Efeu - Die Kulturrundschau

Sanft versinkt der Stoff

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14.01.2023. Die taz spürt in einer Ausstellung der knarzenden Verbindungen zwischen Musik, Bildender Kunst, Feldaufnahmen und Lautpoesie nach. Christoph Hein besucht für die FAZ einen Indigo-Färber auf Bali. Es gibt nur eine Primadonna assoluta der Oper und die heißt Maria Callas, darauf besteht die Welt. Der Standard empfiehlt eine Wiener Filmreihe, die Pasolinis Werk um ein kulturelles Umfeld ergänzt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.01.2023 finden Sie hier

Musik

Fasziniert taucht tazler Julian Weber in die Berliner Ausstellung "Broken Music Vol. 2" ab, die mit einer schier überwältigenden Fülle von Exponaten die Schnittstellen zwischen Musik, bildender Kunst und Kulturindustrie abtastet. "Raumgreifende Klanginstallationen, etwa 'Walzer für ein Dreieck' von Rolf Julius und eine begehbare Klangskulptur von Bernhard Leitner, sind Bestandteil der Schau. 'Walzer für ein Dreieck' ist eine Assemblage von Schalen, Töpfen, Pfannen, Steinen, Schnüren, Drähten und Teelöffeln. Teilweise sind diese mit Pulver gefüllt, verkabelt und mit Lautsprechern amplifiziert. Fast unmerklich knarzt und knirscht es. Ganz anders ein Film über Gittergeflechte, die Klang erzeugen, die der in den USA lebende Italiener Harry Bertoia 'Sonambients' nannte, was sich eher wie ein Drone anhört." Zu erleben ist insgesamt "eine ganzheitliche Referenz an die Schallplatte als Träger von Klang und Informationen, als quadratische Bildfläche, die aus Papier und Karton selbst künstlerisch gestaltet werden kann." Hier mehr zu Bertoias fasznierenden Sonambients:



Das Tonhalle-Orchester unter Omer Meir Wellber hat, anders als zunächst geplant, Sergej Prokofjews Musik zu Sergei Eisensteins "Alexander Newski" nun doch nicht gespielt, sondern kurzfristig für Ersatz gesorgt. Eine gute Entscheidung, findet Christian Wildhagen in der NZZ: "Der Film und die Kantate von 1938/39 sind leicht zu Propagandazwecken zu missbrauchen", schließlich "wird hier mit erheblichem Pathos die Figur eines Nationalhelden aus dem 13. Jahrhundert gefeiert, der für die Selbstbehauptung Russlands gegen westliche Invasoren steht. ... Wellber behielt im ersten Teil das geplante dritte Klavierkonzert von Prokofjew mit dem überragenden rumänischen Pianisten Daniel Ciobanu bei, verwandelte aber den zweiten Teil in das genaue Gegenteil einer Heldenfeier. Dazu stellte er dem Trauermarsch aus Beethovens 'Eroica' das Monodram 'Der ewige Fremde' von Ella Milch-Sheriff voran. Angeregt durch einen Traum Beethovens, der 1821 im Halbschlaf nach Indien, Syrien und Jerusalem reiste, setzt sich die israelische Komponistin in dem berührenden Stück mit der Entwurzelung von Vertriebenen und Geflüchteten auseinander."

Weitere Artikel: Julia Spinola erinnert in der NZZ an den vor drei Jahren gestorbenen Dirigenten Mariss Jansons. Nachrufe auf Lisa Marie Presley schreiben Karl Fluch (Standard) und Tobi Müller (ZeitOnline). Andreas Platthaus gratuliert in der FAZ dem Komponisten Gavin Bryars zum 80. Geburtstag. Absolut umwerfend ist sein Arrangement des Lieds "Jesus' Blood Never Failed me yet". Der Endlosschleife eines singenden Obdachlosen lässt er nach und nach ein ganzes Orchester hinzutreten:



Besprochen wird das neue Album von Belle and Sebastian, die ZeitOnline-Rezensent André Boße mit ihrer Hinwendung zum "Bierzeltpop" schier in die Depression treiben: Damit könnte die einst so geschmackssichere Band auch bei Florian Silbereisen auftreten "und die Leute im Saal wüssten sofort, wann sie zu klatschen haben und wann der nächste Refrain zum Mitsingen einlädt". Sagen Sie also nicht, Sie seien nicht gewarnt worden:

