Efeu - Die Kulturrundschau

Caesar, Nero, Wagner

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20.04.2022. Der Wiener Aktionist Hermann Nitsch ist tot. Die Kunstkritik huldigt noch einmal diesem bösen Kind der Avantgarde und seiner Wut aufs Devote. In der SZ spricht die tschechische Schriftstellerin Radka Denemarková über die Notwendigkeit, Unrecht und Schuld klar zu benennen. In der NZZ erkennt Bora Cosic die tief verwurzelte Unschlüssigkeit, die der Sozialismus mit sich brachte. In der Berliner Zeitung will Regisseur Milo Rau den Glauben an die Menschen in Russland nicht aufgeben. Im Tagesspiegel spricht Ivan Stetsky über die Deutschland-Tournee des Kyiv Symphony Orchestra.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.04.2022 finden Sie hier

Kunst

Orgien Mysterien Theater: 100. Aktion, Schloss Prinzendorf, 3.8.1998. Bild: Hermann Nitsch

Der Wiener Aktionist Hermann Nitsch ist tot. In der SZ attestiert Till Briegleb ihm "priesterlichen Aufrüttelungswillen" für all die exzessiven Kunstrituale, in denen er Lammkadaver ans Kreuz nagelte oder Frauenkörper mit Blutkaskaden übergoss, bis er schließlich mit seinen Schüttbildern in Bayreuth inszenierte: "Der Wiener Aktionismus kannte nichts, wenn es darum ging, Menschen zu schockieren, um ihnen vorzuführen, wie eingefahren und stumpf sie dahinlebten. Mit quälend unverständlichen Texten, Körperkunst, die bis zur Selbstverletzung reichte, und Aktionen, in denen alle Körperflüssigkeiten zur Anwendung kamen, entäußerte sich die Wiener Wut auf das Devote, Angepasste und Obrigkeitshörige in immer schrilleren Inszenierungen." In der Welt weiß auch Hans-Joachim Müller Nitschs Orgien-Mysterien-Theater als "böses Kind der Avantgarde" zu schätzen: "In seinen besten Zeiten gerieten die kunstaktionistischen Dinge zuweilen außer Kontrolle." Im Standard hält Michael Freund fest: "In seinen eigenen Augen war er Religionsarchäologe und Therapeut, Erlöser und Synästhet, Seinsmystiker und Festefeierer, ein Kosmopolit, der in Österreich lebt, und ein Fan des Weinviertels, Anarchist und Verächter der Pensionierung, Genießer alles Fleischlichen und dabei talentloser Koch, war er Caesar, Nero, Wagner 'und alles, was je war'." Weitere Nachrufe in NZZ, FR, Tsp, FAZ.

Weiteres: Im Guardian schickt Charlotte Higgins einen ersten Bericht von der Biennale von Venedig, die am Samstag für die Allgemeinheit öffnet. In der SZ-Serie zum Epoche machenden Jahr 1972 erinnert Catrin Lorch an die Documenta, mit der Harald Szeemann auch die Rolle des Kurators neu erfand. In der Berliner Zeitung berichtet Ingeborg Ruthe von verschiedenen Initiativen, Picassos Umgang mit Frauen aufzuarbeiten.

Besprochen wird die Schau "Nebel. Leben" der japanischen Künstlerin Fujiko Nakaya im Haus der Kunst in München (FAZ).
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Literatur

In der SZ spricht die tschechische Schriftstellerin Radka Denemarková über ihren Roman "Stunden aus Blei", der in China spielt und eine Bestandsaufnahme dessen leistet, was von den Freiheitsversprechen der frühen Neunziger im Ostblock übrig geblieben ist. "Jetzt leben wir in einer neuen Zeit", sagt sie. "Wir hatten doch diese große Hoffnung nach dem Jahr 1989. Aber dann ging es immer nur um Besitz, es gab so viel Gier. Natürlich waren viele frustriert, denen es finanziell nicht gut ging. Aber die Politik muss eben immer wieder erklären, dass es wichtige Werte gibt. Demokratie hat alles: Menschenrechte, Freiheit, Rechtsstaat, keine Zensur. Die Menschen vergessen so schnell." Der schwere Stand der Demokratie hat "viele Gründe. Ein wesentlicher war wohl, dass Präsident Václav Havel nach der Wende nicht wollte, dass Täter aus der Zeit der totalitären Herrschaft bestraft wurden. Jetzt zeigt sich, dass das ein Fehler war. Es mag nicht um Strafe gehen, doch es wäre wichtig gewesen, Unrecht und Schuld klar als solche zu benennen; und auch, wem Leid geschehen ist. Dann hätte sich die Gesellschaft gesund entwickeln können. So sind in den meisten Ländern jetzt wieder Vertreter aus der Zeit vor der Wende an der Macht."

