Efeu - Die Kulturrundschau

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04.02.2022. Helen Mirren soll Golda Meir spielen - und schon wird ihr "Jewfacing" vorgeworfen. "Ist Schauspiel nicht immer Aneignung?", fragt die SZ. Glücklich wird sie auch nicht mit den "woken Spezialistenfundstücken", die für das diesjährige Theatertreffen ausgewählt wurden. Die NZZ bewundert  Mohammed-Darstellungen in Zürich und lernt: Das Bilderverbot im Islam ist keineswegs absolut. Die FAZ erfährt von Jon Fosse, wer seine Romane schreibt und von Tocotronic, wie man subversiv das System umarmt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.02.2022 finden Sie hier

Film

Bislang existiert von Helen Mirren als Golda Meir, die sie in einem Biopic verkörpern wird, nur ein Promo-Foto - doch schon wird Kritik laut, dass die Schauspielerin nicht dafür geeignet sei, die israelische Ministerpräsidentin zu spielen, weil sie selbst keine Jüdin ist: "Jewfacing" ist das Schlagwort. Doch "anders als beim Blackfacing stellt sich hier die Frage, wie sichtbar Jüdischsein denn bitteschön sein soll", schreibt dazu Susan Vahabzadeh in der SZ. "Wo endet das Rollenspiel, wo beginnt die kulturelle Aneignung? Oder: Ist Schauspiel nicht immer Aneignung?" 1982 spielte bereits Ingrid Bergman Golda Meir. "Dass sie keine Jüdin war, war damals natürlich kein Thema - es ging eher darum, dass eine ungewöhnliche Frau, die neue Wege ging, eine ungewöhnliche Frau spielte, die neue Wege ging. Bergman spielte alles, von der Femme fatale bis zum zurückgebliebenen Kindermädchen. Und vielleicht hatte sie mit diesen Rollen weniger gemein als mit Golda Meir."

Ziemlich fassungslos reagiert der Welt-Journalist Alan Posener (allerdings auf seinem eigenen Facebook-Profil) auf Matti Geschonnecks ZDF-Film "Die Wannseekonferenz": Der Regisseur "lässt Heydrich sagen, die Juden hätten mit dem Kriegseintritt der USA 'ihren Wert als Geiseln verloren', weshalb man nun zur Ausrottung schreite. Das ist die alte, längst diskreditierte These von Ernst Nolte, die den Westmächten implizit eine Mitschuld an der Nichtrettung der 'Geiseln' gibt. Es gibt aber nicht den geringsten Hinweis in den Dokumenten, dass die führenden Nazis tatsächlich so gedacht hätten. Warum wird diese These vom ZDF neu aufgewärmt?" An zweiter Stelle auf Facebook verweist Posener auf einen kritischen Spiegel-Artikel von 1984, als die Wannseekonferenz schon einmal "verfilmt" wurde. Die damals geäußerte Kritik treffe auch auf den aktuellen Film zu. Und Posener stellt fest: "Geschonneck hat offensichtlich das damalige Drehbuch mit allen Fehlern fast wörtlich übernommen, allen voran die unhaltbare Geisel-Theorie. ... Man fragt sich, welchen Zweck eine solche Neuverfilmung haben sollte, außer als Fördermaßnahme für den deutschen Film."

Rüdiger Suchsland ärgert sich auf Artechock über Anna Wollners RBB-Kommentar, die sich ihrerseits darüber geärgert hat, dass die Berlinale der Presse trotz Omikron keine Sichtungslinks zur Verfügung stellen will, sondern auf Präsenz im Kinosaal drängt (unser Resümee): "Ein Festival, das hybrid oder gar nur digital stattfindet, findet quasi nicht statt. ... Das Bekenntnis der Berlinale zum Kulturort Kino als dem privilegierten, besten und normalen Ort für das Ansehen eines für eben diesen Ort eigens hergestellten Werks sollte von Filmkritikern gefeiert und nicht kritisiert werden." Außerdem hat Suchsland mit Torsten Frehse von Neue Visionen über die aktuelle Lage der unabhängigen Filmverleiher gesprochen. Zuvor hatte Frehse auf Facebook sehr zornig auf Wollners Kommentar reagiert.