Archiv: Musik

Film

Eine Reihe im Filmmuseum Wien rückt Pier Paolo Pasolini, den etwas weniger bekannten Mauro Bolognini und den heute vor allem unter Genre-Spezialisten gehandelten Regisseur Carlo Lizzani zusammen. Diese Trias "wirkt auf den ersten Blick ungewöhnlich", räumt Dominik Kamalzadeh im Standard ein, als kuratorische Entscheidung ist sie aber lohnenswert, "weil sie Pasolini um ein kulturelles Umfeld ergänzt, in dem er sich später nochmals neu erfinden konnte. In Lizzanis 'Ilgobbo' (1960) übernahm er den Part eines Widerstandskämpfers, der nach der Folter der Faschisten seine Hand und Würde verliert und sich in einen kaltherzigen Zuhälter verwandelt. Der Film ist kein ungebrochenes Heldenlied auf den Widerstand, im Gegenteil: Lizzani zeichnet das Porträt einer Gesellschaft, in der es keine dauerhaften Allianzen gibt. ... Ästhetisch trennt Lizzani und Pasolini einiges, doch in beiden Werken herrscht derselbe Druck. Die Erfahrungen des Krieges müssen mit der überstürzten Verwandlung Italiens in eine Industrienation abgeglichen werden."

Außerdem: Auf Artechock empfiehlt Dunja Bialas die Carte Blanche für Clemens Klopfenstein im Münchner Werkstattkino. Für die Seite Drei der SZ porträtiert Holger Gertz den Schauspieler Jörg Hartmann, der seit zehn Jahren mit seiner Rolle als "Tatort"-Ermittler verwachsen ist. Hanns-Georg Rodek schlendert für die WamS mit dem Schauspieler Kida Ramadan durch Kreuzberg. In der FAS empfiehlt Bert Rebhandl eine Werkschau Jonas Mekas im Berliner Kino Arsenal.

Besprochen werden die Serie "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen" nach dem gleichnamigen Roman von Elena Ferrante (NZZ), Ali Abbasis Thriller "Holy Spider" (Artechock, Filmdienst, unsere Kritik), Dominik Molls Thriller "In der Nacht des 12." (Artechock, Filmdienst), Felix Van Groeningens und Charlotte Vandermeerschs "Acht Berge" (Artechock, Filmdienst), Christoffer Sandlers "So Damn Going" (Artechock), Gerard Johnstones Horrorfilm "M3gan" (critic.de, SZ, FAZ), Barbara Kronenbergs "Mission Ulja Funk" (Artechock) und die HBO-Serie "The Last of Us" nach dem gleichnamigen Videospiel (Freitag).
Archiv: Film

Design

Die FAZ hat Bilder und Zeiten wiederbelebt. Zwar nur digital im epaper, aber immerhin. Christoph Hein hat für die erste Ausgabe Sebastian Mesdag besucht, in seinem Atelier Tian Taru auf Bali Indigo herstellt und den Umgang damit lehrt: "Die Ruhe, die Mesdag und Arki bei ihrer Arbeit ohne Worte ausstrahlen, schlägt einen in den Bann. Mit weichen Bewegungen, wie ein erfahrener Pianist die Tasten bearbeitet, lassen sie eine weiße Baumwollbahn in den tiefen Krug gleiten. Sanft versinkt der Stoff. Die Naturfarbe braucht Zeit, will sich entfalten. Sie braucht aber auch Regeln, als suchte sie den Färber als ebenbürtigen Partner: Beherrscht er seine Kunst nicht, wird ungeduldig, hektisch gar, wehrt sich das Tuch. Meister Mesdag aber zieht nach Minuten mit entschiedenen Griffen eine gleichmäßig eingefärbte Stoffbahn aus dem irdenen Topf. Sie ist grün, ohne Schatten und Streifen. 'Die Farbe braucht Sauerstoff, um ihren endgültigen Ton zu erreichen', sagt der Fachmann. Kaum merklich entfaltet sich nun ein glattes tiefes Blau."

Außerdem in Bilder und Zeiten: Alfons Kaiser stellt den "destroyed look" vor, der die Frühjahrsmode prägt mit aufgerissenen Säumen, herabhängenden Fetzen und asymetrischen Schnitten.
Archiv: Design

Bühne

Maria Callas, 1977 mit 53 Jahren in Paris gestorben, wäre im Dezember diesen Jahre hundert Jahre alt geworden. "Doch die gefallene Primadonna assoluta der Oper ist heute präsenter denn je", schreibt Manuel Brug in der Welt, "auch für jüngere Generationen die Diva schlechthin, weit über die enge Welt der Klassik hinaus - weltabgehoben, doch tragisch umflort, eingeglast in ihrer ewigen Kunst eines Singens, das sich nach zwei Tönen sofort erkennen lässt. Weil wir ihr Leben in ihrem Gesang zu hören glauben, der doch Kunstübung ist, nicht Natürlichkeit. Und doch - das eben machte sie aus - uns bis heute unmittel- wie unverwechselbar berührt, unser Empfinden stets aufs Neue in Schwingung versetzt." Und wer hat das besser beschrieben als Ingeborg Bachmann, die ihre Faszination "in einen kurzen, superenigmatischen Text zu gießen wusste: 'Maria Callas ist kein 'Stimmwunder', sie ist weit davon entfernt oder sehr nah davon, denn sie ist die einzige Kreatur, die je eine Opernbühne betreten hat.'"

