Efeu - Die Kulturrundschau

Gequält lächelnd, verkrampft blinzelnd

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28.12.2022. Die New York Times huldigt dem kubanischen Bildhauer Juan Francisco Elso. Der New Yorker diagnostiziert bei der Filmkritik eine Art Stockholm-Syndrom. Die Welt erlebt Annie Ernaux in dem Essayfilm "Die Super-8-Jahre" genauso unfroh wie in ihren Büchern. Der Standard erschauert vor der gigantomanischen Nationalkathedrale, die Bukarest direkt neben Ceausescus Palast errichten lässt. Auf Telepolis beschreibt Berthold Seliger, wie sich der Fonds-Kapitalismus durch die Musikbranche gräbt.  
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.12.2022 finden Sie hier

Film

Mit Sorge beobachtet Richard Brody, Chef-Filmkritiker beim New Yorker, wie das gediegene Oscar-Segment des Hollywoodkinos nach der Pandemie kein Publikum mehr findet. Der Abstand zwischen grellem Spektakelkino und künstlerisch ambitionierteren Filmen wird wirtschaftlich immer größer: Wer sich heute als Auteur etablieren will, dringt kaum mehr bis zu den Leinwänden durch - und auch kaum noch zu den Kritikern. "Viele Besprechungen zu 'Top Gun: Maverick' fühlen sich nach Stockholm-Syndrom an. ... Das Potenzial, richtig Kasse zu machen, wurde so behandelt, als wäre alleine das schon ein künstlerischer Wert. Ein Wert jener Sorte, der einem die Wertschätzung für weit kühnere Filme, die riskieren, wesentlich verstörender zu wirken, wahrscheinlich austreibt. ... Doch die Zukunft der Kunst wird zunehmend im wirtschaftlichen Tiefsegment zu finden sein. Dorthin wird sich der überwältigende Teil der kritischen Aufmerksamkeit hinrichten müssen - das heißt, falls Kritiker künftig noch den kreativen Fortschritt des Kinos reflektieren und sich nicht selbst dazu verdammen, einfach nur das impotente Echo dessen Geschäftspläne zu sein."

Außerdem: Dierk Saathoff erinnert in der Jungle World an Quentin Tarantinos Meisterwerk "Jackie Brown", das vor 25 Jahren in die Kinos kam, und die Fehde, die Spike Lee seitdem mit Tarantino pflegt. Auf ZeitOnline würdigt Daniel Gerhardt die Sitcom als Experimentierlabor des Serienfernsehens. Fritz Göttler meldet in der SZ, dass ein US-Gericht die Klage einiger Filmfans zugelassen hat, die die Universal Studios auf Schadensersatz verklagen wollen, weil in einem Filmtrailer zwar die Schauspielerin Ana De Armas zu sehen ist, aber nicht im dergestalt beworbenen Produkt.

Besprochen werden Rian Johnsons auf Netflix gezeigte Krimi-Knobelei "Knives Out 2: Glass Onion" mit Daniel Craig (Standard), Dani Levys auf Paramount+ gezeigte Serie "Der Scheich" (taz), das Biopic "I Wanna Dance With Somebody" über Whitney Houston (online nachgereicht von der FAZ), die Serie "Tulsa King" mit Sylvester Stallone (TA) und Scott Coopers Krimi "Der denkwürdige Fall des Mr Poe" (taz).
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Literatur

Wer fühlt sich hier nicht wohl? "Die Super-8-Jahre" von Annie Ernaux

Sichtlich gequält hat sich Tilman Krause von der Welt mit Annie Ernaux' dokumentarischem Essayfilm "Die Super-8-Jahre", für den die Literaturnobelpreisträgerin Privataufnahmen aus den Siebzigern kompiliert und kommentiert hat: "Der Film zeigt tatsächlich in Permanenz eine Frau, die sich nicht wohl zu fühlen scheint. Immer sieht man sie am Rande des Geschehens, gequält lächelnd, verkrampft blinzelnd. ... Ihrer melancholisch einschmeichelnden, schon ein wenig gebrochen wirkenden Stimme sechzig Minuten lang zu lauschen", habe zwar durchaus "seinen nicht unerheblichen Reiz". Was trägt die Dokumentation aber zum Verständnis ihres Werkes bei? Die Magna Mater jener Abrechnungsliteratur mit der eigenen prekären Herkunft, die in den Anklagen eines Didier Eribon oder Edouard Louis fortlebt (allerdings in einem weit weniger ausgefeilten Französisch), diese Magna Mater also wirkt tatsächlich in diesem privaten Rahmen genauso unfroh wie in ihren Büchern. Wie wäre es, mit Gottfried Kellers 'Grünem Heinrich' zu sprechen, versuchsweise mal mit einem 'Lob des Herkommens'?" Susanne Burg vom Dlf Kultur dankt dem Film derweil für faszinierende Einblicke.