Außerdem: Robert Wagner schreibt auf critic.de Notizen vom Filmfestival Rotterdam. Andreas Hartmann erkundigt sich für die taz bei Berliner Programmkinos nach deren Lage im Coronawinter. Sebastian Seidler schreibt im Filmdienst über Demenz im Kino. Von einer Posse berichtet Denis Gießler in der taz: Ende Januar hatte Arte nach vollmundigen Ankündigungen George A. Romeros Splatterklassiker "Day of the Dead" ungeschnitten gesendet und auch in die Mediathek gestellt - und ihn von dort gestern wieder hektisch entfernt, weil dem Sender aufgegangen ist, dass der Film hierzulande einem Totalverbot wegen §131 StGB unterliegt.

Besprochen werden Behtash Sanaeehas und Maryam Moghaddams "Ballade von der weißen Kuh" (Artechock, SZ, Presse, unsere Kritik hier), Christian Schwochows "München - Im Angesicht des Krieges" (Artechock), Roland Emmerichs neuer Science-Fiction-Film "Moonfall" (NZZ), Rob Jabbaz' taiwanesischer Zombiefilm "The Sadness" (Artechock, Presse), die auf Disney+ gezeigte Serie "Pam & Tommy" über den 90s-Skandal um das Sextape von Pamela Anderson und Tommy Lee (Presse), Lars Montags "Träume sind wie wilde Tiger" (Artechock) und Léa Fazers Arte-Krimiserie "Sacha" (FAZ).
Archiv: Film

Kunst

Bild: "Fath ʿAli Shah Qajar", Mihr ʿAli zugeschrieben; Teheran, um 1805, Geschenk von Fath ʿAli Shah an Napoleon I., Louvre, Dépôt du Musée de Versailles, Paris, MV6358

Sehr "klug" findet Thomas Ribi in der NZZ die Sonderausstellung "Im Namen des Bildes" im Museum Rietberg in Zürich, die den Paradoxen des Bilderverbots im Christentum und im Islam anhand von Werken aus dem mittelalterlichen Europa, aus Byzanz, Persien, dem Osmanischen Reich und den Mogulreichen auf den Grund geht. "Der Verzicht auf Bilder ist im Islam keineswegs absolut. Auch wenn islamistische Gruppierungen heute Menschen töten dafür: Der Prophet wurde immer wieder dargestellt, gerade in religiösen Kreisen. In der Ausstellung ist ein wunderbares Bild aus dem 16. Jahrhundert zu sehen, das zeigt, wie Mohammed einen Kranken heilt. Der Weg der Christen zum Bild wiederum ist alles andere als geradlinig. Immerhin sahen sie sich einem Verbot gegenüber, das nicht nur Gottesdarstellungen untersagte, sondern Bilder von allem, 'was oben im Himmel, was unten auf der Erde oder was im Wasser oder unter der Erde ist'. Eine Zeichnung des Matterhorns wäre also bereits ein Frevel."

In der SZ zeichnet Peter Richter das ganze Verwirrspiel um verschiedene Versionen von Martin Kippenbergers Gemälde "Paris Bar" nach: Kippenberger gab zwei Versionen des Werks bei dem Plakatmaler Götz Valien in Auftrag, dieser möchte nun eine dritte Neufassung in einer eigenen Ausstellung zeigen, was wiederum bei Kippenbergers Galeristin und Nachlassverwalterin Gisela Capitain auf wenig Gegenliebe stößt: "Einen Auftrag zu wiederholen, der vor über 30 Jahren von einem Künstler an die Firma Werner Werbung ging, und den Herr Valien lediglich ausgeführt hat, ist dann eben das, was es ist: die Wiederholung der Ideen und Konzepte eines Anderen."

