Efeu - Die Kulturrundschau

Fenster zur Welt

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06.02.2021. Die taz würde gern mal über den Kulturbegriff des WDR diskutieren, der die Rezension durch den Buchtipp ersetzen will. Die chinesischen Behörden haben das für seine Untertitelung ausländischer Filme bekannte Online-Filmportal Renren Yingshi hochgenommen, berichtet die FAZ. Die NZZ erinnert an die revolutionären Schriften des Musiksoziologen Paul Bekker. Hyperallergic erliegt dem Spiel von Farbe und Licht des abstrakten Künstlers John Mendelsohn. Die FAZ fragt mit Salvatore Sciarrinos neuer Oper "Der Gesang wird traurig, warum?" Die taz gratuliert Thomas Bernhard schon mal zum Neunzigsten. Die Filmkritiker trauern um Christopher Plummer.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.02.2021 finden Sie hier

Bühne

Szene aus " Il canto s´attrista, perché?" Foto: Karlheinz Fessl


Am Stadttheater Klagenfurt konnte trotz des Lockdowns die Uraufführung von Salvatore Sciarrinos neuer Oper "Il canto s'attrista, perché?" - "Der Gesang wird traurig, warum?" - über die Bühne gehen. Es geht um die gewalttätige Geschichte der Tantaliden (hier: die Ermordung Agamemnons) und die Frage, wie "aus Tätern Opfer und aus Opfern Täter" wurden, erzählt in der FAZ Florian Amort. Die Handlung sei dabei gar nicht von großer Bedeutung, meint der Kritiker. "Viel wichtiger sind die reflektierenden Monologe einzelner Personen oder deren Zwiegespräche mit dem das Geschehen kommentierenden und über Lautsprecher übertragenen numinosen Chor, der unnötigerweise durch ein vierköpfiges Spiel-Ensemble permanent auf der Bühne präsent sein muss. Diese Szenen ermöglichen Sciarrino, mit einem psychologischen Ohr die unterschiedlichen Aggregatzustände der menschlichen Seele zu ergründen." Leider arbeite Regisseur Nigel Lowery dem eher entgegen mit seinem "überdrehten Gewaltporno".

Auf Zeit online beglückwünscht Carolin Ströbele die Schauspieler, die sich im SZ-Magazin geoutet und für mehr Diversität eingesetzt haben (unser Resümee): "Dass die #actout-Gruppe in ihrer Erklärung extra noch betonen muss: 'Wir müssen nicht sein, was wir spielen' - das ist eine Armutserklärung für die Branche. Denn es ist ja nicht nur ein Problem, dass in Deutschland die wichtigen Film- und Fernsehrollen aus einem überschaubar kleinen, feststehenden Pool an Darstellerinnen und Darstellern gecastet werden; sondern auch, dass das Schubladendenken hier immer noch besonders ausgeprägt ist. Nicht-weiße Darstellerinnen und Darsteller geben regelmäßig die Reinigungskraft oder den Drogendealer; und Frauen, die nicht einem längst überkommenen Bild von 'Weiblichkeit' entsprechen, dürfen allenfalls die lustige Kumpelin oder die toughe Polizistin ohne Privatleben spielen." Andererseits: wird das "Wir müssen nicht sein, was wir spielen" im Kontext der Debatte über kulturelle Aneignung nicht ganz anders diskutiert?

"Die 185 Schauspieler:innen machen etwas sichtbar. Diese Sichtbarkeit wird bleiben. Jetzt muss sich nur noch die Branche ändern", meint Georg Kasch in der nachtkritik.

Als Gesprächsangebot heißt auch Sandra Kegel das Manifest von #actout in der FAZ willkommen. Allerdings sieht sie viele Türen bereits offen. Warum also die Aufmachung, die das SZ-Magazin gewählt hat, und die "nicht nur im Layout der vielen kleinen Porträts, sondern auch in der Wortwahl - 'Wir sind schon da' - auf den legendären Stern-Titel 'Wir haben abgetrieben' anspielt. Da zeigt sich Kalkül im Ringen um Aufmerksamkeit bei Verkennung der Verhältnisse. Als sich am 6. Juni 1971 im Stern 374 Frauen öffentlich dazu bekannten, abgetrieben zu haben, verstießen sie damit gegen geltendes Recht und riskierten viel - nicht zuletzt mehrjährige Haftstrafen. Bei einer Rolle übergangen zu werden mag ärgerlich sein und sicherlich auch kränkend, aber lebensgefährlich ist das nicht."