Am Rande dazu passend ist eine Meditation in der NZZ des serbischen Schriftstellers Bora Ćosić, der vor kurzem 90 Jahre alt geworden ist. "Der lange Aufenthalt im Milieu selbst eines gemäßigten Sozialismus machte die ganze menschliche Existenz undurchsichtig", erinnert er sich. "Hatte das, was sich abspielte, den Charakter der Wirklichkeit oder nur den irgendeiner Theaterprobe für etwas, was erst noch eintreten würde? Der Sozialismus als System birgt eine tief verwurzelte Unschlüssigkeit in sich, denn wenn er sich ganz auf die Zukunft ausrichtet, büßt er im selben Moment die Gegenwart ein. Wenn man mit einem Bein im völlig ungewissen Morgen steht, verliert das andere Bein das Gleichgewicht, weil es nicht genug festen Boden gibt, um darauf zu stehen."

Besprochen werden unter anderem Vendela Vidas "Die Gezeiten gehören uns" (Zeit), Yael Inokais "Ein simpler Eingriff" (NZZ), David Heska Wanbli Weidens Krimi "Winter Counts" (Freitag) und die Gesamtedition der Briefe des Publizisten Christian Felix Weiße (FAZ).
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Bühne

In der Berliner Zeitung erzählt der Regisseur Milo Rau, dass er bereits seit seinen "Moskauer Prozessen" von 2013, bei denen um die Schauprozesse gegen Pussy Riot ging, nicht mehr nach Russland einreisen durfte. Und trotzdem: "Als ich noch in Russland inszenierte, bin ich Menschen begegnet, die waren so außerordentlich, dass ich dachte: Hier will ich leben, hier herrscht eine größere Sensibilität in all ihren Widersprüchen als bei uns, im Westen. Wenn ich mich an die durchdiskutierten Nächte in Moskau erinnere, diese ständigen Extreme in den Stimmungen und Meinungen - dann wünsche ich mir nichts sehnlicher, als mit meinen Freunden jetzt dort zu sein. In jenem Land, das im Westen seit einigen Wochen als Reich der Dunkelheit gilt. Denn dieser Krieg wird nicht nur am äußeren, sondern vor allem am inneren Druck scheitern, wie alle Kriege. Nicht 'Russland', nur die Russen - nur wir Menschen können ihn beenden."

Besprochen wird das Tanzstück "New Creation" des brasilianischen Choreografen Bruno Beltrão und des Grupo de Rua im Frankfurt-LAB (FR).
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Stichwörter: Rau, Milo, Pussy Riot

Film

Hat den Hals gestrichen voll: "The Northman" von Robert Eggers

Mit seiner nordischen Fantasy-Sause "The Northman" liefert Robert Eggers FAZler Dietmat Dath zufolge "Heavy Metal als Film, ohne dass es dabei um eigens herausgestellte elektrische Gitarren auf der Tonspur ginge; alles wahrhaft Metallische hier passiert über die Bilder." Und jede Menge Hass und Zerstörungslust steckt auch in diesem Film: Doch "was will nun dieser Film beschädigen, was hasst er? Unübersehbar: das sauber konstruktive, sozialverträgliche Bild des Heroischen, das im Gegenwarts-Blockbusterkino alle Plätze an der Sonne belegt - bei Marvel, bei Star Wars, selbst bei James Bond, der neuerdings auch schon ab und zu an die Lieben daheim denkt.  'The Northman' dagegen lässt, statt dergleichen Verantwortungsethisches zu predigen, lieber zwei wohlproportionierte nackte Kerle mit Schwert und Schild zwischen Lavaströmen einander zu Wurstfetzen hacken."

