Efeu - Die Kulturrundschau

Ein weiblicher Hitparaden-Heidegger

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20.07.2021. Die NZZ berichtet von Kampf kubanischer KünstlerInnen für mehr Öffnung und Dialog. In der SZ besichtigt Norbert Scheuer die Trümmer in Kall und Lutz Seiler protestiert gegen die Entscheidung Berlins, nicht mehr das Grab Oskar Loerkes zu pflegen. In der FAZ fragt der Dirigent Pietari Inkinen die Radiosender und Orchester, wer das Publikum in Zukunft bilden soll, wenn nur noch Beliebtes und Bekömmliches gespielt wird. Und auch artechock bejubelt den Affront, den Julia Ducournaus prämierter Horrorfilm "Titane" für das Kino von Cannes bedeutet.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.07.2021 finden Sie hier

Literatur

Berlin will das Grab des Dichters Oskar Loerke nicht mehr unter seinen Ehrengräben führen und pflegen - in der SZ protestiert der Schriftsteller Lutz Seiler heftig: "Ein fortlebendes Andenken sei nicht mehr erkennbar - wie wurde das denn gemessen? Und dann: Was ist das, die 'allgemeine Öffentlichkeit'? Hier beginnt das Erschrecken: Wäre es eventuell möglich, mit dieser nicht näher spezifizierten Öffentlichkeit als Maß und im Grunde unwiderlegbarem Argument auch das Erinnern an die Geschichte der Dichtung und das Wirken ihrer Autoren insgesamt abzuschaffen? ... Für Paul Celan war Loerkes 'Pansmusik' das schönste Gedicht in deutscher Sprache. Huldigungen kommen von Wilhelm Lehmann und Günter Eich, die später jeweils eigene Auswahlbände mit Loerkes Gedichten herausgeben". Und gern wäre Seiler zudem bereit, der Berliner Politik "einen Überblick über die Loerke-Rezeption in der Gegenwartsliteratur zu skizzieren".

Najem Walis neuer, in Deutschland noch unbesprochener Roman "Soad und das Militär" über die ungeklärten Umstände des Todes der ägyptischen Schauspielerin Soad Hosny ist im arabischen Sprachraum eine heikle Angelegenheit, berichtet Lena Bopp in der FAZ. Dem Verleger Satar Mohsen könnte es durchaus Probleme bringen, warnten ihn seine Kollegen. Die erste Auflage ist immerhin schon ausverkauft, "auch in Kairo, wo das Buch zwar nicht auf den Tischen in der Messehalle auslag, aber trotzdem den Weg zu seinen Lesern fand. Wie genau er das anstellte, will Satar Mohsen nicht preisgeben. ... Seit jeher spielen Verleger, Buchhändler und Autoren mit den Zensoren nicht nur in Ägypten ein Katz-und-Maus-Spiel. In manchen Ländern müssen Listen der Bücher vorgelegt werden, bevor die Verleger zu den dortigen Buchmessen anreisen, und manchen Titeln wird die Einfuhr verwehrt. Andere werden vorab zensiert, liegen dann aber als Raubkopien auf den Tischen. Oder einige werden erst vor Ort aus dem Verkehr gezogen, so etwa die Praxis in Kairo."

Der in der Eifel lebende und über sie schreibende Schriftsteller Norbert Scheuer versucht in der SZ, die Wetterkatastrophe der letzten Tage zu beschreiben: "Mein Roman 'Winterbienen' handelt von den letzten Kriegstagen in Kall. Ich habe bei der Recherche viele Bücher über diese Zeit gelesen, mit Zeitzeugen gesprochen, unzählige Fotografien von dem zerstörten Kall und andern Eifeldörfern angesehen. Kall sieht nun tatsächlich wie nach den Bombenangriffen der letzten Kriegstage aus. Im Kernort sind die Häuser fast alle unbewohnbar, die Straßen liegen voller Hausrat, riesige Müllberge, Kinderwagen, Kleiderbügel, ein rosafarbenes Plastikpiano, eine lebende, zitternde, nasse weiße Katze oben auf dem Sperrmüll. Die Buchhandlung Pavlik in der Bahnhofstraße existiert nicht mehr." Auf ihrer Website bittet sie um Spenden.

Weiteres: Denis Scheck hat sich mit seiner neuen SWR-Reihe "Schecks Anti-Kanon" im Allgemeinen, mit seiner harschen Kritik an Christa Wolf im Besonderen vergaloppiert, meint Michael Hametner im Freitag und fragt sich, was bei Scheck wohl im Argen liegen mag: "Dass er sich mit den öffentlich-rechtlichen Leitmedien im Rücken für unangreifbar hält?"