Im Gespräch mit Dlf Kultur erzählt der Regisseur Ersan Mondtag, warum seine Performance zur Eröffnung des Dokumentationszentrums "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" in Berlin von der Bundesstiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" abgesagt wurde: "'Uns war wichtig', erzählt der 34-jährige Regisseur, 'dass man den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg nicht von der Fluchtbewegung entkoppelt betrachten kann. Und uns fiel auf, dass die Stiftung dort einen Fokus setzen wollte, der anders gewichtet war.' Zeitweise habe es einen produktiven Austausch gegeben, erinnert sich Mondtag: 'Im Zuge dessen ist die Bedeutung der Fluchtursachen immer kleiner und die der Fluchtgeschichten immer größer geworden.' Das sei am Ende eskaliert, als es darum ging, 'dass wir die Vereinnahmung der gegenwärtigen rechten Parteien dieses Themas ausblenden sollten.' Daraufhin habe Mondtag der Stiftung mitgeteilt, das erreiche den Tatbestand der Zensur."

Über einen anderen Aspekt der Geschichtre berichtet Peter Laudenbach in der SZ:Da die Stiftung mit dem Künstler noch keinen Vertrag gemacht hatte, sitzt er auf beträchtlichen Kosten, die er vorgestreckt hat: "Über Wochen haben die Stiftungsdirektorin und die Kulturstaatsministerin nur hinhaltend auf Mondtags Forderung reagiert, für die entstandenen Kosten aufzukommen. Stattdessen engagierte die Stiftung ein teure Anwaltskanzlei, um die finanziellen Ansprüche der Künstler abzuwehren."

Weitere Artikel: Vollkommene Phantasielosigkeit was die Zukunft der Frankfurter Bühnen angeht erlebte Matthias Alexander (FAZ) bei einem Podiumsgespräch mit Anselm Weber (Schauspiel) und Bernd Loebe (Oper) im Deutsche Architekturmuseum. In der FAZ erzählt der Dramatiker Nis-Momme Stockmann von seiner Corona-Impfung, die er als ehrenamtlicher Sterbebegleiter in einem Altenheim erhalten hat.

Besprochen werden die "Perser" frei nach Aischylos, via Zoom heute um 20 Uhr vom studionaxos (FR), Jana Zölls "Challenge Accepted! - Ich bin" via Zoom beim Theater der Jungen Welt Leipzig (nachtkritik), Juliane Kanns Inszenierung von Kafkas "Verwandlung" für den Online-Spielplan des Deutschen Nationaltheaters Weimar (nachtkritik)
Archiv: Bühne

Film

Der große Christopher Plummer ist tot. "Er war darstellerisch schon früh ein nicht auf ein Fach festlegbares, in vielen Spielschattierungen schillerndes Chamäleon", schreibt Manuel Brug in der Welt. "So wurde er über sehr, sehr lange Karrierejahre einer der herausragenden Charakterdarsteller seiner Generation", der sich auf der Bühne aber oft wohler fühlte als vor der Kamera: "Plummer besaß Witz und Würde, vor allem aber Größe als eine imposante, vom ersten Moment raumfüllende Theaterpräsenz mit einer gut gepflegten, kultiviert-resonanten Stimme, über die ein Kritiker einmal sagte: 'Mit diesem weichen Leder kann man wahrlich Spiegel polieren.'" In "Sound of Music" poliert das weiche Leder das Edelweiß:



Die chinesischen Behörden haben das Online-Filmportal Renren Yingshi hochgenommen, berichtet die Korrespondentin Friederike Böge in der FAZ. Vordergründig gehe es dabei zwar um Raubkopien, was als Vorwurf auch zweifellos Hand und Fuß hat. Doch sieht Böge einen anderen Aspekt maßgeblich: Die Plattform umgehe mit seinem Netzwerk an Hobby-Untertitlern die Filmzensur des Landes, das ausländische Filme penibel prüft und zum Beispiel Netflix komplett gesperrt hat. Diese Untertitler "sind Enthusiasten, die ohne Bezahlung ganze Filme ins Chinesische übersetzen. Sie haben in China Kultstatus. ... Der Literaturprofessor Yang Feng von der Fudan-Universität schrieb am Donnerstag in einer Hommage an 'all jene, die uns Fenster zur Welt geöffnet haben', in der chinesischen Geschichte habe es vier Übersetzungsinitiativen gegeben, die nachhaltigen Einfluss auf die chinesische Kultur gehabt hätten. Die erste sei die Übersetzung buddhistischer Schriften gewesen. Die vierte und einflussreichste seien die Untertitelgruppen."

Weitere Artikel: Film- und Fernsehmacher fürchten eine pandemiebedingte Insolvenzwelle, berichtet Helmut Hartung in der FAZ. Andrian Kreye weint in der SZ dem Standard Hotel in West Hollywood nach, wo man einst neben den Stars am Frühstücksbüfett stehen konnte.