Weiteres: Jörg Taszman spricht im Filmdienst mit dem französischen Schauspieler Mathieu Amalric, dem das Berliner Kino Arsenal gerade eine Retrospektive gewidmet hat. Besprochen werden François Ozons Sterbehilfedrama "Alles ist gutgegangen" mit Sophie Marceau (Jungle World), Jacques Audiards "Wo in Paris die Sonne aufgeht" (Standard), die Netflix-Serie "Anatomie eines Skandals" (FAZ) und die auf Disney gezeigte Reality-Soap "The Kardashians" (TA).
Archiv: Film

Architektur

In der FAZ stellt Falk Jaeger den neuen Adidas-Campus in Herzogenaurach vor, auf dem die Sportfirma ein Vielzahl unterschiedlichster Architekturen versammelt. Mit dem berühmten Architekturzoo von Vitra in Weil am Rhein möchte Jaeger ihn aber nicht verwechselt sehen: "Der Adidas-Campus 'World of Sports' ist nur zu einem kleinen Teil der Öffentlichkeit zugänglich, der große Rest ist umzäuntes Firmengelände. Auch hat kein Firmenpatriarch nach Gutdünken internationale Stararchitekten engagiert. Im Gegenteil, die Teams mit den berühmtesten und schillerndsten Namen sind in den Wettbewerben gescheitert. Der Glamourfaktor war für die Investitionen jedenfalls kein Kriterium."
Archiv: Architektur

Musik

Christiane Peitz spricht für den Tagesspiegel mit Ivan Stetsky vom Kyiv Symphony Orchestra, das nach einer Sonder-Ausreisegenehmigung auf Deutschlandtour geht. Vor allem ukrainische Musik solle dabei gespielt werden. "Stetsky erzählt von Maxim Berezovsky und dessen 1. Sinfonie. ... 'Es ist eine der ersten ukrainischen Sinfonien überhaupt, energetische, fröhliche Musik,' sagt Ivan Stetsky. Borys Ljatoschynskyj wiederum, Jahrgang 1895, begründete die musikalischen Moderne in der Ukraine. ... Die Russen warfen ihm Formalismus vor, er hatte unter Zensur zu leiten." So musste er seiner Dritten "einen optimistischeren Schluss verpassen, das Motto 'Der Frieden wird den Krieg besiegen' wurde getilgt. 'Ljatoschynskyi hat ukrainische Volksmusik in seine Werke eingebaut, gleichzeitig wandte er den Blick nicht ab von der schwierigen Zeit, in der er lebte', sagt Stetsky. Der Schmerz, der Horror, alles sei in dessen kraftvollen Werken enthalten."

Direktorin Elke Kuhlen erklärt im SZ-Interview, wie es ihr gelungen ist, das Bühnenprogramm des Kölner Festivals c/o pop so zu gestalten, dass der Anteil zumindest reiner Männergruppen nur 50 Prozent beträgt. Wobei sie einräumt, "dass Größe und Ausrichtung uns auch helfen. Wir sind eher ein Newcomer-Festival" und in diesem Segment gebe es "erheblich" mehr Frauen als unter den großen Namen. "Womöglich liegt es dran, dass der Zugang zum Hip-Hop und zur urbanen Musik allgemein für Frauen gerade etwas leichter geworden ist, seit es da ein paar weibliche Vorbilder gibt."

Weitere Artikel: Nachrufe auf den Pianisten Radu Lupu schreiben Judith von Sternburg (FR), Jan Brachmann, der auch über den ebenfalls verstorbenen Pianisten Nicholas Angelich schreibt (FAZ), und Helmut Mauró (SZ). In der SZ-Popkolumne freut sich Jens-Christian Rabe darüber, dass Harry Styles mit "As It Was" mal wieder die Spotify-Charts anführt und im Videoclip dazu obendrein noch seinen "knallroten, schulterfreien Glitzer-Jumpsuit mit Schlag" einfach "hinreißend souverän" trägt:



Besprochen werden Keeley Forsyths "Limbs" (Jungle World), ein Auftritt von Tony Lakatos (FR), das Debütalbum der Wiener Band Thirsty Eyes (Standard) und Astrid Sonnes "Ephemeral Camera Feed" (Pitchfork). Wir hören rein:

Archiv: Musik