Besprochen werden unter anderem Heinz Strunks "Es ist immer so schön mit Dir" (Welt), Eloísa Díaz' Kriminalroman "1981" (online nachgereicht von der FAZ), Goran Vojnovićs "Tschefuren raus! oder Wie ich wieder mal zu Fuß in den zehnten Stock musste" (taz), Hans-Ulrich Treichels "Schöner denn je" (FR), Sergej Lebedews "Das perfekte Gift" (Standard), Adolf Muschgs "Aberleben" (NZZ), Audre Lordes Essayband "Sister Outsider" (SZ) und Anatoli Pristawkins "Schlief ein goldnes Wölkchen" (FAZ).
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Kunst

Seit Jahren treten Künstlerinnen und Künstler in Kuba, von Tania Bruguera bis Fernando Pérez für eine Öffnung des Landes ein. Doch wie Knut Henkel nach den Protesten von San Antonio in der NZZ berichtet, lehnt die Regierung bisher alle Versuche ab, ins Gespräch zu kommen: "Die Kunst ist längst zur Speerspitze der sozialen Bewegung in Kuba geworden. Sie fordert Verfassungsrechte wie die Versammlungs- und die Meinungsfreiheit laut ein - und ein Recht auf Partizipation. Das hat es in dieser Vehemenz und Deutlichkeit in knapp 63 Jahren Revolution noch nicht gegeben, und der 11. Juli markiert einen Wendepunkt nicht nur für diese Künstlergeneration. Die Bilder von kubanischen Polizisten, die gezielt Schüsse auf Demonstranten abgeben, waren auf der Insel zuvor nicht vorstellbar. Ein Grund, weshalb der Ruf nach Gerechtigkeit und lückenloser Aufklärung in den sozialen Netzen laut ist."

Weiteres: In der NZZ stellt Florian Coulmas Ann Demeester vor, die ab dem nächsten Jahr das Kunsthaus Zürich leiten wird. Besprochen wird eine Schau der afroamerikanischen Künstlerin Julie Mehretu in der Borch Gallery in Berlin (Tsp).
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Architektur

In der FAZ huldigt der Kunsthistoriker Henrik Karge der Kathedrale von Burgos, deren Grundstein vor achthundert Jahren gelegt wurde und an der auch die Meister der Naumburger Werkstatt mitarbeiteten: "Während Besucher aus anderen europäischen Ländern zumeist stilreine musealisierte Kirchenräume gewöhnt sind, stoßen sie in Burgos auf eine Kathedrale, deren labyrinthisches Innenraumgewebe die gesamte achthundertjährige Geschichte des Bauwerks verkörpert und im Gesamteindruck unverwechselbar spanisch wirkt. Andererseits: kaum ein anderes Bauwerk visualisiert die Einbindung der spanischen in die europäische Geschichte im gleichen Maß wie die Kathedrale von Burgos."
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Bühne

Amazonomachie in Laëtitia Guédons "Penthésilé.e.s": Foto: Christophe Raynaud de Lage / Festival d'Avignon

Beim Theaterfestival in Avignon erlebt Joseph Hanimann mit Inszenierungen von Anne-Cécile Vandalem, Caroline Nguyen, Emma Dante oder Kornél Mundruczó das beste Programm seit Jahren, wie er in der Nachtkritik schreibt. Und sogar Marie Dilassers genderfluide "Penthésilé.e.s" in der Regie von Laëtitia Guédon findet er ausgesprochen inspirierend: "Vor einem heiteren Wolkenhimmel, der sich allmählich in eine Landschaft, ein Schlachtfeld, ein Stadtpanorama, einen Blutfluss und schließlich in eine klaffende Körperwunde verwandelt, steigt eine keineswegs kriegerisch wirkende Penthesilea auf ein mit Kerzen geschmücktes Podest und hebt zur langen Rede an den zunächst abwesenden Achilles an. 'Glaubst du, ich werde nun meine Hunde gegen dich hetzen, wie es in alten Theaterstücken geschieht?', spottet sie. Die romantische Penthesilea, die bei Kleist den Gegner mit Waffen herausfordert und ihm in der Liebe unterliegt, sei überholt, behauptet die Aufführung. Diese Frau will den Krieger nicht schlagen, sondern ihn sich einverleiben, vertilgen und mit ihm zusammen ein neues Geschlechterverhältnis eingehen, das nicht mehr aus 'Frau' und 'Mann' besteht, sondern aus einer Geschlechtervielfalt des 'immer wieder anderen'."