Besprochen werden Dea Kulumbegashvilis auf Mubi gezeigtes Debüt "Beginning" (critic.de, unsere Kritik hier), Sam Levinsons "Malcolm & Marie" (ZeitOnline, SZ, mehr dazu hier), die Arte-Serie "In Therapie" (SZ) und die Serie "Industry" (Freitag).
Archiv: Film

Literatur

Schade findet es tazler Dirk Knipphals, dass über Literaturkritik fast immer nur dann gesprochen wird, wenn sie gerade mal wieder irgendwo gestrichen oder gekürzt wird. Besser fände er es in solchen Situation, gar nicht erst in den Defensivmodus zu schalten, sondern mal zu "fragen, was für einen Kulturbegriff die Verächter der Rezension haben", die das Besprechen von Büchern auf Tipps reduzieren wollen. "Der Wille, zu verstehen, hermeneutische Arbeit und sich selbst (und damit die gegenwärtige Zeit, die Lebenswelt, alle anderen Bücher, die man gelesen hat) in Beziehung dazu setzen, das ist das, was eine Rezension vom Buchtipp unterscheidet. Und zugleich ist Verstandenwerden, das Gegenstück also, die harte Währung, um die es im Literaturbetrieb vielen Akteur*innen geht. ... In dieser gedoppelten Figur von Verstehenwollen und Verstandenwerden liegt der Glutkern des Rezensierens, und ich glaube, dass der WDR und die anderen Rezensionsverächter sich darin irren, dass es kein Publikum mehr dafür gibt."

Am 9. Februar wäre Thomas Bernhard 90 Jahre alt geworden. Einen etwas kryptischen Essay von Yossi Sucary hat dazu die taz von Uri Shani aus dem Hebräischen übersetzen lassen: Bernhards "schriftstellerische Tätigkeit ein unermüdliches Streben nach einer totalen Trennung zwischen ihm und dem Urteil seiner Leser. Nur er selbst blickt auf sich. ... Er beschreibt das Seiende, das konkrete oder abstrakte, als hätte es eine ontologische Geltung, die nichts mit ihrer Existenz in der Welt zu tun hat. Zwar driftet er nirgends in einen radikalen Idealismus ab und negiert auch nicht die Existenz der realen Welt außerhalb des Bewusstseins, das diese Welt auffasst, aber er kokettiert ohne Zweifel mit ihm." In der Literarischen Welt imaginiert sich Teresa Präauer eine Treffen mit Thomas Bernhard. Im Musikfeuilleton des Dlf Kultur denkt Sabine Fringes über Bernhard und die Musik nach.

Weitere Artikel: Simon Sales Prado spricht für die taz mit der Schriftstellerin Terézia Mora, die gestern ihren 50. Geburtstag feierte. Der Schriftsteller Christoph Brumme berichtet in der NZZ von seinem Besuch in der ukrainischen Kleinstadt Welyka Nowosilka, wo man frohen Mutes Richtung Zukunft blickt. Mithilfe von Google Translate liest Gregor Dotzauer für den Tagesspiegel ein ungarisches Onlinedossier zum Schaffen des Schriftstellers Miklós Mészöly. In Frankfurt sprachen Martin Mosebach und Bernd Eilert über Mosebachs neuen Roman "Krass", berichtet Judith von Sternburg in der FR. Im Literaturfeature des WDR befasst sich Johannes Nichelmann mit der Schriftstellerin Katja Lange-Müller und im Literaturfeature des Dlf Kultur Peter Urban-Halle mit den Stürmen in der Literatur. Tom Noga begibt sich in der Langen Nacht für Dlf Kultur in die literarischen Welten William Faulkners. In den "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Gisela Trahms daran, wie Paul Bowles einmal in der Sahara das Frösteln kam. In der FAZ spricht Andreas Platthaus mit Marjane Satrapi über den anhaltenden Erfolg ihres Comics "Persepolis". Und passend zum Wetter hat Lars von Törne für den Tagesspiegel die schönsten Schneeszenen der Comicgeschichte herausgesucht.