Besprochen wird die Ausstellung "Margaret und Christine Wertheim: Wert und Wandel der Korallen" im Museum Frieder Burda (monopol, FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Thomas David hat für die FAZ Jon Fosse besucht. Eben ist mit "Ich ist ein anderer" ein neuer Roman aus dem Heptalogie-Zyklus des norwegischen Schriftstellers erschienen, der Karl Ove Knausgårds Lehrmeister war. Schon Knausgård beschrieb Fosse als den grübelnden Zeitgenossen, den auch David bei seinem Treffen kennenlernte, "vor allem dann, wenn er für einen gedehnten Augenblick in einen tiefen Atemzug abzutauchen scheint. Er sagt: 'Ich trage einen Schmerz in mir, den ich mir nicht erklären kann. Das Schreiben ist für mich ein Weg, die Dunkelheit zu vertreiben.' ... Er sieht vor sich hin, in seinem Blick liegt etwas Fragendes. 'Aber natürlich bin es nicht ich, der diesen Roman geschrieben hat', sagt er. 'Ich kann nicht behaupten, dass Gott ihn geschrieben hat, aber gewiss etwas, das außerhalb meiner selbst existiert. Was mag das sein? Es wird ein wenig unheimlich, sobald man beginnt, auf diese Weise darüber nachzudenken.'"

Besprochen werden unter anderem Hanya Yanagiharas "Zum Paradies" (FR), Jakob Augsteins "Strömung" (NZZ) und Volker Reinhardts Voltaire-Biografie (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Szenen aus "24 Preludes": Rebecca Horner, Marcos Menha. Bild: Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

Daran, wie schön echte Begegnungen sein können, wird Standard-Kritiker Helmut Ploebst beim gleichnamigen Ballettabend des Wiener Staatsballetts in der Volksoper erinnert, wo unter anderem eine Choreografie des Russen Alexei Ratmansky gezeigt wurde: "Ratmansky hat zu Frédéric Chopins Spitzenwerk der 24 Préludes op. 28 aus den 1830er-Jahren eine 'Psychologie' der Begegnung choreografiert. Männer und Frauen kommen einander in unterschiedlichsten Konstellationen nahe, oft in die Quere. Da spielen Erwartungen mit und Störungen, Freude, Stolz, Abneigung - oder man tanzt schlicht aneinander vorbei. Wobei das Psychologische nur einen Teil dieses Balletts ausmacht. Das ganze Spiel wird erst sichtbar, wenn sich die Feinheiten der Formulierung treffen, zum Beispiel: wer wann welche Nuancen in ihre oder seine Bewegungen legt und wie das mit dem Licht (Wolfgang Könnyü), der Musik - es spielt das Volksopernorchester unter Gerrit Prießnitz -, den Kostümen (Keso Dekker) und dem Timing kommuniziert."

Sehr zufrieden nimmt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung die Auswahl zur Kenntnis, die die Jury für das Theatertreffen 2022 getroffen hat: "Toll ist jedenfalls von Berlin aus gesehen, dass es Yael Ronens 'Slippery Slope. Almost A Musical' auf die Liste geschafft hat und damit der Machtmissbrauchsdiskurs in humorvoller Brechung. Und es gibt noch eine zweite Berliner Produktion vom Hebbel am Ufer (HAU), nämlich: 'All Right. Good Night', das Demenzstück von Helgard Haug. Auch Hamburg ist mit zwei Produktionen eingeladen: vom Thalia 'Doughnuts' von Toshiki Okada und vom Schauspielhaus Signas (Signa Köstlers) Performance-Installation 'Die Ruhe'." Glücklich kommentiert auch Patrick Wildermann im Tagesspiegel die Auswahl, bei der die Frauenquote mehr als erfüllt ist.