Hören Sie selbst:



Anna Fastabend unterhält sich für die taz mit der Performerin Florentina Holzinger, die mit ihren Choreografien die leeren Theater füllt. Bisschen schwierig war es erst schon, in Amsterdam neuen Tanz zu studieren, weil der so undefiniert war, erzählt sie. "Ich habe mir in meiner Studienzeit viele Underground-Performances in New York angeschaut. Das waren meistens Sachen, die Hardcore waren. Irgendwie trashig und voll mit popkulturellen Referenzen. Ich fand es inspirierend, dass sich die Leute dort nicht so angeschissen haben, was Regeln, sexuelle Darstellungen und Tabus betrifft." Nacktheit spielt in ihren Shows eine wichtige Rolle, erklärt sie: "Ich finde es urwichtig, den weiblichen Körper so zu zeigen, wie er auf Billboards oder in Pornos normalerweise nicht dargestellt wird. Da muss er sich ja meistens sehr spezifisch verhalten, während er bei uns einfach seiner Arbeit nachgeht: Holzhacken, Schwimmen, Hürdenlaufen, whatever … Ich finde es dann aber trotzdem immer sehr lustig, wenn jemand behauptet, dass er nach fünf Minuten nicht mehr gesehen habe, dass wir alle nackt sind."

Außerdem: Der Romanist Gerhard Poppenberg empfiehlt in der FAZ deutschen Bühnen wärmstens die Wiederentdeckung von Pedro Calderón de la Barcas Barockkomödie "Die Verwicklungen des Zufalls", die gerade als zweisprachige Ausgabe in der Edition Reichenberger erschienen ist.
Archiv: Bühne

Literatur

Literaturnobelpreis, Büchnerpreis, Schillerpreis, Deutscher Buchpreis: 2022 war das Jahr, in dem die Autofiktion endgültig abräumte, schreibt Dirk Knipphals in der taz und beobachtet bereits dagegen aufbrandenden Unwillen, der dem Erleben aus erster Person und der Schilderung individuell ertragenen Unrechts im Zuge erstarkender Protestbewegungen das universell Literarische der Fiktion entgegen setzt. Doch "was heute Autofiktion heißt, trat spätestens mit den Grundmodernisierungen des Gesellschaft in den Sechzigerjahren unter dem Begriff der Erfahrung an" und erfreut sich von Handke bis Rutschky einer fest etablierten literarischen Tradition. "Was Autofiktion interessant macht, ist so keineswegs nur Soziologe oder die Artikulation virulenter Punkte um race, class und gender, sondern eben die implizite Reflexion literarischer Formen und die Verschiebungen, die sich damit ergeben. Und es gibt auch schon genuin literarische Romane, die nicht neben oder sogar gegen die Autofiktion geschrieben sind, sondern wie nach der autofiktionalen Wendung - die Impulse der Autofiktion aufnehmend und zugleich danach suchend, das literarische Spielbein wieder freizubekommen. ... Das Authentische und das Fiktive - diesen Gegensatz gibt es in den reinen Form eben wohl gar nicht; interessant sind die Vermischungen und Wechselbeziehungen."

In der Literatur (aber auch in Filmen und Serien) häufen sich Geschichten von älteren Frauen, die Liebesaffären mit deutlich jüngeren Männern eingehen, beobachtet Marie Schmidt in der SZ - am prominentesten aktuell sicher Annie Ernaux' "Der junge Mann". Solche Motive gab es auch früher schon, aber es hat sich was geändert: "Gesellschaftliche Regeln, die solche Lieben früher mal sanktioniert haben, kommen in diesen Geschichten jetzt nur noch als Gegenstand heiterer Spielchen vor. Anstelle guter Sitten gibt es heute Rollenerwartungen. Aber zwischen älteren Frauen und jungen Männern sind keine vorgesehen, behaupten die romantischen Plots, und wenn so ein Paar das mal erkennt, begehrt es vorurteilsfrei."

