Efeu - Die Kulturrundschau

Verschmachten in der Wüste

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21.10.2016. Ach wenn die Deutschen doch so gut in Dekadenz sein könnten wie Italiener und Franzosen, klagt die Welt. Die FAZ lernt in Neil LaButes Konstanzer Tschechow-Inszenierung einen Straßenhund zu lieben. Kongenial findet die NZZ Andrea Breths Amsterdamer Inszenierung von Puccinis wilder "Manon Lescaut". Die SZ schwelgt in den kantigen Grooves des Jazzmusikers Donny McCaslin. Und die Jungle World fürchtet, dass Bob Dylan aus seiner diogenes-artigen Nische nie mehr herauskommt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.10.2016 finden Sie hier

Film

Wir freuen uns: Unser Autor Thomas Groh wurde für seine beim Perlentaucher veröffentlichte Besprechung des letzten James-Bond-Films "Spectre" für den Siegfried Kracauer Preis für die beste Filmkritik des Jahres nominiert. Außerdem auf der Shortlist stehen Till Kadritzke (critic.de), Oliver Kaever (ZeitOnline), der ehemalige Perlentaucher Ekkehard Knörer (Cargo) und Cosima Lutz (Welt).


Immer noch ein Stückchen weiter: Der Meta-Film "Where is Rocky II?"

Hat der Künstler Ed Ruscha in der Wüste einen aus Glasfiber erstellten, künstlichen Stein namens "Rocky II" platziert, ohne dass die Öffentlichkeit von der genauen Position in Kenntnis gesetzt wurde? Dies behauptet jedenfalls Pierre Bismuth, sonst als Drehbuchautor auf exzentrische Kinostoffe verlegt, in seinem mit fiktionalen und dokumentarischen Mitteln spielendem Essayfilm "Where is Rocky II?", der Bert Rebhandl in der FAZ ziemlich verblüfft hat: "Wer gedacht hatte, dass das Kino alle Formen von Mockumentary und Selbstreflexivität schon durch hat, wird von Bismuth eines Besseren belehrt. Es geht immer noch ein Stückchen weiter." Auch Daniel Kothenschulte von der FR ist erstaunt über diesen Film: "Das Spiel mit Wahrheit und Fiktion nimmt einen eigenen Lauf." Johannes Bluth von critic.de fühlt sich am Ende "auf eine wohlige, irgendwie einlullende Art und Weise übers Ohr gehauen."

Außerdem: Für die Welt unterhält sich Hanns-Georg Rodek mit Jude Law über seine Rolle als erster amerikanischer Papst in der Serie "The Young Pope". Lahme Gags und predigender Tonfall: Michael Moores in Eile zusammengestellter, stramm linker und in nur wenigen amerikanischen Kinos gezeigter Wahlkampf-Film "Trumpland" kann Jürgen Schmieder in der SZ nicht überzeugen. Filmemacher RP Kahl macht in seinem Blog sein zuerst in Blickpunkt Film hinter einer Paywall veröffentlichtes Plädoyer für die Rettung des deutschen Filmerbes zugänglich: Dieses zu retten, aufzuarbeiten und zu vermitteln sei nicht zuletzt "auch ein Bildung-, Wissenschafts- und Job-Motor." Regisseur Christoph Hochhäusler dokumentiert in seinem Blog Parallelfilm seine Laudatio, die er auf die in Köln geehrte Filmemacherin Claire Denis gehalten hat. Der österreichische Dokumentarfilmer Hubert Sauper hat für seinen Film "We Come as Friends" als erster den neuen, von Werner Herzog gestifteten Filmpreis erhalten, meldet Tobis Kniebe in der SZ.

Besprochen werden Alex van Warmerdams "Schneider vs Bax" (critic.de, Artechock, unsere Besprechung hier),  Johannes Nabers Märchenverfilmung "Das kalte Herz" (FR, mehr im gestrigen Efeu), Olivier ­Ducastels und Jacques Martineaus "Théo und Hugo" (Jungle World), der Justiz-Thriller "Im Namen meiner Tochter" (Tagesspiegel), der Thriller "The Accountant" mit Ben Affleck (Artechock, Tagesspiegel), Sven Taddickens "Gleißendes Glück" (FR), der neue "Bridget Jones"-Film (critic.de, ZeitOnline) und Paolo Sorrentinos ab heute auf Sky Atlantic ausgestrahlte Papstserie "The Young Pope" mit Jude Law in der Rolle des Pontifex ("meisterhaft inszeniert, besetzt und gespielt", schreibt Ursula Scheer in der FAZ).
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Musik

In der Jungle World verteidigt Uli Krug Bob Dylan vor dem Literaturnobelpreis und die Literatur vor der Schwedischen Akademie gleich mit. Das Komitee pflege nur die eigene Nostalgie und ehre einen Künstler, der doch schon vor über vierzig Jahren die an ihn gerichteten Erwartungen mit seinem Rückzug in die diogenes-artige Nische von sich gewiesen habe: "Wahrscheinlich ist das die einzige Pose, in der man heute populär bleiben kann, ohne miteinstimmen zu müssen in das gleichbleibende Getöse der Petitionen und Erklärungen gegen Krieg und für Umwelt ... Deshalb kann der Literaturnobelpreis, trotz der dummen Gründe, aus denen er Dylan verliehen wurde, auch einem nichts anhaben, der solche Vereinnahmungsversuche bereits vor 42 Jahren mit den Worten kommentierte: 'It's never been my duty to remake the world at large/Nor is it my intention to sound a battle charge.' Und so hüllt Dylan sich natürlich jetzt in Schweigen."