"Klassisches Erzähltheater hat in Berlin längst keine Chance mehr", meint indes Christine Dössel in der SZ: "Alles, was irgendwie nach Mainstream, großen Namen und gefälligen 'Crowd-Pleasern' riecht, meidet die Jury, als sei es anrüchig oder per se unbedeutend. Angesagt ist der hippe, woke Genre-Mix, der Textflächentanz, das musikalisch-choreografische Systemsprengertum. Entsprechend wenig Breitenwirkung haben die meisten der ausgewählten Inszenierungen bisher gezeitigt, fast alles Uraufführungen, Bearbeitungen, performative Erkundungen. Spezialisten-Fundstücke, die in Berlin hoffentlich überraschen können und nicht zu Insider-Festspielen in einer sich selbst befriedigenden Theater-Bubble führen."

Außerdem: In der Welt erinnert Reinhard Wengierek an den Schauspieler und früheren Intendanten des Deutschen Theaters in Berlin, Dieter Mann, der im Alter von 80 Jahren gestorben ist: Seine "hohe Sprechkunst war das eine. Das andere der Spieltrieb. Seine Agilität, sein Charisma bis in die Fingerspitzen; seine schier sensationelle Präsenz (nicht nur auf der Bühne). Doch hatte seine Verwandlungskunst stets etwas von kalkulierter Diszipliniertheit. So bekamen seine Figuren eine feine, oft ironiedurchwehte Distanz. Hinzu kam sein scheinbar beiläufiges Insistieren auf den tragischen Punkt - oder das tragische Pünktchen - einer Rolle." Im Tagesspiegel schreibt Kerstin Decker.

Besprochen werden Uwe Eric Laufenbergs Inszenierung der Tschaikowski-Oper "Pique Dame" am Staatstheater Wiesbaden (FR) und Sarah Lecarpentiers Filmtheaterabend "XXI" am Schauspiel Magdeburg (FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

Lars Fleischmann stellt in der taz den New Yorker Produzenten Anthony Naples und dessen Label Incienso vor, das schon vor Corona ein Netzwerk von Freunden darstellte. Doch mit der Pandemie änderte sich vieles, insbesondere für die DJs im Programm. "Aus den eigenen vier (Studio-)Wänden wurde Musik in die Welt geschickt. Für Naples kam dies einer Initialzündung gleich. Er nahm erstmals seit Langem wieder die Gitarre in die Hand. ... Das Ergebnis ist auf seinem Album 'Chameleon' enthalten. Ein, trotz aller Widerstände, optimistischer Klangentwurf - vergleichsweise abseits der Funktionalität von Dancefloorsound, kapriziert sich Naples in einem ganz eigenem Klanggemisch: Drums, Gitarren und Bässe ahmen mal (Post-)Punkness und Krautrock nach, die Stücke wirken eher organisch als synthetisch. Dann wieder gleichen sie chilligen HipHop- und R&B-Instrumentals." Wir hören rein:



Die Feuilletons diskutieren weiter über Tocotronic, nachdem deren neues Album "Nie wieder Krieg" auch schon auf Social Media die Kommentarspalten erheblich spaltet. Ist die einst mit jugendlicher Unbekümmertheit angetretene Schrammelpop-Gruppe nicht längst schon zum distinguierten Kulturinventar geworden, fragt sich Jan Wiele bang in der FAZ. Doch "irrt, wer der Gruppe totalen Ausverkauf vorwirft. Mit einigem Recht könnte man nämlich auch behaupten, Tocotronic befänden sich auf dem langen Marsch durch die Institutionen, den manche Achtundsechziger nach nicht erfolgter Revolution angetreten haben: Sie umarmen das System (hier das der Pop-Industrie), bewahren sich aber Subversion und auch Witz in ihren Texten und in der musikalischen Form." So offenbaren auch die Texte auf dem neuen Album, "dass sie lyrische, bisweilen fast kalauernde Spiele sind."

Weitere Artikel: Marianne Zelger-Vogt porträtiert für die NZZ den Pianisten Francesco Piemontesi. Besprochen werden das neue Album "Aboogi" der algerischen Tuareggruppe Imarhan (taz) und Sarah Aristidous Debütalbum "Æther" (online nachgereicht von der FAZ). Wir hören rein:

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