Efeu - Die Kulturrundschau

Vom Erdschatten aufgezehrt

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17.08.2022. In der SZ überlegt A.L. Kennedy, ob die Medien Salman Rushdie Macht und Einfluss so lange verübelten, weil er sie nicht ihnen verdankte. Die FAZ erkennt in "beleidigten religiösen Gefühle" ein Zeichen mangelnder Reife. Die taz blickt auf der Manifesta 14 in den Himmel über Pristina. Zum siebzigsten Geburtstag von Heiner Goebbels bedanken sich FR und Tagesspiegel für den herrlichen Krach, den er den Bühnen zuverlässig beschert. NZZ und Welt schreiben zum Tod des Blockbuster-Regisseurs Wolfgang Petersen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.08.2022 finden Sie hier

Musik

Heiner Goebbels wird 70 Jahre alt. In der FR gratuliert Hans-Jürgen Linke einem Tausendsassa der Künste: "Ist er Komponist, Bühnenmusiker, Hörspielautor, Bildender Künstler, Regisseur, Theaterwissenschaftler? In der Entwicklungschronologie ist er alles, nacheinander oder auch zugleich." Aber "wahrscheinlich ist Heiner Goebbels doch am allerehesten Komponist - wenn man nicht Musik als einzigen Arbeitsgegenstand des Komponisten ansieht. Es ist ein Glück, dass es eine Institution wie das Theater gibt, das in seinen besten Momenten ein Zusammengehen verschiedener Künste ermöglicht."



In der Musik jedenfalls wütet er derzeit mit "herrlichem Krach", schreibt Gregor Dotzauer im Tagesspiegel. "Die Ondes Martenot, jenes gestisch zu umschmeichelnde Instrument, das sein elektronisches Lied schon sang, bevor es Synthesizer gab, irrt durch die Oktaven. Eine verzerrte Gitarre trompetet dagegen an, ein Saxofon versucht mitzuhalten, während ein Schlagzeug dazwischenpoltert und der Pianist, der sie alle zusammengebracht hat, im Inneren seines Flügels wühlt. Ist das hier Kindergeburtstag, Elefantenhaus oder Donaueschingen? Und woher kommt so plötzlich die edle Melancholie, die auf das Lärmen folgt? Willkommen bei The Mayfield, der neuen Band von Heiner Goebbels."

Goebbels' "verästeltes Lebenswerk ... entwickelte sich über die Jahrzehnte hinweg zu einer partizipativen, niedrigschwelligen sozialen Plastik", notiert Achim Heidenreich in der FAZ. "Mit seinem musiktheatralischen, medienkünstlerischen und nicht zuletzt mit seinen konzertanten Hörstücken hat er die viel gescholtene sogenannte Hochkultur auf den Boden der Tatsachen geholt: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es! Diese gesicherte Teilhabe an seinen vielfarbig schillernden Werken ermöglicht Goebbels mittels des bei ihm stets wiederkehrenden Beats - und sei es das Geräusch tropfenden Wassers." Denn "im Beat ist Goebbels sein eigener Klassizist. Puls und Impuls sind bei ihm eins." Mehr zu Heiner Goebbels in der ARD-Audiothek.

Außerdem: Gerald Felber resümiert in der FAZ die Husumer "Raritäten der Klaviermusik". Besprochen werden eine CD-Edition der Pianistin Ingrid Haebler (SZ), der Auftakt des Lucerne Festivals (FAZ), sowie neue Alben von Charles Stepney (taz), Emeka Ogboh (taz), Friedrich Liechtenstein (Tsp) und Megan Thee Stallions (ZeitOnline).

