Efeu - Die Kulturrundschau

Diese neue Entspanntheit

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12.12.2020. Die SZ blickt in die irrlichternden Augen von Louise Glück. Die NZZ lernt in David Chipperfields diskretem Erweiterungsbau der Kunsthalle Zürich mit Architektur zu tanzen. 54 Books seziert mit der dänischen Schriftstellerin Olga Ravn die Rolle der Mutter in der Literatur. Die taz staunt in der Hamburger Kunsthalle, wie William Kentridge die Kolonialgeschichte Südafrikas ohne Identitätspolitik aufarbeitet. Die SZ vertreibt sich mit dem neuen Album von Taylor Swift die Angst vor Mammuts. Und die Filmkritiker trauern um den koreanischen Autorenfilmer Kim Ki-Duk.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.12.2020 finden Sie hier

Architektur

Quelle: Kunsthaus Zürich

So sieht das Museum des 21. Jahrhunderts aus, jubelt eine hingerissene Sabine von Fischer in der NZZ, nachdem sie David Chipperfields Erweiterungsbau des Kunsthauses Zürich beschritten hat. "Diskret" von außen, "spektakulär" von innen, "als ob Architektur tanzen gelernt hätte", meint sie: "Marmor, Messing, Beton und viel Tageslicht: Das räumliche Spektakel ist auch innen edel eingefasst. Die Böden des Neubaus sind mit Krastaler Marmor aus einem Steinbruch im österreichischen Kärnten belegt, in Anlehnung an die Böden aus Tessiner Marmor im historischen Gegenüber. Die Schwere der Materialien erdet den Raum, das Tageslicht aus den vielen großen Öffnungen gibt ihm wieder Leichtigkeit. Dies ist der größte Kunstgriff dieses Gebäudes: dass es mit einer einzigen und selbstverständlichen Geste die klassische Enfilade für die Werke des vorletzten Jahrhunderts mit einem offenen und öffentlichen Atrium, in das jeder auch ohne Eintrittskarte kommen darf, verbindet."
Archiv: Architektur

Literatur

Früher war mehr Lametta, seufzt Marie Schmidt in der SZ angesichts der in diesem Jahr von Corona ziemlich ausgetrübten Nobelpreis-Zeremonie für Louise Glück: "Die Stimmen der Redner hallten im Goldenen Saal des Stockholmer Rathauses ohne Publikum, ihre Augen irrlichterten, als sie in die unbeteiligte Kamera hinein abwesende Majestäten, Damen und Herren begrüßten. Leises Katastrophenpathos durchströmte die Zeremonie. "

54books spricht mit der dänischen Schriftstellerin Olga Ravn, die in ihrem neuen Roman "Meine Arbeit" die Rolle der Mutter seziert: Sie "wollte gerne untersuchen, was für eine Figur eine Mutter ist, die auf den Arbeitsmarkt kommt und wie sie für die unbezahlte Reproduktionsarbeit steht. Beim Schreiben habe ich eine ganze Menge Bücher über Kindererziehung und Elternschaft gelesen. Jedes einzelne davon entwirft sein eigenes Zeitbild. Die Wahrheit über die 'richtige' Kindererziehung wandelt sich fast jährlich. Mir ging auf, dass die Moralvorstellungen der jeweiligen Periode durch die Mutter am deutlichsten hervortreten. Man erwartet von ihr, dass sie alle persönlichen Charakterzüge und Ansichten zur Seite legt, um blind einer Autorität zu folgen, die abwechselnd die Behörden, der Mutterinstinkt, die Natur oder etwas Viertes sind."

Weitere Artikel: Susanna Petrin hat sich für eine NZZ-Reportage zum Katharinenkloster in der Wüste des Sinai begeben, um dort den griechisch-orthodoxen Mönchen über die Schulter zu schauen, wie diese ihre wertvollen Manuskripte ins digitale Zeitalter retten. In einer "Langen Nacht" für den Dlf Kultur widmet sich Anne-Sophie Schmidt der Schriftstellerin Clarice Lispector. Außerdem bringt Dlf Kultur ein Literaturfeature von Thomas David über die Schriftstellerin Edna O'Brien. Im Literarischen Leben der FAZ nimmt Paul Ingendaay die Werkausgabe Günther Grass zum Anlass für einen Blick auf die frühen Reden und Essays des Schriftstellers.