Beim Wiener Impulstanz-Festival lässt sich Standard-Kritiker Helmut Ploebst freudig von der Choreografin Meg Stuart auf eine Himmel- und Höllenfahrt durch seine Gefühlsspektren schicken. Dort hatte ihr Stück "Cascade" Premiere: "'Cascade' erweist sich als eine künstlerische Reflexion über das Erleben von Zeit als Kulturphänomen und ist als solche großartig 'unnatürlich' inszeniert von der ersten bis zur letzten Sekunde. Einmal wieselt das Grüppchen, von Brendan Doughertys dynamischer Perkussion gejagt, wie übergeschnappt umher, dann wieder liegt es darnieder. Zwischendurch sagt ein Performer einen ironisch banalen Text von Tim Etchells auf, werden Kostüme gewechselt, geraten alle ins Taumeln."

Weiteres: Der Standard meldet, dass zumindest ein Besucher der fahrlässig ungeschützten "Jedermann"-Premiere Corona-infiziert war. Sabine Leucht feiert in der taz die Münchner Kammerspiele, die unter ihrer Intendantin Barbara Mundel mit postkolonialen und feministischen Diskursen und prallem Schauspiel gegen den Bedeutungsverlust der Theater anspielen."
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Film

Die Goldene Palme für Julia Ducournaus Horrorfilm "Titane" ist ein Affront gegenüber jenem Qualitätskino, das üblicherweise in Cannes den Wettbewerb bestimmt und dort ausgezeichnet wird, meint Rüdiger Suchsland auf Artechock. Aber ein Affront, der nötig ist, denn er trifft ein Kino, "das bestimmten engen ästhetischen Mustern folgt, aber wenn man ehrlich ist, schon lange alt und mürbe und ideenlos geworden ist. Ein Kino, das in den letzten 30 Jahren zunehmend aus braven Geschichten über gute Menschen besteht, ein Weltverbesserungskino der Elendsportraits und der Lehrstücke, das aber filmisch wenig bietet und zumeist nur abbildet und illustriert. ... Die Agenden müssen sich ändern. Das Kunstkino muss sich dem wieder öffnen, was das Kino inzwischen nur im Mainstream oder in seinen Nischenbezirken abbildet: Dem Unbewussten, Surrealen, Unklaren, Ungesicherten, Riskanten."

Weitere Artikel: Keine Serie über die mexikanischen Kartelle und den Drogenkrieg werden der Lage so sehr gerecht wie die Netflixproduktion "Somos", schreibt Mexiko-Korrespondent Wolf-Dieter Vogel in der taz.

Besprochen werden Thomas Vinterbergs Pichelfilm "Der Rausch" (Jungle World, SZ) und Justin Lins neuer Teil der "Fast & Furios"-Actiofilmreihe (Presse, unsere Kritik hier).
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Musik

Clemens Haustein spricht in der FAZ mit dem Dirigenten Pietari Inkinen, der in Bayreuth Wagner dirigieren wird. Dass die Radiosender bei Klassik zunehmend auf Bekömmlichkeit setzen, sieht der Leiter der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken zwiespältig: "Wenn eine Institution, ein Orchester oder ein Rundfunksender, ihre Rolle nicht wahrnimmt als Educator und nur eine Umfrage macht, was das Publikum hören möchte: Wie soll es dann besser werden? Es hat sich ja überhaupt sehr viel verändert. Früher brachte man Kinder nachmittags zum Sport oder zum Musikunterricht, heute sind die Kinder tagsüber in der Kita oder in der Ganztagsschule, wo das Musik- und Kulturangebot aber heruntergefahren wird. Da sollten wir wirklich alles tun, dass die ganze Palette der Kultur erhalten bleibt."

Weitere Artikel: Für die taz porträtiert Jens Uthoff den in Berlin lebenden Noise- und Experimentalmusiker Shigeru Ishihara und dessen neues Projekt Scotch Rolex. Florian Bissig berichtet in der NZZ vom Festival da Jazz in St. Moritz. Auf ZeitOnline gratuliert Magnus Klaue Juliane Werding, die gestern 65 wurde, aber zu seinem Bedauern seit den 80ern vornehmlich "wie ein weiblicher Hitparaden-Heidegger auftrat, der dem Publikum metaphysischen Ramsch als authentische Seelenschau andreht".

Besprochen werden eine von Mirga Gražinytė-Tyla dirgierte Aufführung von Benjamin Brittens "War Requiem" bei den Salzburger Festspielen (NZZ, Standard), Grigory Sokolovs Konzert beim Rheingau Musik Festival (FR), ein neues Album von Bossanova-Erfinder João Donato (taz), Eliza Shaddads neues Album "The Woman You Want" (Tagesspiegel), Bernhard Hannekens Buch über das deutsche Folkrevival in den 60ern (taz) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter Erkki-Sven Tüürs CD "Lost Prayers" mit Kammermusiken (SZ).
Archiv: Musik