Efeu - Die Kulturrundschau

Das Archiv ist die Rache am Autor

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27.12.2022. Die NZZ lernt von japanischer Architektur das Jetzt zu flicken und zu stopfen. FAZ und SZ sehen in München eine Supersonne über dem Bayerischen Staatsballett aufgehen. Die SZ seufzt: Björn Andrésen, ist nicht mehr Viscontis Ikone der Schönheit, sondern eine des Leidens. Die Welt porträtiert Orkun Ertener, früher Autor, jetzt Creative Producer von "Neuland".  Die taz schließt sich den Freunden von Reibegeräuschen an.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.12.2022 finden Sie hier

Architektur


Chidori Bunka von Dot Architects. Foto: Yoshiro Masuda


In der NZZ traut Ulf Meyer seinen Augen nicht: Die moderne japanische Architektur, die das Schweizerische Architekturmuseum Basel in der Ausstellung "Make Do With Now" zeigt, kommt ganz ohne schlichte Eleganz und Wabi-Sabi aus, dafür mit dem Vorgefundenen, mit dem Jetzt. Die schrumpfende Gesellschaft hinterlässt genug leerstehende Gebäude, um Neubauten überflüssig zu machen, schreibt Mayer. Hinreißend seien die umgebauten Altbauten trotzdem: "Im alternden Werftviertel von Osaka haben dot architects beispielsweise einen heruntergekommenen Klumpen von Altbauten liebevoll renoviert und zu einem Kulturzentrum namens Chidori Bunka umgestaltet, in dem sie selber jeden Freitagabend eine Sake-Bar betreiben. Denn ihre Renovation sehen sie nicht nur als Reaktion auf den Leerstand, sondern auch als 'Rehabilitation der lokalen Gemeinschaft. Mit Mehrzweckraum, Galerie und Geschäft ist das Chidori Bunka Teil des Alltags der Menschen geworden. Es ist 'nur ein gewöhnliches Gebäude, geflickt und gestopft mit Tischler-Arbeiten', wie die Architekten sagen."

Chris-Marker-Residence in ParisFoto: Eric Lapierre
Umnutzung ist angesagt, die Epoche des Betons ist zu Ende, das ist auch für Niklas Maak in der FAZ keine Frage. Trotzdem blickt er noch einmal sehnsüchtig nach Paris: "Was man mit Beton machen kann, zeigt währenddessen Eric Lapierre mit seiner Chris-Marker-Residenz, die gewissermaßen einhundert Jahre Betonarchitektur zusammenfasst und weiterdenkt. Der lange Riegel (der Bau ist hundert Meter lang, dreißig Meter hoch, und verfügt über 17.000 Quadratmeter Nutzfläche) steht auf einem besonderen Gelände, das der RATP gehört, der Verkehrsgesellschaft, die für den Betrieb der Pariser Busse und der Metro zuständig ist. Über dem Busdepot wollte sie ein Studentenheim, bezahlbaren Wohnraum und einen Kindergarten bauen. Lapierres Riegel ist mit seinen roten Jalousien von der Straßenseite betrachtet auch ein Echo der großen Bauten der corbusianischen Moderne, nur dass hier eine spektakuläre Diagonale die Fassade zerschneidet, so als ob jemand die klassische Wohnmaschine mit dem Samuraischwert in zwei Stücke geschlagen hätte."

Im Tagesspiegel berichtet Bernhard Schulz von einer Tagung zum architektonischen Erbe der Ukraine, das durch den Krieg gefährdet oder bereits zerstört ist: "Nicht zuletzt sind es Bauten und Anlagen der Infrastruktur, die als bedeutend erkannt werden. Gerade sie sind jetzt Ziele der russischen Angriffe. Herausragend ist der riesige Staudamm des Dnipro, ein Entwurf der Konstruktivisten Viktor Wesnin und Nikolai Kolli, ausgeführt zwischen 1929 und 1932 in der Hochphase der Industrialisierung des ersten Fünfjahrplans. Zusammen mit den anliegenden Elektrizitätswerken und der Stadtgründung 'Sozgorod' bildete der Damm den Komplex des 'Dneprostroj', die russische Abkürzung für das Dnjepr-Baukombinat. Es spielt in der sowjetischen Massenkultur der Stalinzeit, in Literatur und Film eine enorme, wieder und wieder besungene Rolle als Muster für die Verwirklichung des Sozialismus."
Archiv: Architektur

