence Hill in der Hauptrolle (SZ, unsere Besprechung hier).


Szene aus Fernando Birris Experimentalfilm "ORG"
Archiv: Film