Außerdem: In der NZZ setzt Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. In der FR erzählt Franzobel von seiner Arbeit an seinem neuen Roman "Einsteins Hirn", für den der Autor ins ferne Kansas gereist ist. Im Literaturfeature für Dlf Kultur wirft Katharina Teutsch einen Blick darauf, wie migrantisch gepräge Sprache ihren Weg in die deutsche Gegenwartsliteratur findet. In der wiederbelebten FAZ-Beilage "Bilder und Zeiten" meditiert der Schriftsteller Michael Ondaatje über seine fotolose Kindheit und Jugend. Die SZ spricht mit Bret Easton Ellis, der mit "The Shards" sein (in NZZ und FAZ besprochenes) literarisches Comeback hinlegt und versichert, ganz ehrenhaft und gewiss nie einen Roman auf Drogen geschrieben zu haben. Dlf Kultur bringt eine "Lange Nacht" von Sabine Fringes über Lewis Caroll. Christian Schachinger wirft im Standard ein Schlaglicht auf J.R. Moehringer, den Ghostwriter hinter Prinz Harrys Autobiografie. Der Literaturwissenschaftler Thomas Anz hat die Frankfurter Ausstellung zu Marcel Reich-Ranicki mit einem Vortrag beschlossen, berichtet Tilman Spreckelsen in der FAZ. Im Literaturhaus Berlin wiederum begannen Juli Zeh und Georg M. Oswald eine Veranstaltungsserie zum literarischen Grundgesetzkommentar, den Oswald herausgegeben hat, berichtet Katharina Teutsch in der FAZ. Die Polizei in Nanterre ermittelt gegen den französischen Comiczeichner Bastien Vivès, ob dieser mit seinen Comics Kinderpornografie erstellt habe, meldet Niklas Bender in der FAS.

Besprochen werden unter anderem Annie Ernaux' "Ein junger Mann" (Standard), Katie Kitamuras "Intimitäten" (taz), Sofi Oksanens "Baby Jane" (SZ), Raphaela Edelbauers "Die Inkommensurablen" (Standard), Peter Stamms "In einer dunkelblauen Stunde" (NZZ),  Simon Strauss' Novelle "Zwei bleiben" (Freitag, SZ), und Prinz Harrys Autobiografie (Standard).
Archiv: Literatur

Kunst

Henrike Naumann: Re-Education, installation view, SculptureCenter, New York, 2022. Courtesy the artist. Photo: Charles Benton 


Sophie Jung unterhält sich für die taz mit der Künstlerin Henrike Naumann über deren Installation "Re-Education" im New Yorker Sculpture Center, über den Sturm aufs Kapitol und auf Brasilia und über die Bedeutung der dabei zerstörten Möbel: "Möbel sind für mich Träger von Politik im Privaten", sagt Naumann. "Über alle möglichen Stellen habe ich in New York Möbel von Privatpersonen gesammelt und dabei nach dieser bestimmten Ästhetik des federal style gesucht. Ich wollte nicht die historischen Artefakte aus dem Kapitol aufbauen, sondern sagen: 'Hey, der Staat, das seid ihr!' Ich habe versucht, eine Metapher für die amerikanische Demokratie zu finden - stabil, traditionell, aber sie kann auch zum Einsturz gebracht werden, wenn man die Normen und Prozesse untergräbt, mit denen sie verbunden ist."

In der NZZ schildern Jana Talke und Alexander Estis den umfassenden Kunstraub durch das russische Militär in der Ukraine, während gleichzeitig ukrainische Künstler sich mit der Besatzung und dem Krieg auseinandersetzen. So auch der Street-Art-Künstler Hamlet Sinkiwski: "In kugelsicherer Weste versah er die Mauern zerstörter Gebäude, die mit Brettern verrammelten Fenster der Häuser mit seinen schwarz-weißen Murals - inmitten der russischen Belagerung im Frühling 2022."

Weiteres: Nicole Büsing und Heiko Klaas stellen im Tagesspiegel den neuen documenta-Chef Andreas Hoffmann vor. In der FR schreibt Michael Hesse zum Tod des Kunsthistorikers Hans Belting. In Bilder und Zeiten (nur im FAZ-epaper) denkt der Literaturwissenschaftler Mathias Mayer über das eigene Gesicht in der Kunst nach - bei Rembrandt und Celan. Besprochen wird außerdem die Ausstellung "Silberglanz und Farbenrausch. Hinterglasbilder aus China und Oberbayern" im Museum Werdenfels in Garmisch-Partenkirchen (FAZ).
Archiv: Kunst