Literatur

Es tut sich was in der Nachlassforschung, stellt Paul Jandl in der NZZ angesichts jüngster spektakulärer Anschaffungen (Rilke, Bernhard, Pynchon) und Veröffentlichungen (Bachmann & Frisch) fest. Was macht ein solcher Blick hinter den Vorhang des Privaten mit dem Bild, das wir von Autorinnen und Autoren haben? "Die Annahme, dass sich in der aus rund 650 Briefen bestehenden Korrespondenz Thomas Bernhard als Mensch entpuppt, ist wohl berechtigt. Das Archiv ist die Rache am Autor. Mit der Bearbeitung der dort gelagerten Materialien marginalisiert sich ein zweites Ich, das dem Original mehr oder weniger ähnlich sieht." Und der Briefwechsel Bachmann/Frisch erweist sich gar als "ein Sieg des Archivs gegen falsche Mutmaßungen des Literaturbetriebs. ... Es wäre nichts gewonnen, würde man um die Privatsphäre der Schriftsteller einen Wall der Geheimniskrämerei errichten."

Weitere Artikel: Adrian Lobe blickt in der NZZ sehr kritisch auf die Fortschritte im Bereich Textgenerierung durch Künstliche Intelligenz. Das schwedische Männlichkeitsbild ist im Wandel begriffen, stellt Anton Beck von der NZZ beim Blick auf schwedische Bücher und Filme fest. Für Matthias Heine von der Welt ist Astrid Lindgrens "Weihnachten in Bullerbü" ein "utopisches Trostwerk", sowie "das schönste Weihnachtsbuch aller Zeiten". Der FAZ-Bücherpodcast spricht mit Helene Hegemann.

Besprochen werden unter anderem Günter Grass' erstmals veröffentlichte Erzählung "Figurenstehen" (FR), Virginia Cowles' Reportageband "Looking for Trouble" aus dem Jahr 1941 (Standard), Angela Steideles "Aufklärung" (Standard), Dino Pešuts "Daddy Issues" (Dlf Kultur), neue Bücher zu Thomas Mann (Dlf), Doan Buis Comic "Glauben Sie an die Wahrheit?" (SZ), Thomas Blubächers "Weimar unter Palmen" (NZZ), Pawel Filatjews "ZOV. Der verbotene Bericht" (Standard) und neue Kinderbücher, darunter Bettina Obrechts und Julie Völks "Wie anders ist alt?" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hans-Albrecht Koch über Wilhelm Müllers "Das Wirtshaus":

"Auf einen Totenacker
Hat mich mein Weg gebracht.
Allhier will ich einkehren ..."
Archiv: Literatur

Bühne

Shale Wagman in den Tschaikowsky-Ouvertüren. Foto: Carlos Quezada

Alexei Ratmansky
hat am Bayerischen Staatsballett Tschaikowski-Ouvertüren zu Shakespeares Stücken "Hamlet", "Der Sturm" und "Romeo und Julia" choreografiert, und in der FAZ geht Wiebke Hüster vor einem Werk von außerordentlicher Schönheit auf die Knie: "Es ist auf phantastische Weise ungewöhnlich, hinsichtlich seiner Ironie, Dramatik, Historizität, Anspielungen auf die klassische antike Bildhauerei und ihre Wirkung auf das Theater des neunzehnten Jahrhunderts und natürlich der choreographischen Originalität, ohne doch je prätentiös zu sein. Es enthält so viele Ideen, dass andere Choreographen daraus zehn Stücke machen würden." In der FR erkennt Sylvia Staude zwar die etwas konservative Grundierung, bewundert die Arbeit aber dennoch: "Ratmansky treibt die hohe klassische Ballett-Kunst noch höher, durch Aneinanderreihung komplexer Sprünge, lidschlagschnelle Schritte und Battements, quirlige Drehungen, artistische Hebungen."