Besprochen werden unter anderem Polina Barskovas "Lebende Bilder" (Literarische Welt), Ljudmila Ulitzkajas "Eine Seuche in der Stadt" (SZ) und Ottessa Moshfeghs Der Tod in ihren Händen" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

John Mendelsohn, "Color Wheel 6" (2020), © John Mendelsohn, Courtesy David Richard Gallery


Einen wenig bekannten Künstler aus der Gruppe der Abstrakten stellt John Yau auf Hyperallergic vor: John Mendelsohn, der seine ganz eigenen Erkundung von Farbe betrieb und dabei auf Materialien wie Acrylfarbe, Ölstifte, farbiger Sand, Bimsstein, Gummikämme, Luftpolsterfolie und Styrol zurückgriff. Ein guter Ausgangspunkt, so Yau, ist eine Ausstellung in der David Richard Gallery in New York, die "zwei sehr unterschiedliche Serien" zusammenbringe: "In jeder Serie verfolgt Mendelsohn eine andere Synergie zwischen Farbe und Licht (oder Schatten), während er innerhalb selbst gesetzter Grenzen arbeitet. In den 'Color Wheel'-Bildern (2020) füllt er die rechteckige Leinwand mit sich überlappenden Kreisen, während er in den 'Tenebrae'-Bildern (2014) schräge, schwankende Linien und dünne Bänder aus verschiedenen Farben definiert, die sich vom oberen Rand des Bildes bis zum unteren Rand erstrecken.  Wie der Titel der jeweiligen Serie verrät, reicht Mendelsohns Interesse am Optischen von Farbbeziehungen bis hin zum Zusammenspiel von Licht und Schatten." (Auf der Webseite der Galerie gibt es zwei Videos, eins führt durch die Ausstellung und ein zweites bringt ein Interview mit Mendelsohn.)

In der SZ porträtiert Thomas Avenarius den in Berlin lebenden Hongkonger Künstler Isaac Chong Wai, der zur Zeit an einer Performance in Istanbul arbeitet, die Gesten der Macht und Machtergreifung deutlich machen soll: "Zwei Männer und drei Frauen, ineinander gewunden wie die Leidenden der Laokoon-Gruppe, eine Art von Gruppenkreuzigung, eine zerschlissene Flagge, ein als Käfig geformtes Rednerpult, in der Gruppe gerufene Parolen: Chongs Performance in diesen Tagen in Istanbul zeigt die Mechanismen öffentlich betriebener Politik und der Machtergreifung durch den öffentlichen Auftritt. Diese Gesten und Haltungen ähneln sich weltweit, sie werden überall verstanden. Das ist es, was Chong zeigen will, und was er gleichzeitig infrage stellt: Es muss doch eine Welt geben können ohne Anführer, ohne personalisierte Macht."

Weitere Artikel: Tom Mustroph erklärt in der taz am Beispiel der Berlinischen Galerie und von C/O Berlin die Auswirkungen des zweiten Lockdowns auf die Ausstellungshäuser. In der FAZ erinnert sich Susanne Pfeffer an ihre liebste Ausstellung, "The Short Century" in der Villa Stuck in München, 2001.
Archiv: Kunst

Musik

Mit seinen damals revolutionären Schriften hat Paul Bekker um 1920 "die musikalische Moderne publizistisch begleitet" und die moderne Musiksoziologie begründet, erinnert Marco Frei in der NZZ. Bekkers Rede von den "Gefühlsgemeinschaften", die Beethoven ausgerufen und versammelt habe, wirke heute "fast schon gespenstisch" und habe insbesondere Schostakowitsch geprägt, der in der Sowjetunion "inmitten der aufgeheizten kulturpolitischen Diskussion mit seiner 5. Sinfonie op. 47 von 1937 eine musikalische Umsetzung von Bekkers Idee der 'musikalischen Volksversammlung' riskiert. Allerdings nur vordergründig im Sinne der sowjetischen Doktrin. Das Grundkonzept dieser Fünften, nicht zuletzt die übergreifende Entwicklung vom dunklen Moll ins strahlende Dur, verweist klar auf das 'per aspera ad astra'-Prinzip in Beethovens Fünfter. Die Mittel aber und der Ausdruck sind unmittelbar von Mahler inspiriert. ... Wenn freilich am Ende die Trompeten ihre Fanfaren bis in grellste Höhen schmettern und die Pauken, verstärkt durch stupide Beckenschläge, immerzu die Grundtonart markieren, wirkt die finale Apotheose zunehmend ausgehöhlt und aufgesetzt. 'Nach dem letzten Ton drehten wir uns ängstlich um, ob wir nicht für das verhaftet würden, was wir gehört hatten', berichtet Kurt Sanderling." Hier eine Aufzeichnung des WDR-Sinfonieorchesters unter Semyon Bychkov:



Außerdem: Marius Magaard erzählt in der taz die Geschichte, wie das sechsstündige Ambient-Konzeptalbum "Everywhere at the End of Time" von The Caretaker ausgerechnet auf der 15-Sekunden-Plattform TikTok zum Kultphänomen wurde.

Besprochen werden neue Alben von Daniel Hope (Welt), Sarah Mary Chadwick (SZ), Rainald Grebe (Tagesspiegel), den Foo Fighters (Standard, ZeitOnline) und den Viagra Boys (Jungle World).
Archiv: Musik