Weiteres: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Christian Mayer flaniert für die SZ durch Wien mit dem Schauspieler Michael Ostrowski, der mit "Der Onkel" gerade einen Roman veröffentlicht hat. Philip Dethlefs und Alexander Matzkeit erinnern im Tagesspiegel an Comicautor Stan Lee, der vor 100 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden unter anderem Harald Jähners "Höhenrausch" (taz), neue Krimis, darunter Seishi Yokomizos "Die rätselhaften Honjin-Morde" (SZ) und Elfriede Jelineks "Angabe der Person" (FAZ).
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Kunst

Juan Francisco Elso: Por América (José Marti), 1986. Foto: Museo del Barrio

Hellauf begeistert kommt Holland Cotter aus einer Retrospektive des 1988 mit nur 32 Jahren verstorbenen kubanischen Künstlers Juan Francisco Elso im New Yorker Museo del Barrio, die für ihn - kurz vor Schluss - noch zu einer der besten Ausstellungen des Jahres aufstieg. Eine fantastische Entdeckung, meint Cotter in der New York Times, ihr Herzstück sei die Skulptur "Por América (José Martí)": "Als Hommage an José Marti, den antikolonialistischen kubanischen Helden und Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, der 'Amerika' als eine noch zu verwirklichende soziale Utopie, transkulturell und transhemisphärisch, begriff, besteht die Skulptur aus einer einzigen holzgeschnitzten, glasäugigen männlichen Figur. Der etwa 1,50 Meter große Mann schien mitten im Schritt gefangen zu sein, als sei er erschöpft oder betäubt. Seine blasse Haut ist mit braunem Schlamm verschmiert. Sein Oberkörper und seine Gliedmaßen sind von blumenförmigen Pfeilen durchbohrt, die auch den Boden zu seinen Füßen durchstießen. In der rechten Hand trägt er eine aufrecht stehende Machete, eine potenzielle Waffe, die hier auch an eine Fackel und eine Märtyrerpalme erinnert (er starb 1895 im Kampf für die Unabhängigkeit Kubas von Spanien). Elso kombinierte die Attribute eines christlichen Heiligen, einer afrikanischen Geisterfigur, eines politischen Denkmals und eines Selbstporträts des Künstlers und stellte Marti als ein Gespenst auf dem Marsch dar, eine Verkörperung der Verletzlichkeit als Macht."

Besprochen werden neuangekaufte Werke der Bundeskunstsammlung im Chemnitzer Museum Gunzenhauser (die taz-Kritikerin Sarah Alberti zufolge vor allem vom Leben in der postmigrantischen Gesellschaft erzählen) , die große Rosemarie-Trockel-Ausstellung im Frankfurter MMK (die SZ-Kritiker Till Briegleb auch als "Einspruch gegen gesellschaftliche Konventionen und sture Herrschaft" versteht), eine Ausstellung über die asketische Religion des Dschainismus im Zürcher Museum Rietberg (NZZ), die Ausstellung "Susanna: Bilder einer Frau vom Mittelalter bis MeToo" im Kölner Wallraff-Richartz-Museum (FAZ) und die Schau des Filmkünstlers Julian Rosefeldt in der Völklinger Hütte (Zeit).
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Architektur

In Bukarest entsteht direkt neben Ceausescus Palast der gigantomanische Bau einer Nationalkathedrale, berichtet Wojciech Czaja im Standard: Mit 127 Meter Höhe, 127 Meter Länge  und einer Ikonostase von 407 Quadratmeter und aus Millionen goldener Mosaiksteinchen wird sie die größte orthodoxe Kirche Europas. Eigentlich gab es einen Wettbewerb, doch dann beauftragte das Patriarchat ein Ingenieursbüro, das bereits etliche Shopping Malls ins Land gesetzt hatte: "Das Bild im städtischen Gefüge ist grotesk. Inmitten eines sechs- bis achtspurigen Straßenrings, fernab von U-Bahn und infrastrukturellen Einrichtungen entstehen ein Gotteshaus für 7000 Besucher, ein steinerner Vorplatz mit beheizten Stufen und eine unterirdische Garage mit hunderten Pkw-Stellplätzen. Auf den Renderings am Bauzaun ist kein einziges Stückchen Grün zu sehen. Stattdessen überall Marmor, Beton und gülden glitzernde Kuppeln. Oder, wie dies der einstige Wettbewerbssieger Augustin Ioan in einem Interview formuliert: 'Was hier entsteht, sieht alt und neu zugleich aus. Das ist Mittelmaß, korrupter Zynismus, Eitelkeit ohne Konsequenz. Dieses Projekt ist eine einzige Sünde."

