Mathias Enard

Kompass

Roman
Cover: Kompass
Hanser Berlin, Berlin 2016
ISBN 9783446253155
Gebunden, 432 Seiten, 25,00 EUR

Klappentext

Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. "Kompass" ist eine Beschwörung der jahrhundertelangen Passion des Westens für die orientalische Kultur. Unter dem Schock einer alarmierenden medizinischen Diagnose verbringt Franz Ritter, Musikwissenschaftler in Wien, eine schlaflose Nacht. Er begibt sich im Geiste noch einmal an die Orte seiner Forschungsreisen: Istanbul, Damaskus, Aleppo, Palmyra - alles Städte, die für ihn untrennbar mit Sarah verbunden sind, der berühmten Orientalistin, seiner großen Liebe. Seine Erinnerung zaubert immer mehr Fakten, Romanzen und Geschichten hervor, die alle von dem entscheidenden Beitrag des Orients zur westlichen Kultur und Identität zeugen.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 22.03.2017

Orientalismus und Liebe, beidem liegt das Begehren zu Grunde, die Grenzen des Ich beziehungsweise die Grenzen der eigenen Kultur zu überschreiten, liest Rezensent Ulrich Gutmair in Mathias Enards gelehrtem Roman, für den der Autor gerade den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung bekommen hat, und das zu recht, findet Gutmair. Mal brav, fast neurotisch detailverliebt, mal mutig essayistisch und stets mit subtilem Humor gewürzt, lässt Enard seinen Romanhelden, einen Musikwissenschaftler und leidenschaftlichen Orientalisten, wie einst Scheherezade um sein Leben und gegen eine mysteriöse Krankheit anerzählen, lesen wir. Was dabei entsteht, so der Rezensent, liest sich wie eine "kleine Geschichte des Orientalismus", aber auch ein Nachdenken, ein Reflektieren über etwas, das schon Goethe im West-östlichen Divan feststellte: "Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen."

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 24.11.2016

Rezensent Ijoma Mangold ist unschlüssig, ob er Mathias Enards neuen Roman "Kompass" als "Buch zur Stunde" bezeichnen soll. Denn im Grunde genommen ist die Liebesgeschichte der beiden Orientalisten Franz und Sarah, in der Enard von der wechselseitigen Durchdringung zwischen Orient und Okzident erzählt, vielmehr ein "eskapistischer" Roman, glaubt der Kritiker. Und so flieht Mangold mit Enards Erzähler Franz in einem inneren Monolog in eine Welt, in der kultureller Dialog jenseits von IS und identitären Bewegungen noch möglich ist. Fasziniert liest der Rezensent zudem, wie es dem Autor in seiner Version von 1001 Nacht gelingt, gelehrte Exkurse zum Orientalismus, Liebe, Sinnsuche, Melancholie und metaphysische Sehnsucht miteinander zu verbinden.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.10.2016

Rezensent Niklas Bender kann mit der minimalistischen Rahmenhandlung in Mathias Enards zehntem Roman leben. Das Fleisch liegt dazwischen, meint er, Erinnerungen und Bezüge und ein ganzer Dialog zwischen Orient und Okzident. Wenn Enard Ideen und Werke auflistet, Personen und Geschichten von Cervantes bis Pessoa, Annemarie Schwarzenbach bis Edward Said, um die Beziehungen zwischen Abend- und Morgenland zu illustrieren, raucht dem Rezensenten zwar der Kopf, und er findet, etwas weniger Bildungshuberei hätte es auch getan, doch Enards verspielter Stil lässt Bender diese Liebesgeschichte in Bezügen und Enard als Beweis einer jungen kosmopolitischen französischen Literatur schließlich doch ins Herz schließen.
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 08.09.2016

Rezensentin Vanessa de Senarclens kann in Mathias Enards poetischem Orientspaziergang keine westliche Projektion erkennen, keinen Versuch, wie bei Edward Said, orientalische Machtstrukturen offenzulegen, oder gar eine Männerfantasie über den Harem. Der Rückblick von Enards Protagonist, einem Musikwissenschaftler, der sich in einer schlaflosen Nacht an seine Reisen nach Palmyra, Aleppo und Teheran erinnert sowie an die Liebe zu einer Literaturwissenschaftlerin, die über deutsche Schriftsteller im Orient forscht, erscheint der Rezensentin als eine meisterlich umgesetzte literarische Wanderung in der Tradition der Orientreise, die die Spuren des Orients in der Kunst verfolgt.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 27.08.2016

Was für ein Wunderding von einem Roman, meint Joseph Hanimann über Mathias Enards Buch. Zähe Debatten- und Thesenliteratur ist der Roman für Hanimann jedenfalls nicht, eher eine Wundertüte, in der zwar keine Story knistert, dafür aber Bücher und Ereignisse, die in einen Reigen treten und den Leser auffordern, in den Kopf des Protagonisten zu steigen und seinen sich weit verzweigenden Erinnerungen zu folgen, von seinen Orientreisen und Forschungsexpeditionen. Der bewegende Lebensrückblick des weltreisenden Musikwissenschaftlers Franz Ritter hat es in sich, erläutert Hanimann. Ein Geschichtspanorama über die Beziehungen zwischen Abend- und Morgenland und gegen die grassierende Horizontverengung, meint er.
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Rezensionsnotiz zu Die Welt, 20.08.2016

Mathias Enards "Kompass" ist definitiv ein Roman, aber schon lange hat sich niemand mehr getraut, einen Roman derart mit Geistesgeschichte voll zu packen, staunt Tilman Krause. In vielen kleinen Geschichten, die der fieber- oder opiumträumende Orientalist Franz Ritter in seiner Wiener Wohnung erinnert, wird eine große Geschichte erzählt, erklärt der Rezensent: die des europäischen Traums vom Orient., beziehungsweise vom Orient als europäischem Traum - Enard offenbart diesen Orient als die ureigenste Fantasie des Westens von einer verheißungsvollen Fremde im Osten, erklärt Krause. Diese Fantasie breitet Enard aus, lädt zum Mitträumen oder Nachdenken ein und wurde dafür ganz zu recht mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, findet der Rezensent.