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Literatur

Die Schriftstellerin A.L. Kennedy erinnert sich in der SZ, dass Salman Rushdie sie in den frühen Neunzigern als Juror gefördert und damit ihre Karriere als Autorin entschieden mitermöglicht hat. Und sie erinnert sich an das Unbehagen, das die Presse ihm gegenüber einst empfand: "Seit seinem preisgekrönten Roman 'Mitternachtskinder' hatte er jene Form von Einfluss und Macht gewonnen, welche die Medien jemandem gerne selbst verleihen. Sie mögen es eher nicht, wenn sie nicht mehr daran vorbeikommen. Wortgewaltig, intelligent, mit brauner Haut und einem seltsamen Namen, das reichte, um Salman als arrogant, launisch und fremd darzustellen. Nach der Kontroverse um die 'Satanischen Verse' verabschiedete sich die Berichterstattung schnell von der Verteidigung der Menschenrechte und der unbequemen Pflicht, über Literatur zu reden - es ging in Richtung offene Islamophobie. Artikel beklagten die Kosten des Personenschutzes für Salman. Die Fotoauswahl ließ ihn rücksichtslos so aussehen, als ob er satanisch sei."

Helge Malchow war beim Verlag Kiepenheuer & Witsch Lektor, als der Verlag es aus Sicherheitsgründen ablehnte, das Buch zu veröffentlichen - und war dann daran beteiligt, den anonym übersetzten Roman im aus hundert Verlagen bestehenden Kollektiv "Artikel 19" auf Deutsch zu veröffentlichen. "Rushdie erleidet furchtbare Schmerzen für ein Geschenk, das er der Menschheit gemacht hat", sagt er im SZ-Interview. "'Die satanischen Verse' ist nämlich genau das, eine Gabe, eine Geschichte über den Kolonialismus, den Postkolonialismus und die modernen Migrationsbewegungen, die unsere Gegenwart so grundlegend bestimmen. Und das alles auf höchstem literarischen Niveau. Sehr viel Literatur der letzten dreißig Jahre wäre undenkbar ohne dieses Buch. Aber die Anerkennung dafür wurde von den Kulturkriegen darum teilweise verschluckt."

In der FAZ denkt Nina Scholz über den Unbegriff "beleidigte religiöse Gefühle" nach - was weihevoll klingt, sei lediglich eine dem Kollektivismus entsprungene Kränkung und ein Zeichen mangelnder Reife. Umso fataler, dass der Begriff von westlichen Medien dankbar aufgegriffen und normalisiert wurde. So "hat es immer wieder westliche Stimmen gegeben, die zwar die Fatwa verurteilten, aber sich mit dem Hinweis, er habe religiöse Gefühle verletzt, auch von Rushdie distanzierten wie der ehemalige amerikanische Präsident Jimmy Carter. Die New York Times meint nun, diese Haltung habe die Oberhand gewonnen. Viele Schriftsteller hätten auffällig kühl auf die Anfrage reagiert, ob sie einen Solidaritätsappell für Rushdie unterschreiben würden. Erinnert wird auch an die sechs Schriftsteller, die sich schon der Solidarität mit den Mordopfern von Charlie Hebdo verweigerten. Wie immer die Gewichte nun verteilt sind: Die identitätspolitische Fraktion, die noch den blutigsten Obskurantismus in Schutz nimmt, hat in den vergangenen Jahren Terrain gewonnen, und ironischerweise ist es ein erheblicher Teil der ehemals religionskritischen Linken, der heute die Verabsolutierung religiöser Gefühle verteidigt."