In der SZ kann Dorion Weickmann kaum glauben, wie geschickt Ratmansky mit frühbarocker Ikonografien des Tanztheoretikers Carlo Blasis arbeitet: "Bildende Kunst, in reine Körperspannung übersetzt. Auch für 'Romeo und Julia' scheint Ratmansky die kunstsinnigen Breviers des Vorfahren zu Rate gezogen zu haben. Er paraphrasiert Shakespeares Liebestragödie in romantischen Pas de deux, Dreier- und Vierergespannen, lässt sie in Gedanken- und Gefühlssplitter zerlegen. Auf den letzten Metern der Aufführung triumphiert ein einziger Tänzer: Shale Wagman, 2020 vom Sankt Petersburger Mariinski-Theater zum Staatsballett gekommen, leuchtet wie eine Supersonne über der Kompanie."
Archiv: Bühne

Film

Ikone des Leidens: Björn Andrésen, für Visconti einst "der schönste Junge der Welt" (Missingfilms)

Mit zwiespältigen Gefühlen sieht SZ-Kritiker Philipp Stadelmaier Kristina Lindströms und Kristian Petris Dokumentarfilm "The Most Beautiful Boy in the World" über Björn Andrésen, der mit 15 für Visconti vor der Kamera stand, zur Ikone aufstieg und nach zahlreichen schweren Schicksalsschlägen heute im Alter völlig verarmt ist. "Bei all dem bleibt der Moment, in dem der junge Mann die Gemächer des weltberühmten Regisseurs in Stockholm betritt und damit sein Schicksal besiegelt, die Urszene des Films. Und genau das ist sein Problem. Lindström und Petri erliegen erneut dem Charme des blonden Engels, wie einst Visconti. Auch sie machen, ausgehend von diesem Moment, Andrésen zur Ikone - nicht der Schönheit, sondern des Leidens. Der Film ist durchaus rührend, aber oft auch rührselig, wenn Andrésen mit schweren Schritten als ausgezehrte Silhouette durch dunkle Korridore und über winterkalte Strände schlurft. So instrumentalisieren die wohlmeinenden Filmemacher den armen Mann mit den blassen Augen erneut. Während dieser erneut die Kontrolle über sein eigenes Bild verliert."

Für die Welt porträtiert Elmar Krekeler den Serienautor Orkun Ertener, der sich vor einigen Jahren eigentlich ins Romangeschäft verabschiedet hat, mit "Neuland" nun aber ein Serien-Comeback fürs ZDF hingelegt hat. Der Konkurrenz durch die Streamingdienste verdankt Ertener eine neue Stärkung seiner Position als Autor, erzählt er: Er ist nun "Creative Producer" und als solcher auf allen Ebenen der Produktion zur Mitsprache berechtigt. "Er habe, sagt Ertener das Gefühl, dass da eine neue, extrem hohe Offenheit ist. Ein Nachholbedarf auch. 'Weil es Material braucht für die Mediatheken.' ... Während sich die deutschen Streamer, inzwischen konsolidiert, eher in Richtung Entertainment und Mainstream entwickeln, so Ertener, und immer ZDFiger würden eigentlich, spüre er in den Redaktionen der Öffentlich-Rechtlichen eine große Risikobereitschaft. Für ein junges, für ein spitzes Publikum." Und wie ist "Neuland" nun geraten? Die Serie, die einen Blick auf die Abgründe hinter einem linksliberalem Biedermeier wirft, entpuppt sich nach einem etwas schwachen Beginn als "psychologisch sehr sorgfältig und plausibel entwickeltes Mehrfamiliendrama, das in der zweiten Hälfte immer packender wird", lobt Matthias Hannemann in der FAZ.

Außerdem: Im Standard spricht Bert Rebhandl mit Jerzy Skolimowski über dessen in der NZZ und bei uns besprochenen Eselfilm "EO". Katja Nicodemus nimmt den Film in der Zeit zum Anlass für Überlegungen zum Wandel, der sich im Verhältnis zwischen Tier und Mensch auf der Leinwand abzeichnet, denn "immer mehr Dokumentar- und Spielfilme versuchen die Eigenständigkeit ihrer animalischen Protagonisten ins Bild zu setzen, sie von Zuschreibungen und Projektionen zu befreien". Dlf Kultur sprach an den Feiertagen anderthalb Stunden mit Nina Hoss über Leben und Werk. Welt-Kritiker Harald Peters geht dem Erfolg von Steven Spielbergs vor 40 Jahren veröffentlichtem Klassiker "E.T." auf den Grund. Das Presse-Team kürt seine Lieblingsserien des Jahres.