Besprochen werden unter anderem Paul Austers Essaysammlung "Mit Fremden sprechen" (Freitag), Khaled Alesmaels "Selamlik" (taz), Richard Fords Erzählungsband "Irische Passagiere" (taz), Elvia Wilks "Oval" (FR), Kyra Wilders "Das brennende Haus" (Dlf Kultur), Markus Ostermairs "Der Sandler" (SZ), Brian Moores "Schwarzrock" (Literarische Welt) und Elsa Koesters Debütroman "Couscous mit Zimt" (FAZ).
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Kunst

Bild: Refugees (You Will Find No Other Seas), 2017 © William Kentridge

In der taz hofft Bettina Maria Brosowsky auf eine schnelle Wiedereröffnung der großen William Kentridge Retrospektive "Why Should I Hesitate: Putting Drawings to Work" in den Hamburger Deichtorhallen, in der sie erkennt, wie der weiße südafrikanische Künstler die Gewalt gegenüber seinen schwarzen Landsleuten verarbeitet: "'Why Should I Hesitate', der erste Teil des Ausstellungstitels, zitiert einen einberufenen Schwarzen, seine Illusion gleichwertiger Bürgerrechte in Kolonialafrika. Er beschreibt aber auch die Überwindung des eigenen Zögerns von Kentridge, sich als Weißer der fundamentalen Menschenrechtsverletzungen Schwarzer anzunehmen. So sind es universelle Werte, keine identitätspolitischen Denkmonopole, die seine Protagonist:innen in der monumentalen 15-minütigen 7-Kanal-Video-Installation 'More Sweetly Play the Dance' zusammenführen. Trotz des düsteren Titels, entlehnt der Todesfuge von Paul Celan, ist ihre endlose Prozession durch karge, in Kohle gezeichnete Landschaften kein Trauermarsch, eher ein zuversichtliches Sinnbild für die Widerständigkeit des Menschen, musikalisch getragen von einer Blechbläser-Band aus Sharpeville."

Nach einem Streit mit dem inzwischen verstorbenen Erich Marx und den Staatlichen Museen Berlin zog der Sammler Heiner Bastian seine Dauerleihgaben ab, darunter auch ausgewählte Zeichnungen von Joseph Beuys. Diese gehen jetzt als Dauerleihgaben, verbunden mit Schenkungen, an die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, weiß Ingeborg Ruthe in der FR: "Der mäzenatische Akt bringt eines der umfangreichsten und wichtigsten Konvolute von Beuys-Zeichnungen aus Privatbesitz nach Dresden. Das früheste Blatt stammt von 1945, das späteste von 1985. Den Auftakt bilden Collagen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit und Bleistiftzeichnungen sowie Aquarelle aus den fünfziger Jahren. Das zeichnerische Werk der 1960er Jahre, als Beuys Professor für Bildhauerei an der Düsseldorfer Kunstakademie war, steht in einer produktiven Wechselbeziehung zur Radikalisierung seiner Kunstauffassung und zu seinen avantgardistischen politischen Fluxus-Aktionen, den Happenings mit Tieren und Bäumen."

Weiteres: In der FAZ resümiert Marc Zitzmann den seit zwanzig Jahren währenden Krieg zwischen den Kunstsammlern Bernard Arnault und François Pinault. Dringend rät Lena Schneider im Tagesspiegel zu einer digitalen Live-Tour durch die Landschaften des Impressionismus im Potsdamer Barberini Museum. Besprochen wird Dan Hicks' Buch "The Brutish Museum", in dem der britische Archäologe dem Raub von Benin-Bronzen im Jahr 1897 durch britische Truppen nachgeht (Tagesspiegel).
Archiv: Kunst

Film

Das verfluchte Coronavirus lichtet weiter schmerzhaft die Reihen: Nun ist der große koreanische Autorenfilmer Kim Ki-Duk Komplikationen im Zusammenhang mit Covid-19 erlegen. Er war eine der ersten großen Entdeckungen im Zuge des südkoreanischen Filmwunders um 2000 und somit "der erste internationale Sendbote jenes koreanischen Kinos, das mittlerweile Weltruhm erlangt hat", schreiben Hanns-Georg Rodek und Jan Küveler in der Welt.

