Efeu - Die Kulturrundschau

Was sein könnte

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01.09.2022. Die FAZ blickt verärgert auf die unkommentierte Märtyrerpose eines palästinensischen Terroristen in einer Doku über das Olympia-Attentat '72. In der SZ denkt Theresia Enzensberger über Esoterik und Technik nach. Die Zeit verliebt sich in Donatellos Spiritelli. Die NZZ bestaunt die Farbspiele chinesischer Jadekunst. Die taz bewundert installationskunstwürdige Supermarktregale in Noah Baumbachs Eröffnungsfilm für die Filmfestspiele Venedig, "White Noise".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.09.2022 finden Sie hier

Film

Dem Mörder eine Bühne: "Tod und Spiele" (ARD)

Mit der Dokuserie "Tod und Spiele" widmet sich die ARD dem antisemitischen Terroranschlag auf die israelische Delegation bei den Olympischen Spielen '72 in München. Auch einen der Mörder, Mohammed Safady, haben die Filmemacher Lucio Mollica und Bence Máté ausfindig gemacht und lassen ihn vollmundig von seinen Taten schwärmen. "Dass sie ihn wie einen Zeitzeugen unter anderen behandeln, ist schwer erträglich", kritisiert Harald Staun in der FAZ. Die Absicht, das Ereignis aus vielen Perspektiven zu beleuchten "ist kein Grund, Safadys Märtyrerpose unwidersprochen zu lassen". Und so sehr die Filmemacher "sich bemühen, den historischen Kontext, politische Hintergründe und die Folgen des Attentats zu beleuchten, so groß ist eine Lücke, die besonders auffällt: Es kommt kein einziger deutscher Jude zu Wort. ... Kaum ein Wort verliert ihre Dokumentation über die Vertuschungsversuche und politischen Ausweichmanöver" der Bundesregierung. So erzählt diese Reihe die Geschichte so, "wie sie seit 50 Jahren erzählt wird: Als Legende vom exotischen Terror, der die unschuldigen Deutschen und ihre bunten Spiele aus heiterem Himmel traf".

Auf der Suche nach Gott im Warensortiment: "White Noise" von Noah Baumbach

Noah Baumbachs "White Noise" eröffnet die Filmfestspiele Venedig. Seine mit Adam Driver und Greta Gerwig prominent besetzte Verfilmung von Don DeLillos gleichnamigem Roman aus den Achtzigern handelt von einem Unfall, der eine Giftwolke über einer Universitätsstadt im Mittleren Westen der USA freisetzt. Hierfür "nutzt Baumbach sein großzügiges Netflix-Budget, um ein wenig in diesen Bildern zu schwelgen", schreibt Tobias Kniebe in der SZ. "Metall kracht auf Metall, mit Wucht und Masse und Funkenflug und ohrenbetäubendem Knirschen. Das Gift, das dann ausbricht und erst langsam, dann immer schneller durch die Ritzen strömt, bevor alles explodiert und zu brennen anfängt, hat die Farbe und Konsistenz von Blut."

Zurückhaltender bespricht Tim Caspar Boehme von der taz den Film: Den Spektakelszenen zu folgen "ist mitunter lustig, hinterlässt aber einen Eindruck von eloquent ausgebreiteter Leere. Weniger als Ausdruck einer existenziellen Erfahrung denn als Ablenkungsmanöver davon, dass es hier nicht viel zu sagen gibt. Eine der schönsten Einsichten, die von Murray Siskind bei einem der vielen Besuche im farbenfroh inszenierten Supermarkt vorgetragen wird, während die Protagonisten ihre Einkaufswagen durch installationskunstwürdige Regale schieben, lässt sich auf die Formel bringen: Wenn Gott tot ist, findet man Spiritualität allein noch im Warensortiment. Keine ganz neue Einsicht, die Bilder dazu können sich zumindest sehen lassen." Außerdem besprechen Anke Leweke (ZeitOnline), Dominik Kamalzadeh (Standard) und Maria Wiesner (FAZ) den Film.

Weiteres: Marc Hairapetian spricht in der FR mit der Schauspielerin Judy Winter über deren Leben und Werk. Besprochen werden Ryusuke Hamaguchis "Das Glücksrad" (taz, SZ, Freitag, FAZ), Alice Agneskirchners Dokumentarfilm "Komm mit mir in das Cinema" über die beiden Filmhistoriker Ulrich und Erika Gregor (Perlentaucher, FR), Mantas Kvedaravičius' "Mariupolis 2" (Perlentaucher), Laurent Larivières "Die Zeit, die wir teilen" mit Isabelle Huppert und Lars Eidinger (ZeitOnline, taz) und die DVD-Ausgabe von Mo Hong-jins südkoreanischem Thriller "Missing You" (taz). Außerdem erklärt die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Kunst