Im Perlentaucher schreibt Angela Schader ein Vorwort zu Jean Staffords Erzählband "Das Leben ist kein Abgrund", der auch eine Erzählung über Europa enthält: "In einem heruntergekommenen belgischen Spielkasino demontiert ein Mann sacht und klug eine keimende Liebesbeziehung; als Kulisse setzt Stafford eine grimmige Skizze des Badeorts Knokke-le-Zoute dahinter, mit von plumpem Zierrat überwucherten Häusern und grotesken Gärten: 'Selbst die Blumen täuschten etwas vor, die Hortensien sahen wie Küchenutensilien aus, und die Geranien schienen Essbares zu sein, wenn auch nicht gerade schmackhaft.' Den Kontrapunkt zu solch überzüchteten Settings markiert die von der Kindheitswelt der Schriftstellerin geprägte Landschaft am Fuß der Rocky Mountains, wo 'Dunkler Mond' angesiedelt ist, der erste erzählerische Text, mit dem sie 1944 an die Öffentlichkeit trat. Die Handlung ist auf ein Minimum reduziert: Die elfjährige Ella reitet abends zu Bekannten, wo sie die Kinder hüten soll, und beobachtet dort eine Mondfinsternis, allein - die Kleinen schlafen längst - und ohne zu wissen, was sich da abspielt. Wer einmal erlebt hat, wie Sonne oder Vollmond vom Erdschatten aufgezehrt werden, kann den Schauder nachempfinden, der das Mädchen packt; der in Panik umschlägt, als auch noch die Kerosinlampen im Haus eine um die andere erlöschen."

Weiteres: Sergei Gerasimow setzt hier und dort in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Roman Bucheli und Andreas Scheiner haben sich für die NZZ zum großen Gespräch mit dem Schriftsteller Martin Suter getroffen.

Besprochen werden unter anderem Fran Lebowitz' Essayband "New York und der Rest der Welt" (Jungle World), Maggie Nelsons "Freiheit" (FAZ), Ruth Herzbergs "Die aktuelle Situation" (SZ), Jill Lepores "Die geheime Geschichte von Wonder Woman" (Tsp), Flix' Comic "Das Humboldt-Tier. Ein Marsupilami-Abenteuer" (BlZ) und und Bettina Wilperts "Herumtreiberinnen" (FAZ).
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Film

Wolfgang Petersen, 2006. (Foto: S Pakhrin, CC BY 2.0)

Der Regisseur Wolfgang Petersen ist tot. Er war im ersten Jahrgang der Berliner Filmhochschule dffb in den Sechzigern (seinen Kurzfilm "Ich Nicht" gibt es auf deren Website), drehte in den Siebzigern teils Aufsehen erregende TV-Filme. "Das Boot" und "Die Unendliche Geschichte" brachten ihn in den Achtzigern schließlich nach Hollywood, wo er lange auf Blockbusterkino abonniert war. Es waren die großen amerikanischen Dampfer, die den kleinen Petersen in den Vierzigern im Hafen von Emden von Amerika träumen ließen, hält Andreas Scheiner in der NZZ fest. So führte sein Weg denn auch "unbedingt hin zum großen Kino", schreibt Holger Kreitling in der Welt. "Da war ein erklärter Wille, der sich aus handwerklichem Können speiste und der anders war, als es die Regisseure des neuen deutschen Films propagierten. Petersen wollte das große Publikum, wollte berühren und erzählen, wollte 'big' sein, am besten nicht nur in Deutschland, sondern in Amerika. Und er schaffte, was viele versuchten."

Für Andreas Busche vom Tagesspiegel war er "der amerikanischste aller deutschen Regisseure - oder vielleicht doch der deutscheste aller amerikanischen?" Zwar hatte er in den letzten Jahren "den Absprung vom alten Studio-Hollywood zum Hollywood der Hedgefonds-Manager nicht geschafft." Doch in den Neunzigern wurden mit seinem Namen "Filme vermarktet - selbst wenn in den Hauptrollen Dustin Hoffman, George Clooney und Brad Pitt zu sehen waren. ... Die Sorte von Actionfilmen, mit denen Wolfgang Petersen zur Hollywood-Größe avancierte, drehen inzwischen Arbeitsdrohnen, deren Namen man spätestens nach dem Abspann wieder vergessen hat." 

Außerdem: "Vermutlich haben noch nie so viele Schauspieler und Regisseure ein Konfliktgebiet besucht wie jetzt die Ukraine", stellt Jan Heidtmann in der SZ fest - aktuell befindet sich Abel Ferrara für einen Dokumentarfilm im Gebiet. Esthy Rüdiger erzählt in der NZZ das Leben von Gina Lollobrigida, die mit 95 Jahren in die italienische Politik will.