Für die FAZ besichtigt Michaela Wiegel die Baustelle Notre Dame, und es könnte sein, dass die Kathedrale aus dem Brand von 2019 tatsächlich schöner und strahlender hervorgehen könnte. Vor allem könnte es sein, dass die Arbeiten zügig und sparsam durchgeführt werden: "'Alle haben das Ziel 2024 vor Augen. Die Leidenschaft und der Stolz der Gesellen und Handwerker, die auf der Baustelle arbeiten, sind spürbar', sagt General Georgelin. Die Kritik an der Eile Präsident Emmanuel Macrons ist verstummt. Der junge Staatschef versprach noch in der Brandnacht, die Kathedrale innerhalb von fünf Jahren 'schöner als zuvor wiederaufzubauen'. Der Rechnungshof hat Georgelins Behörde in seinem jüngsten Bericht eine vorbildliche Verwendung der Gelder bescheinigt."
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Musik

Der Konzertveranstalter und Musikkritiker Berthold Seliger hat über die Feiertage auf Telepolis eine dreiteilige, äußerst erhellende Analyse zur Lage der Konzertbranche in Deutschland veröffentlicht (hier, dort und da). Er zeichnet ein trostloses Bild: Der Fonds-Kapitalismus gräbt sich durch die Branche und akkumuliert erhebliche Marktmacht. Dem kleinen und mittleren Segment, dem eigentlichen Humus der Branche, wird derweil das Wasser abgegraben, während der Ticketvertrieb in der Coronakrise durch staatliche Bezuschussung riesige Gewinne bei kaum Ausgaben eingefahren hat, auch weil die oft saftigen Ticketgebühren für abgesagte Konzerte einfach einbehalten wurden. Dass Acts ohne große Chartpower derzeit reihenweise Konzerte absagen müssen, weil der Vorverkauf nicht aus den Puschen kam, ist für Seliger keine Überraschung: "Diese schlechten Erfahrungen mit den Tickethändlern dürften ein wesentlicher Grund sein, warum viele Fans keine Tickets mehr im Vorverkauf erwerben - wer ein- oder zweimal in die Falle der Tickethändler getappt ist, der verzichtet künftig auf den Vorverkauf, es sei denn für Konzerte, die ausverkauft sein werden und bei denen es keinen anderen Weg gibt, dabei zu sein." Aber bedeutet das nicht eine größere Marge für den Veranstalter, wenn mehr über Abendkasse erwirtschaftet wird? Nein, denn "der Großteil der Konzertbewerbung ist heute an den Veröffentlichungstermin von Konzerten und Tourneen gekoppelt. ... Wenn aber die Fans vorab nur noch zögerlich Tickets kaufen, müsste man die Konzertpromotion in Zeiten verminderter Aufmerksamkeitsspannen komplett umstellen und in mindestens zwei, wenn nicht drei oder mehr große Wellen aufteilen". Dies "würde gerade bei kleineren Konzerten zu erhöhten Kosten führen, die im Grunde nicht zu stemmen sind".

Weitere Artikel: In der Zeit spricht Norbert Leisegang von Keimzeit über seinen großen Nachwende-Hit "Kling Klang", der ihm phasenweise ziemlich zum Hals heraushing. Im taz-Plausch wetttert der Hamburger-Schule-Pionier Bernd Begemann, der vor ein paar Wochen 60 Jahre alt geworden ist, gegen Streamingdienste. Nadine A. Brügger schreibt in der NZZ zum Tod von Jacob Stickelberger. Auf Pitchfork erklärt Andy Beta, warum Milton Nascimentos und Borges' gemeinsames Album "Clube de Esquina" von 1971 nicht nur eines "der ambitioniertsten Alben der brasilianischen Musikgeschichte" ist, sondern auch im westlichen Kanon aufzufinden sein sollte. Wir hören rein:

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