Besprochen werden Giuseppe Tornatores Dokumentarfilm über Ennio Morricone (Welt, unsere Kritik), Tim Burtons "Addams Family"-Spinoff-Serie "Wednesday" (taz), Felix van Groeningens "Acht Berge" (Standard) und eine Harry-Potter-Ausstellung in Wien (Standard).
Archiv: Film

Kunst

Besprochen werden Sandra Mujingas Ausstellung "I Build my Skin with Rocks" im Hamburger Bahnhof (FAZ) und Zeichnungen von Max Liebermann in der Stiftung am Brandenburger Tor in Berlin (Tsp).
Archiv: Kunst
Stichwörter: Hamburger Bahnhof

Musik

Welt-Kritiker Manuel Brug hat beim Hören von Nina Hagens Comebackalbum "Unity" merklich Freude - zumindest, was das Formulieren betrifft: Es wird "nach wie vor gepflegt klanggebastelt und feministisch zugespitzt. Das klingt dann wahlweise nach Looney Tunes auf Speed, nach Küchenquirl mit Wackelkontakt oder schnalzendem Hexenbesen. ... Die Hagen, im funkigen Soundirrgarten zwischen verschwörungstheoretischer Avantgarde und rückwärtsgewandt, Dub-Prophetin und Weimarer-Republik-Sibylle, Schnatterinchen und Teufels Großmutter, sie will einfach nicht erwachsen werden, gibt lieber balladesk die unwürdige Punk-Oma und schlackert damit trotzdem traumsicher in ihr CD-Ziel: als Marianne der Singer-Solidarität und ewiges, glitterig aufgezäumtes Zirkuspferd in der Popmanege."

Auch viel Freude hat tazler Detlef Diederichsen beim Hören des Albums "Belladonna Garnish" der drei Impro-Musiker Riley Walker, Chris Corsano und Andrew Scott Young: "Das knurzt und knarzt, knaakt und blaakt, birzelt und firzelt, dass es nur so eine Freude ist. Walker und Young sind offensichtlich vor allem Freunde von Reibegeräuschen. ... In jedem der fünf Tracks wird ein anderes klangliches Universum besucht. Nicht immer wird deutlich, welchem Urheber, welcher Instrumentenfamilie und welchem musikalischen Bedeutungskreis ein Sound zuzuordnen ist: Kommen diese tiefen Kraaks noch aus der Gitarre oder schon aus dem Bass? Sind diese Pfeifgeräusche Verstärker-Feedback oder sind sie aus der Zauberkiste der Becken-Beherrschung herausgeklettert? Und diese rhythmischen Brumpfstls - Drums? Bass? Gitarre? Missbrauch der Mikrofone? Herrlich …"



Weitere Artikel: Thilo Komma-Pöllath schaut sich für die FAS unter Kirchenmusikern um, die der Krise ihres Metiers mit einer neuen Offenheit für Pop und Jazz begegnen wollen. Maximilian Probst und Martin Spiewak sprechen in der Zeit mit der Musikwissenschaftlerin Melanie Wald-Fuhrmann darüber, was gute Musik ausmacht und warum es dafür keine übergeordnete Qualitätskriterien gibt. Julia Ramseier porträtiert in der NZZ den Schlagzeuger Martin Grubinger, der sich mit 40 Jahren aus dem Geschäft zurückzieht. Auch der Trompeter Ludwig Güttler gibt derzeit mit einer kleine Reihe von Konzerten seinen Abschied von der Bühne, schreibt Michael Ernst in der FAZ. Karl Fluch plädiert im Standard-Jahresrückblick auf die öde Kontroverse um den öden "Laila"-Song dafür, in Zukunft den Ball doch einfach etwas flacher zu halten. Joachim Hentschel porträtiert in der SZ die aufstrebende K-Pop-Sängerin Youha. Besprochen wird ein von Jörg Widmann dirigiertes Konzert des  Ensemble Modern (FR).
Archiv: Musik