Efeu - Die Kulturrundschau

Vage Hoffnung auf die nächste Oase

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03.04.2014. Heute eröffnet die große Ai Weiwei-Ausstellung im Gropius-Bau, in der sich der Künstler mit seiner Situation in China auseinandersetzt. Die Kritik ist skeptisch bis vernichtend. Abraham Poincheval lässt sich unterdessen laut Le Monde in die Haut eines Bären einnähen. Die Zeit erinnert an Georg Herwegh: "Germania, mir graut vor dir!". Tages-Anzeiger und NZZ trauern um Urs Widmer. Der Tagi porträtiert den Comic-Avantgardisten Eric Lambé.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.04.2014 finden Sie hier

Kunst

Heute eröffnet im Gropius-Bau Ai Weiweis große Ausstellung "Evidence" - auf den Tag genau drei Jahre nach seiner Verhaftung durch die chinesischen Behörden.

Im Tagesspiegel lässt sich Nicola Kuhn von der Kunst sehr gern in den Bann ziehen: "Staunend steht der Besucher vor einem Haufen Flusskrebse aus Porzellan, die an das Abschiedsfest zum verordneten Abriss seines Ateliers in Shanghai erinnern - und an das chinesische Internet-Wortspiel, ähnelt die Vokabel für Flusskrebse doch der für die staatlich verordnete 'Harmonie', sprich: Zensur. ... Der Künstler widerspiegelt den Missstand, macht ihn zum Memorial." Eine weitere positive Besprechung finden wir in der Berliner Zeitung.

Die meisten Kritiker können mit Ais politischem Pathos allerdings nicht so viel anfangen: Vernichtend schreibt Cornelius Tittel in der Welt: "Es ist weder poetisch noch subtil, wie sich der Künstler mit diesen Arbeiten als Märtyrer erfindet." In der FAZ lobt Niklas Maak zwar im Großen und Ganzen die kuratorische Leistung. Dennoch begleitet ihn bei allem Respekt sanftes Magendrücken. Er vermisst jedenfalls den "anderen Ai, den fluxusgeprägten Aktionskünstler... In Berlin gibt es stattdessen Arbeiten, die so wirken, als hätte Ai den Politikteil der Tageszeitungen an eine Marmorfräse angeschlossen." Maaks FAZ-Kollegin Antje Stahl äußert ebenfalls Vorbehalte, insbesondere was den Run westlicher Journalisten auf Ai Weiweis Pekinger Atelier in den vergangenen Wochen betrifft. In der SZ bespricht Kia Vahland die Ausstellung. Gar nicht im intendierten Sinn kommt ihr bei der 1:1-Reproduktion der Gefängniszelle, in der Ai Weiwei eingesperrt war, das Gruseln: "Sie verhält sich aber zur Realität wie ein Besuch Disneylands zu einer mehrmonatigen Wüstendurchquerung mit schlechter Ausrüstung und nur vager Hoffnung auf die nächste Oase." Und auch Hanno Rauterberg mäkelt in der Zeit: "Schwerer denn je scheint es ihm zu fallen, seinen politischen Aktivismus in eine überzeugende, museumstaugliche Form zu bringen."

Außerdem: Die Presse meldet: "Staat kauft Sammlung Essl nicht". Der österreichische Bauunternehmer Karlheinz Essl hatte gehofft, mit dem Verkauf seiner Sammlung an den Staat sein Unternehmen zu sanieren. Die NZZ schickt Samuel Herzog zur Biennale nach Sydney. Besprochen werden die Andreas Schlüter gewidmete Ausstellung im Berliner Bode-Museum (Berliner Zeitung, taz) und Tobias Rehbergers Ausstellung "Home and Away and Outside" in der Frankfurter Schirn (taz).



Und der Künstler Abraham Poincheval hat sich im Pariser Jagdmuseum in die Haut eines Bären einnähen lassen, wo er 13 Tage lang ausharren will, berichtet Emmanuelle Jardonnet in Le Monde: "Keinerlei externe Nahrungsversrogung ist vorgesehen, der Performance-Künstler hat mit einem Koch gearbeitet, der ihm 'Unterholzmahlzeiten' zubereitete. Sie sind von den Nahrungsgewohnheiten der Bären geprägt: Pilze, Körner, Insekten und Fisch. Die Mahlzeiten sind getrocknet und lagern in Plastiktüten zu Füßen des Künstlers." (Copyright des Bildes: Poincheval und Sophie Lloyd).
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Bühne

Nils Markwardt unterhält sich im Freitag mit dem britischen Theaterregisseur Mark Ravenhill über Shakespeare.
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Stichwörter: Shakespeare, William

Film

Einiger weniger Ausfälle zum Trotz konnte sich Cristina Nord (taz) auch für den zweiten Teil von Lars von Triers "wunderbar polymorphem" Meta-Porno "Nymph()maniac" sehr begeistern: "Wenn dieser mäandernde Film überhaupt so etwas wie ein Zentrum hat, dann ist es sicherlich die Frage nach Zwang und Freiheit und dem dialektischen Verhältnis von beidem. Auf den ersten Blick ist das, was sich Joe herausnimmt, nämlich als Frau einen eigenen Platz im Reich der Sinne zu beanspruchen, seit der sexuellen Revolution und der zweiten Frauenbewegung eine Selbstverständlichkeit. Warum bloß quält sie sich dann so? Warum leidet sie an Schuldgefühlen? Ihr Gegenüber, Seligman, spricht es am Ende sogar aus: Wäre Joe ein Mann, kein Mensch - sie selbst am wenigsten - hätte sich an ihrem Verhalten gestört."