In der SZ ärgert es Andrian Kreye sehr, dass man David Bowies musikalischen Nachlass in Form dreier Songs, die bei der Session zum letzten Album "Black Star" entstanden sind, lediglich als Dreingabe zum Musical "Lazarus" zu hören bekommt. Stattdessen greife man lieber zum neuen Album "Beyond Now" des Jazzmusikers Donny McCaslin, mit dem Bowie für sein letztes Album zusammengearbeitet hat, rät Kreye: Dieses Album "beginnt wie eine Hommage an Bowies Berlin-Zeiten, also mit einem kantigen Groove, der sich nach ein paar Strophen aber in eine der harmonisch gefestigten Freilaufzonen entlädt, wie sie Miles Davis und seine Jünger in den Siebzigerjahren schufen." Auf Bandcamp kann man das Album anhören und kaufen:



Weiteres: Lorina Speder porträtiert in der taz den Experimentalmusiker Andrea Belfi. Diedrich Diederichsen schreibt in der taz über neue Veröffentlichtungen von The Red Krayola und Scott Walker und was diese mit den kinderpädagogischen Schriften von Dr. Benjamin Spock zu tun haben. Ivan Fischer verlässt das Berliner Konzerthausorchester, meldet Ulrich Amling im Tagesspiegel. Claudius Seidl schreibt in der FAZ zum Tod von Claus Ogerman.

Besprochen werden eine Discografie von Wolfgang Voigts Technoambient-Projekts Gas (Spex), das Debüt der Indierock-Allstar-Band Half-Girl (taz) und das neue Album von Lady Gaga (ZeitOnline, mehr dazu hier).
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Kunst


Beispielhaft dekadent: Hans Makart: Die Pest in Florenz (Decamerone), 1868, Museum Georg Schäfer, Schweinfurt

Die imposante Schweinfurter Fin-de-Siècle Ausstellung "Lockruf der Décadence"  zeigt Tilman Krause einmal mehr, dass die Deutschen im Gegensatz zu Italienern und Franzosen einfach keine Dekadenz können, wie er kokett in der Welt klagt. Aber das habe ja schon Luther in Rom gelernt. "Da ist ihm klar geworden: Diese Stadt stellte zwar die wiederauferstandene 'Hure Babylon' dar. Denn hier wurde gevögelt und geprasst. Hier wurde in allen Lüsten und Genüssen geschwelgt. Aber hier florierten eben auch die Architektur, die Künste, der Geist, das schöne Leben. Im Kontrast dazu hatten die 'trunkenen Deutschen', wie er sie gerne nannte, nur den Suff."

Weiteres: Die in der Frankfurter Buchmesse integrierte Kunstmesse The Arts+, die in diesem Jahr erstmals stattfindet, kann Kolja Reichert in der FAZ nicht überzeugen: "Unter künstlerischen Gesichtspunkten ist diese Ausstellung in ihrer Jahrmarkthaftigkeit ein Witz." Die schlichte, unbekümmerte "Ligne Claire", für die "Tim und Struppi"-Erfinder Hergé steht, sind tatsächlich "das Ergebnis eines wahren Strichgemetzels auf den zahllosen Skizzenblättern", wie sich Joseph Hanimann in der SZ beim Besuch der dem großen Comicmeister gewidmeten Ausstellung im Grand Palais in Paris offenbart.

Besprochen wird die Ausstellung über Antoine Watteau im Städel-Museum (FAZ) und eine Ausstellung zum französischen Bildhauer Edme Bouchardon im Louvre (NZZ).
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Literatur

Nach dem Ferrante-Erfolg gönnt man sich beim lange gebeutelten Suhrkamp Verlag wieder den Raum für intellektuellere Exkurse, stellt in der SZ Johan Schloemann beim traditionellen Buchmesse-Empfangs des Hauses fest. Dort las Karl-Heinz Bohrer aus seinem angekündigten, recht kontraintuitiv betiteltem Erinnerungsband "Jetzt", wie Schloemann mit sanfter Belustigung zur Kenntnis nahm: "Bohrers Buch dürfte vielen Freude machen, die sich für Intellektuellen-Gossip aus möglicherweise heroischeren Zeiten interessieren. Die Zahl derer, die wissen wollen, wie genau es seinerzeit bei Jürgen Habermas' sechzigstem Geburtstag zuging, darf nicht unterschätzt werden."

