Efeu - Die Kulturrundschau

Eine Welt hinter Glas

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.09.2016. Die FAZ ärgert sich über Literaturkritik als Dauerwerbung, aktueller Fall: Christian Kracht. Die Feuilletons reisen nach Venedig und schauen Wim Wenders in 3D.  In der SZ will der Autor Kamel Daoud junge Heranwachsende mit Kultur vor radikalen Fundamentalisten schützen. Die taz kommt beim Pop Kultur Festival in Berlin nicht in Feierlaune. Und die Welt bewundert Farbholzschnitte in Frankfurt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.09.2016 finden Sie hier

Literatur

Noch herrscht ein Embargo, das den Feuilletons keine Besprechung von Christian Krachts neuem Roman "Die Toten" gestattet. Zwei Ausnahmen gab es dennoch, schreibt ein ziemlich verärgerter Jürgen Kaube in der FAZ: Eine seiner Ansicht nach als Interview getarnte Kritik in der gestrigen Zeit (unser Resümee) sowie ein jovial-kumpeliger Fernsehtalk zwischen dem Autor und (einem dafür offenbar eigens nach Los Angeles eingeflogenen) Denis Scheck. Vor allem dieser mit Floskel-Lametta verzierte Plausch unter offensichtlich miteinander gut Bekannten zieht Kaubes ganzen Zorn auf sich: "Der Kritiker, der im Gespräch mit dem Schriftsteller keine der Beobachtungen, die er am Roman gemacht hat, zur Sprache bringt. Der Kritiker als jemand, der stattdessen ernsthaft fragt, ob der Autor noch derselbe sei wie vor 22 Jahren und ob er auch so körperlich erschlafft sei wie sein Protagonist. ... Hier wird der Unterschied zwischen Reklame und Urteil, zwischen Dauerwerbesendung und Journalismus eingezogen."



Weiteres: Für den Erhalt der Thomas-Mann-Villa in Los Angeles gibt es jetzt eine von Herta Müller in die Wege geleitete Online-Petition, meldet Peter von Becker im Tagesspiegel. Für die FAZ reist Hans-Martin Gauger nach Paraty, der Heimat von Julia Mann, Mutter von Thomas und Heinrich Mann.

Besprochen werden Elena Ferrantes "Meine geniale Freundin" (FR) und Bodo Kirchoffs "Widerfahrnis" (FR).
Archiv: Literatur

Film


Welt hinter Glas: Wim Wenders' "Die schönen Tage von Aranjuez"

Venedig
, zweiter Tag. Gezeigt wurde unter anderem Wim Wenders' Verfilmung von Peter Handkes Theaterstück "Die schönen Tage von Aranjuez", die im wesentlichen einen in 3D gefilmten, langen Dialog zeigt. Beim Publikum hat der Filmemacher damit allerdings einen schlechten Stand, entnehmen wir den Kritiken. Christiane Peitz fühlt sich von Wenders von der hohen Kanzel herab zurechtgewiesen, gesteht sie im Tagesspiegel: "Wenders ist eben auch ein Mahner, ein Prediger, der sein Publikum zur Besinnung bringen will: Chattet und googelt nicht nur, redet miteinander! Ach ja."

Zurechtgewiesen wird sie auch von SZler Thomas Steinfeld, der Wenders' Werk attestiert, "ein kleiner Film für ein kleines Publikum" zu sein. "Doch wenn das Publikum es schwierig findet, sich zu sammeln, so ist es dessen Manko. Denn zum Nachdenken gibt es in diesem Film mehr als genug, in Worten wie in Bildern." Andreas Kilb von der FAZ sah "eine Welt hinter Glas. ... [Wenders hat] eine Installation für vier Personen und eine Jukebox gemacht. Man wünschte sich, Reda Kateb und die wunderbare Sophie Semin könnten vor der Kamera tun, was Schauspieler im Theater machen: miteinander spielen." Online bringt die FAZ einen dpa-Plausch mit dem Regisseur.

Für Cargo berichtet Ekkehard Knörer vom Festival und nimmt dabei auch Nebenschauplätze in den Blick. Unter anderem war er bei einer Hommage à Kiarostami, wo ihn der Film "76 Minutes and 15 Seconds with Kiarostami" sehr berührt: "Man ist dabei, wenn die tollen Regen-auf-Glas-Fotografien entstehen, eine davon war einmal ein Cargo-Cover. Fotos werden entwickelt, Kiarostami achtet auf die Feinheiten beim Poster für 'Copie Conforme'. Er wischt Schnee von der Windschutzscheibe, er filmt Enten, er entwirft eine Installation. Schwarzblenden zwischen den einzelnen Szenen, man blättert durch ein Fotoalbum in Bewegtbildern, noch ist nichts verblasst, so lebendig ist Kiarostami, der scherzt, spielt, Gedichte vorliest, Kiarostami, den man sich angesichts dieses Films nicht als tot vorstellen kann. Und was kann man über einen solchen Film, der gar nichts Bedeutendes sein will, Besseres sagen?"

Weiteres: Tim Caspar Boehme von der taz hat am Lido unterdessen Kim Ki-Duks "The Net" gesehen. Die SZ bringt einen Vorabdruck von Patrick Süskinds Nachwort zu Helmut Dietls Memoiren, die nächste Woche erscheinen. Im Welt-Interview spricht der Schauspieler Christian Berkel über seine Familiengeschichte und deutsche Moral.