Besprochen werden eine Ausstellung über den Tier- und Experimentalfilmer Jean Painlevé im Jeu de Paume in Paris (online nachgereicht von der FAZ), Stanislaw Muchas Dokumentarfilm "Wettermacher" (online nachgereicht von der FAS), Mike Marzuks "Der junge Häuptling Winnetou" (FR, unser Kritik hier), der Abschluss der Serie "Better Call Saul" (ZeitOnline), die erste Folge des "Game of Thrones"-Prequels "House of Dragons" (Welt) und die Sky-Sreie "Blocco 181" (taz).
Archiv: Film

Bühne

Andreas Jüttner rekapituliert detailliert in der Nachtkritik die Krise, in die das Staatstheater Karlsruhe von seinem Generalintendanten Peter Spuhler gestürzt und aus der es von Kunstministerin Teresa Bauer auch nicht gerettet wurde. Besprochen wird Meg Stuarts Choreografie "Waterworks" am Ufer des Zürichsees zum Auftakt des Theaterspektakels (NZZ).
Archiv: Bühne

Kunst

Der Himmel über Pristina: Petrit Halilajs Instaalation auf dem Grand Hotel. Foto: Manifesta 14

Für die taz lassen sich Stephan Becker und Gregor Harbusch von der Manifesta durch die historischen und politischen Schichten des kosovarischen Pristina leiten und möchten die Schau keinesfalls dem internationalen Zirkus zurechnen: Hauptspielort der Manifesta ist das Grand Hotel. Einst erlebte der in Titos Auftrag errichtete Prestigebau mit seinen über 350 Zimmern pompöse Zeiten, heute ist der Charme des poppigen Yugo-Interieurs aus den 1970er Jahren verblichen. Ein entkernter Betontrakt hängt an dem Gebäude wie ein lahmer Arm, als sei das Grand Hotel nicht einer unvollendeten Sanierung, sondern einem Schlaganfall zum Opfer gefallen. Vom Dach des Hotels kündet nun eine pulsierend in die Nacht leuchtende Botschaft von Petrit Halilaj poetische Zeiten an: 'Wenn die Sonne verschwindet, bemalen wir den Himmel' steht in großen Lettern auf Albanisch, darum tänzeln Leuchtsterne. Halilajs optimistisch-verträumte Installation ist beispielhaft dafür, wie die Kunstschau in dieser schillernden Stadt geografische und zeitliche Ebenen verbindet."

Jordan Wolfson: Female Figure, 2014. Kunsthaus Bregenz
Das Kunsthaus Bregenz widmet dem amerikanischen Provokateur Jordan Wolfson eine Ausstellung, der mit seinen Tarantino-haften Arbeiten das Publikum zum Voyeur der multimedialen Gegenwart macht. FAZ-Kritikerin Alexandra Wach hat sich dort nicht wohlgefühlt: "Der summende Bilderexzess wird flankiert von 'Wall Objects', auf denen religiöse Symbole mit Akteuren der Pop-Industrie wie Groucho Marx, Vampiren oder dem weißen Hai ins Gespräch kommen. Exorzismen eines von der multimedialen Collage hoffnungslos faszinierten Stadtneurotikers? Will man den diagnostischen Verdienst von Wolfsons Entwurf eines polarisierten Amerikas erfassen, muss man ihm bei aller Neigung zum Event zugestehen, dass er das Hässliche der herabgesetzten Standards in Politik, Journalismus oder Social Media auf den Punkt gebracht hat."

Weiteres: In der FAZ erzählt Hannes Hintermeier, wie der Bildhauer Bernd Stöcker in der Marktgemeinde Triftern im niederbayerischen Rottal ein altes Wirtshaus in ein Kulturzentrum umwandelt. Besprochen werden eine Ausstellung der Künstlerin Elina Brotherus im Fotografie Forum Frankfurt (FR).
Archiv: Kunst