Donatello, Amor-Attiis, Vorder- und Rückansicht, um 1435-40, Bronze, teilweise vergoldet, © Museo Nazionale del Bargello, Firenze, mit Genehmigung des Ministeriums für Kultur / Bruno Bruchi

Morgen eröffnet in Berlin die große Donatello-Schau, die die Gemäldegalerie aus Florenz übernommen hat. Hanno Rauterberg (Zeit) erlebt dort einen großen Künstler der Uneindeutigkeit, der Sanftheit und Zärtlichkeit. "Bis auf ein paar Anekdoten ist so gut wie nichts über den Sohn eines Wollkämmers bekannt; nur seine Kunst kann für ihn sprechen. Und sie spricht mit Nachhall. Sie erzählt von einem, der es ungestüm mag, unabsehbar, unabgeschlossen. Einem, der spielerisch auf das zurückgreift, was war, und dabei die alten, erstarrten Formen für das öffnet, was kommen mag. Seine Kunst lebt aus einem Was-nun-Gefühl: Sie hält Ausschau nach dem, was sein könnte. Kein anderer Künstler setzt seine Figuren so beweglich, so gelöst von didaktischen Zwängen in Szene wie Donatello, er lässt sie tanzen, turnen, wirbeln. Spiritelli heißen sie in der Fachliteratur, kleine Lebensgeister, die nichts zu halten scheint."

Becher mit Teller. Qing-Dynastie, Jiaqing-Periode (1796-1820). Museum Rietberg, Zürich; Geschenk Emma Streicher. Fotografie © Felix Streuli

Fest ein Kunstwerk von Katalog an die Brust drückend, kommt ein beglückter Philipp Meier (NZZ) aus einer Ausstellung chinesischer Jadekunst im Museum Rietberg: Kleine Glücksbringer in Tier und Pflanzenform sah er, wunderbar glatt (dabei ist Jade härter als Stahl, lesen wir) und in den schönsten Farben schimmernd: "Jade ist im Grunde kein mineralogisch definierter Begriff, sondern steht für Nephrit und Jadeit. Sind sie erst einmal poliert, zeichnen sich diese Gesteine durch matten, milchigen Glanz aus. Sie fühlen sich warm und geschmeidig an. Reiner Nephrit ist weiß, wie jetzt ein opaker Teebecher mit Untertasse in der Ausstellung vor Augen führt. Beimengungen anderer Stoffe ergeben aber auch Farben von Rosa über Grün bis Braun, Grau und Schwarz. Insbesondere unregelmäßige Verfärbungen haben die Phantasie der Kunsthandwerker immer wieder angeregt, das Spiel der Tonalitäten in die Gestaltung eines Objekts mit einzubeziehen."

Elke Buhr unterhält sich für monopol mit dem Kurator Nicola Trezzi über die Documenta. Für Trezzi wurde "die wichtigste Frage noch nicht gestellt: Wie ist die Documenta als Institution an diesen Punkt gekommen? Wie hat die künstlerische Leitung gearbeitet, wie ist ihr Verhältnis zur Institution und ihren Gesellschaftern, welchen Auftrag hatte sie? Es werden zwei Debatten vermischt, die man trennen soll. In Deutschland ist die Debatte um Antisemitismus sehr aufgeheizt, aber man sollte zuerst auf die Strukturen der Ausstellung schauen. Was bedeutet es, wenn eine künstlerische Leitung eine Situation schafft, in der Dinge aus dem Ruder laufen? In so einer Situation hätte es jede Art von problematischem Inhalt geben können. ... Es ist durchaus möglich, eine offene Struktur zu haben, und trotzdem die Kontrolle darüber zu behalten, was in der Ausstellung passiert."

Weiteres: Luisa Hommerich, Anne Kunze und Carolin Würfel gehen in der Zeit Vorwürfen aus einem anonymen Brief nach, der den Berliner Galeristen Johann König beschuldigt, Frauen belästigt zu haben. Strafrechtlich Relevantes und mehr als "sie sagt, er sagt" kommt dabei nicht heraus. Besprochen wird eine Ausstellung in der Galerie Neurotitan mit den Fotografien Lucian Perkins von der frühen afroamerikanischen Punkszene in Washington (taz)
Archiv: Kunst

Literatur

Im Interview mit der SZ spricht Theresia Enzensberger über "Auf See", ihren zweiten Roman, der von einer Yoga-Dystopie erzählt, die nach dem Weltuntergang auf einer abgeschiedenen Insel für Reiche lebt. Auch sie selbst findet die Masse an Onlinevideos schrecklich, "in denen Leute davon erzählen, wie viel Achtsamkeitsübungen sie um fünf Uhr morgens schon gemacht haben. Aber natürlich spürt man auch eine gewisse Ambivalenz, eine Sehnsucht danach, alles so derart unter Kontrolle zu haben." Schon in "Blaupause", ihrem Debüt, "ging es viel um Esoterik und Technik, um die zweite industrielle Revolution. Ich denke, neue Technologien, ein neues Gefühl der Quantifizierbarkeit der Welt, lösen in manchen Menschen ein Bedürfnis nach Innerlichkeit aus. ... Unsere heutige Tech-Welt schafft es, das alles auf seltsame Art zu verbinden. Es gibt Meditations-Apps, es gibt Yoga-Influencer. Das Heilsversprechen ist, ähnlich wie in der Moderne, eine bessere Welt durch einen besseren Menschen. Im Silicon Valley wird ja die ganze Zeit gesagt, dass man die Welt verbessern will, aber am Ende verbessert man doch nur sich selbst."