Besprochen werden Eiichi Yamamotos wiederaufgeführter Avantgarde-Animationsfilm "Die Tragödie der Belladonna" von 1973 (Artechock, Perlentaucher, mehr im gestrigen Efeu), Jonas Rothlaenders "Fado" (Artechock, Perlentaucher, critic.de), Lee Tamahoris "Mahana - Eine Maori-Saga" (Tagesspiegel, critic.de), Timur Bekmambetovs von Lew Wallaces Roman "Ben Hur" (Tagesspiegel), die britische Serie "Victoria" (FR) und Christopher Louies Netflix-Film "XOXO" über den amerikanischen Techno (ZeitOnline).
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Bühne

Für die Jungle World unterhält sich Holger Pauler mit Johan Simons über die zweite von jenem geleitete Spielzeit der Ruhrtriennale. Unter anderem geht es um Simons' Verarbeitung von Kamel Daouds Roman "Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung", die Simons auf den drei Säulen Film, Schauspiel und Musik ruhen lässt: "Sie beeinflussen sich, bleiben aber autonom. Es geht nicht darum, mit der Musik Gefühle zu provozieren, die die Schauspieler nicht herstellen, oder mit den Videos von Aernout Mik irgendetwas zu illustrieren. Hier haben sich unterschiedliche Künstler mit dem Thema auseinandergesetzt. Die Musik drückt ein gewisses Weltbild aus, sie steht zum Teil stellvertretend für den Kosmos Camus'. Der Filmkünstler Aernout Mik wiederum zeigt zum einen Bilder von der französischen Besatzung in Algerien, von Algeriern und Franzosen, zum anderen einen surrealistischen Film, für den er eine Art Flüchtlingslager gefilmt hat, allerdings mit verdrehten Rollen."

In der SZ wiederum bringt Alex Rühle Daoud und Simons miteinander ins Gespräch. -Daoud warnt eindringlich davor, den Aspekt der Kultur in der Auseinandersetzung mit dem Islamismus zu unterschätzen: Wer heutige Heranwachsende in den islamisch geprägten Ländern vor dem Zugriff durch radikale Fundamentalisten bewahren wolle, schaffe dies "nur durch die Kultur. Der Islamismus verbreitet sich durch Texte, Videos und das Fernsehen, in Algerien kann man mehr als tausend religiöse TV-Kanäle empfangen. Alles gratis. Finanziert in erster Linie von den Saudis oder anderen Theokratien wie Iran. Ich kann zuschauen, wie sich dadurch die Diskurse ändern. Meine Tanten auf dem Dorf haben vor zwanzig Jahren über Sex, Kleidung, Ehe diskutiert. Heute reden sie nur über Fatwas, die Hölle und ob das Essen halal ist."
Archiv: Bühne

Kunst

(Bild: Emil Orlik: Drei Mädchen beim Brettspiel, 1906/1908)

In der Welt hat sich Hans-Joachim Müller die Ausstellung über den Farbholzschnitt in Wien um 1900 in der Frankfurter Schirn angesehen. Die Exponate sind weit entfernt von der zeittypischen "Nervenkunst", der Holzschnitt "hielt sich an die kleinen Sensationen des bürgerlichen Alltags, sieht dem Tennisspiel zu, sieht sich im Obstgarten um, hält still vor der schlafenden Frau, beobachtet einen Hund auf der Treppe und verweilt im Park von Schloss Schönbrunn. Und dort ist es einfach vergnüglich und angenehm, und wenn die Sonne scheint, stellt ohnehin kein Wiener und kein Nichtwiener die Sinn- und Seinsfrage."

Besprochen werden die Bernard-Larsson-Schau im Museum für Fotografie in Berlin (taz),

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Stichwörter: Farbholzschnitt, Holzschnitt

Musik

Der Berliner Senat richtet in Berlin unter allerlei Ansprachen der Polit-Prominenz zum zweiten Mal das Festival Pop-Kultur aus. In der Berliner Zeitung berichtet Jens Balzer, der sich mit dem Umzug des Festivals vom Berghain ins SchwuZ jedoch gar nicht anfreunden kann, "weil man im Inneren der Schwuzhallen nicht rauchen und vor der Tür wiederum nicht trinken durfte, das heißt, es wurde einem von den Veranstaltern verboten, gleichzeitig zu trinken und zu rauchen. Irre! Das Feiern einer Party war hier mithin unmöglich. Vielleicht findet sich für das Pop-Kultur-Festival des kommenden Jahres ja ein Stadtteil, der noch nicht ganz so spießig und reglementiert ist wie Berlin-Neukölln." Elias Kreuzmair von der taz hatte unterdessen "einfach Fun allerorten". Nadine Lange vom Tagesspiegel besuchte diverse Konzerte.

Weiteres: Fredrik Hanssen annonciert im Tagesspiegel das Musikfest Berlin. Besprochen werden eine vom Jazzkollektiv Berlin veranstaltete Konzertreihe (taz), ABRAs "Princess" (taz), das neue Album von Young Thug (Pitchfork) und das neue Album des Jazztrompeters Till Brönner (FAZ).

Logbuch Suhrkamp bringt außerdem Thomas Meineckes neue "Clip//Schule ohne Worte". Hier die Playlist:

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