Außerdem: Anlässlich von Darren Aronofskys "Noah" erinnern Markus Metz und Georg Seeßlen im Freitag an die Geschichte des Bibel- und Monumentalfilms. (Besprechungen zu dem Film gibt's heute in Welt, FAZ und SZ). Helmut Merker empfiehlt in der taz eine umfangreiche, Robert Siodmak gewidmete Retrospektive in Berlin.

Besprochen werden die DVD von Jacques Doillons "Love Battles" (taz), Scott Coopers "Auge um Auge" (Andreas Busche freut sich in der taz darüber, wie sich "ein hochdekoriertes Ensemble aus Oscar- und Pulitzer-Preisträgern an ein derart überambitioniertes B-Movie im allerbesten Sinne verschwendet"), Jalil Lesperts Yves Saint-Laurent Biopic (NZZ), Bong Joon-hos Science-Fiction-Film "Snowpiercer" (Welt), Philippe Le Guays Filmkomödie "Molière auf dem Fahrrad" (Welt) und der Fußball-Dokumentarfilm "Union fürs Leben" (taz).
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Musik

Im Freitag ärgert sich Jörg Augsburg sehr über Kettcar-Sänger Marcus Wiebuschs gerade in Blogs und sozialen Medien herumgereichten Song "Der Tag wird kommen", in dem die Homophobie im Fußball angeprangert wird: Alles gut und bestens gemeint, aber ästhetisch eben doch ungeheuer dröge: "Marcus Wiebusch ist inzwischen so etwas wie der Peter Maffay der inzwischen erwachsenen Indie-Generation. Nur, dass er sich seine Meriten im Hardcore verdient hat, statt im Schlager. Macht es das besser? Nein, schlimmer."

Besprochen werden neue Dubstep-Platten von Skrillex und Ekoplekz (taz) sowie "Tremors", das Debütalbum des britischen Musikers Sohn (Tagesspiegel).


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Literatur

Gestern kam die Meldung vom Tod des Schweizer Autors Urs Widmer. Roman Bucheli schreibt in der NZZ: "Stets wird bei ihm das Tragische in einer burlesken Komik travestiert, und im Hintergrund alles Komischen lauert eine unberechenbare Tragik." Der Tages-Anzeiger bringt eine ganze Seite zu Widmer. Martin Ebel schreibt: "Eine einfache Erzählsituation, ein Satz, ein Wort wurde für ihn zum Sprungbrett in die unendlichen Welten der Fantasie. Dort galten nicht die Regeln der Schwerkraft, sondern der Erfindung."

Michael Krausnick erinnert auf der Geschichte-Seite der Zeit an den Dichter Georg Herwegh, der einst so populär war wie Heine und der der schon nach dem Deutsch-Französischen Krieg das Kommende vorausahnte (eine neue Werkausgabe im Aisthesis Verlag, Bielefeld, versucht Herwegh der Vergessenheit zu entreißen):

"Germania, mir graut vor dir!
Mir graut vor dir, ich glaube fast,
Daß du, in argen Wahn versunken,
Mit falscher Größe suchst zu prunken
Und daß du, gottesgnadentrunken,
Das Menschenrecht vergessen hast..."


Alexandra Kedves interviewt für den Tages-Anzeiger den Comic-Avantgardisten Eric Lambé, der unter anderem eine Biografie Giacomettis gezeichnet hat - nach langem Widerstand gegen das Biografische: Doch "Schließlich merkte ich, dass ich genau das erzählen kann: wie schwierig es ist, einen Kopf ­- nicht nur Giacomettis Kopf - zu zeichnen; wie man als Künstler um das, was man für die Realität hält, herumrotiert." Die Illustration aus dem Tagi zeigt Lambés virtuose Kugelschreiber-Zeichnungen.

Der Freitag bringt eine Übersetzung von Tim Adams' Porträt des offen schwul auftretenden afrikanischen Autors Binyavanga Wainaina aus dem Guardian. Besprochen werden Margriet de Moors Roman "Mélodie d'Amour" (SZ), Sibylle Lewitscharoffs Krimi-Versuch "Killmousky" (FAZ), Fritz J. Raddatz' zweiter Tagebuch-Band (Berliner Zeitung), eine Übersetzung der Gedichte Melvilles (NZZ) und Elias Canettis "Buch gegen den Tod" (FR). Im Aufmacher der Zeit porträtiert Ijoma Mangold den Autor Akif Pirinçci, der in seinem Buch "Deutschland von Sinnen - Der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer" mit dem Rechtspopulismus kokettiert. Besprochen werden in der Zeit unter anderem Durs Grünbeins neuer Gedichtband "Cyrano oder die Rückkehr vom Mond" und Jörn Leonhards monumentale Geschichte des Ersten Weltkriegs "Die Büchse der Pandora". Und im Standard bespricht Stefan Gmünder eine Ausstellung über Stefan Zweigs Exiljahre im Wiener Theatermuseum.
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