Außerdem: In der NZZ setzt der Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Im Tagesspiegel legt uns Gerrit Bartels die aktuelle Ausgabe des Schreibheft ans Herz, das sich darin Proust widmet. Urs Mannhart spricht in der NZZ über sein Leben als Schriftsteller und Landwirt. Jan Nicolaisen sorgt sich in der FAZ um den Parkettboden im Goethehaus Weimar. Ronald Pohl (Standard) und Paul Ingendaay (FAZ) gratulieren dem Schriftsteller António Lobo Antunes zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Norbert Gstreins "Vier Tage, drei Nächte" (Tsp), Leona Stahlmanns "Diese ganzen belanglosen Wunder" (Tsp), Sudhir Hazareesinghs "Black Spartacus. Das große Leben des Toussaint Louverture" (FR), Dorothy B. Hughes' Krimi "Ein einsamer Ort" (TA), Jean Staffords "Das Leben ist kein Abgrund" (Tsp), Ernest Wichners Lyrikband "Heute Mai und morgen du" (FR), Volker Brauns Gedichtzyklus "Luf-Passion" (Tsp) und Peter Kurzecks Nachlassroman "Und wo mein Haus? - Kde domov můj" (FAZ).
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Bühne

Sophie Diesselhorst unterhält sich für die nachtkritik mit dem Unternehmer Hannes Tronsberg, der den Theatern mit Künstlicher Intelligenz helfen will, ihr Publikum wiederzufinden. Außerdem streamt die nachtkritik noch bis heute abend 20 Uhr die Aufzeichnung der Premiere von Alvis Hermanis' Inszenierung des Stücks "Gorbatschow" am Moskauer "Theater der Nationen" 2020.

Besprochen werden Dušan David Parízeks Inszenierung von Tschechows "Drei Schwestern" am Theater Bremen (nachtkritik) und die Performance "A&E / Adolf und Eva / Adam & Eve" von Paul McCarthy und Lilith Stangenberg (Zeit).
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Musik

In der Konzertbranche geht die Panik vor dem Herbst um: Es herrscht erheblicher Mangel an Personal hinter den Bühnen, viele haben sich im Zuge der Pandemie beruflich umorientiert - auch, weil sie sich mit dem "Bürokratiedschungel" der Regierung alleine gelassen fühlten - und sollte es im Herbst pandemisch wieder anziehen, dürfte das die Lage noch zusätzlich belasten, berichtet Bernd Schweinar in einer Reportage für die NMZ. Dabei sind das gerade im Stadionrock-Zusammenhang "hoch spezialisierte und qualifizierte Experten und Fachleute, die es schaffen, einen gesamten Bühnenaufbau mit LED-Wänden, Lautsprechern, Lampen und zigtausenden von Einzelteilen wie ein großes Puzzle am frühen Morgen ab 6 Uhr in der Münchner Olympiahalle auf- und bis nachts um 3 Uhr wieder abzubauen und so zu verstauen, dass das Ganze am nächsten Veranstaltungsort wiederholt werden kann. Von der logistischen Ablaufperfektion, der Flexibilität und Koordinationsfähigkeit dieser nochmals um weitere rund 100 örtliche Helfer verstärkten Truppe könnte jede Behörde lernen! Dann wäre mit Sicherheit auch die Coronakrise in Deutschland besser bewältigt worden."

Außerdem: Im Tagesanzeiger porträtiert Martin Fischer die britische Schlagzeugerin Nandi Bushell, die mit gerade einmal 12 Jahren für die Foo Fighters die Show im Wembley Stadion eröffnet. Hier duelliert sie sich mit Foo Fighter Dave Grohl:



Besprochen werden ein Band mit Ludwig Wittgensteins Ansichten über Musik (SZ), eine Box über die ersten Jahre von Blondie (Standard), ein Chopin-Konzert des Pianisten Jan Lisiecki (FR), die Wiederveröffentlichung von Bachir Attars und Elliott Sharps Album "In New York" (taz) und der Brahms-Abschluss des Schleswig Holstein Musik Festivals (NMZ).
Archiv: Musik
Stichwörter: Konzertbetrieb, Coronakrise