Die selbst unter einem, allerdings offenen, Pseudonym veröffentlichende Krimiautorin Zoë Beck plädiert in der Berliner Zeitung nach dem Ferrante-Eklat für die Respektierung von künsterlicher Privatsphäre: "Wir Schreibenden brauchen dringend unseren eigenen Raum, um uns selbst und unsere Figuren, unsere Geschichten ausloten zu können. ... [Diesen] unerlaubt zu betreten und wie im Fall von Elena Ferrante diesen klar eingeforderten Schutzraum und die damit verbundenen kreativen Möglichkeiten zu nehmen, ist respektlos und brutal. Offenbar hat dieser gewaltsame Akt gerade eine literarische Existenz vernichtet."

Klaus Kastberger schreibt auf ZeitOnline über den sich wandelnden Aufgabenkatalog, den Literaturhäuser abzuarbeiten haben: "Literaturhäuser sollen die Lücken füllen, die durch die Entwertung von Literatur in schulischen Lehrplänen entstehen. Eine Balance zwischen Festivalisierung und klassischen Präsentationsformen finden. Der heimischen Szene einen Platz geben. Kuratorische Prozesse hinterfragen. Vielleicht gar noch den Geisteswissenschaften bei der Re-Philologisierung helfen?"
   
Weiteres: In der NZZ erklärt sich Cora Stephan zum Landei aus Überzeugung. Das Leben in der Stadt vermisse sie kein bisschen, nur die Freunde: "Von uns Landbewohnern wird erwartet, dass wir in die Stadt fahren, um sie zu treffen." Für die SZ spricht Lothar Müller mit Buchpreisträger Bodo Kirchhoff. Zum 25. Todestag von Ronald M. Schernikau hat konkret ein 1990 mit dem kommunistischen Schriftsteller geführtes Interview online gestellt.

Besprochen werden Gerhard Stadelmaiers Romandebüt "Umbruch" (Nachtkritik), Daniel Kehlmanns Erzählung "Du hättest gehen sollen" (NZZ). Peter Sloterdijks "Das Schelling-Projekt" (Tell), Matthias Brandts "Raumpatrouille" (taz), Peter Terrins "Monte Carlo" (Tagesspiegel), Dagmar Leupolds "Die Witwen" (SZ) und eine Ludovico Ariostos Heldenepos "Der rasende Roland" gewidmete Ausstellung in Ferrara (SZ). Im Perlentaucher bespricht Thekla Dannenberg außerdem neue Krimis von Peter Temple und Malla Nunn.

Mehr aus dem literarischen Leben auf:


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Bühne


Tschechows "Onkel Wanja" am Theater Konstanz.

Simon Strauss ist in der FAZ voll der Lobes: "Ein Ereignis" sei die "Onkel Wanja"-Inszenierung von Neil LaBute, der normalerweise auf großen Bühnen in den USA inszeniert oder gleich Hollywoodfilme dreht, jetzt aber ins entlegene Konstanz gekommen ist. Den Kritiker hat's, anders als die Lokalpresse, überzeugt: "Die Tschechowsche Melancholie wird weder krampfhaft vergeistigt noch aktualisiert, sie läuft einfach mit wie ein alter Straßenhund. Die Dialoge sind ebenso genau inszeniert und aufeinander abgestimmt wie die nuancenreiche Körpersprache der Figuren. LaButes Realismus ist umfassend - und eben nicht nur psychologisch. Unter seiner Führung werden Tschechows Figuren zu Kaltblütern, sie verlieren an Schwere, an Trägheit und finden doch keinen Weg, sich in die Freiheit hinauszuwinden."


Puccinis "Manon Lescaut" an der Dutch National Opera in Amsterdam

Lange Zeit selten gespielt ist Puccinis wilder Vierakter "Manon Lescaut" auf einmal das Stück der Saison geworden, staunt in der NZZ Christian Widlhagen, der in Andrea Breths Amsterdamer Inszenierung eine kongeniale Lösung für Manon Lescaults Verschmachten in der Wüste entdeckte: "Sie geht das Problem vom Ende her an und verlegt die Handlung im surreal getönten Bühnenbild von Martin Zehetgruber komplett in die Wüste. So rieselt der Sand schon in Amiens zur ersten Begegnung der fürs Kloster bestimmten Manon mit ihrem Liebhaber Des Grieux durch die Kulisse; er rieselt, zunehmend gleichnishaft wie bei einer Sanduhr, im nachfolgenden Paris-Bild, das Manons fatale Prunksucht offenbart; und schliesslich ist die Uhr Sandkorn für Sandkorn durch- und abgelaufen, als man die gefallene Schöne von Le Havre aus nach Amerika deportiert, wo sie sich am Nullpunkt ihres Lebens - 'sola, perduta, abbandonata' - gleichsam selbst begegnet."

Besprochen werden Londoner Inszenierungen von "Don Giovanni" und "Così fan tutte" (FAZ) und Simone Dede Ayivis Afrofuturismus-Abend "First Black Woman in Space" in den Berliner Sophiensälen (Nachtkritik).
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