Lange Zeit rissen sich die internationalen A-Festivals um seine Filme, die so gut wie stets dem Genre "Skandalfilm" zuzurechnen waren: "Er ging mit seinen Lebensthemen Gewalt und Sexualität immer wieder an Grenzen und wurde damit zu einem der bekanntesten Filmkünstler der letzten zwanzig Jahre", schreibt Bert Rebhandl in der FAZ. "Viele seiner Filme haben einen ausgeprägten Zug ins Kontemplative, so dass Kim Ki-duk häufig beide Klischees übers asiatische Kino zugleich erfüllte: dass es einen ausgeprägten Hang zur Transgression habe und doch zugleich spirituell sei. 2011 konnte man ihn in 'Arirang - Bekenntnisse eines Filmemachers' in einem Dokumentarfilm über sich selbst sehen, in einer immer wieder beunruhigenden Selbstentblößung als verwahrloster, gescheiterter Künstler." Seine Stoffe fand Kim Ki-Duk im gesellschaftlichen Abseits, schreibt Hoo Nam Seelmann in der NZZ: "Die Menschen, die Kims Filme bevölkern, sind meist Randständige und Außenseiter, die als Schattengewächse unsichtbar sind, aber dennoch unter uns weilen."

Weitere Artikel: In der Berliner Zeitung empfiehlt Claus Löser die Digitalausgabe des Filmfestivals Cottbus. Besprochen werden das Netflix-Musical "The Prom" mit Meryl Streep (Standard, taz, SZ), Jennifer Baichwals, Nick de Penciers und Edward Burtynskys "Die Epoche des Menschen", mit dem die drei ihre "Anthropozän-Trilogie" abschließen (Intellectures), Julia Harts "I'm Your Woman" (FAZ) und ein Band mit den Kinotexten von Victor Klemperer (FAZ).
Archiv: Film

Bühne

Wir hätten bis Ende des Jahres zumachen sollen, sagt Thomas Ostermeier, Künstlerischer Leiter der Berliner Schaubühne im taz-Gespräch mit Katrin Bettina Müller. Er glaubt nicht daran, dass die Theater vor Ende Januar wieder öffnen, die Empörung seiner KollegInnen teilt er allerdings nicht: "Ich bin ja ein Anhänger des dramatischen Theaters. Weil ich glaube, dass in einer dramatischen Situation die Masken fallen. Die eigentlichen Intentionen kommen zum Vorschein. Das haben schon viele gesagt, ich kann es nur wiederholen: Die Coronakrise verschärft die Antagonismen der Gesellschaft, und einer davon ist das Primat der Ökonomie. Wenn wir sehen, was in den Einkaufsstraßen los ist, wenn es verkaufsoffene Sonntage gibt, dann wissen wir, wo wir leben. Mir kann keiner erzählen, dass, was da in den Shopping-Malls passiert, kontrollierbarer ist, als das, was wir in den Theatern gemacht haben. Aber es überrascht mich nicht, dass die Gesellschaft sich für Industrie und Handel entscheidet, vielleicht sogar entscheiden muss."

Weiteres: Im Aufmacher des FAZ-Feuilletons singt Botho Strauß der Schauspielerin Edith Clever, die einst die Lotte in Strauß' Stück "Groß und Klein" gab, eine Hymne zum Achtzigsten: "Gäbe es eine Sammlung von Exempeln großer Schauspielkunst, kein Wachsfigurenkabinett, sondern eine virtuelle Szenerie, theatre's memory, die Clever fände man dort neben der Duse und Sarah Bernhardt - in neuerer Zeit: der Giehse, der Wessely - lauter Protagonistinnen, bei denen man sich den Vornamen erspart, um sie zum Begriff zu machen und von den gewöhnlichen Talenten zu unterscheiden. Es gibt unzählige gute, sehr gute Schauspieler - aber die vom Stamm der 'Göttlichen', die ganz Außergewöhnlichen sind nur sehr wenige." Zum 150jährigen Jubiläum von Richard Strauss' "Salome" versucht Arno Lücker im Van Magazin gemeinsam mit der Sängerin Marlis Petersen, dem Dirigenten Cornelius Meister und der Regisseurin Adena Jacobs die Faszination der Oper zu ergründen.

Besprochen wird Martin Schläpfers Mahler-Choreographie "4", die erste Premiere von Schläpfer als Chef des Wiener Staatsopernballets, die vorerst nur auf Arte zu sehen ist (FR).
Archiv: Bühne

Musik



Vor wenigen Monaten brachte Taylor Swift ihr Lockdown-Album "Folklore" heraus und schon bringt sie einen Nachfolger, das am Freitag ohne nennenswerten Vorlauf veröffentlichte Album "Evermore" heraus - "ein weiteres sauber produziertes, sanftes Indie-Folk-Album, ausgefeilt bis in den letzten zarten Klavierton", hört FAZ-Kritikerin Johanna Dürrholz und betont die neue Entspanntheit der Künstlerin, die sich eben nicht mehr ständig neu erfinden muss :"Längst geht es bei Sängerinnen schließlich nicht mehr nur um Gesang, Talent, Gefühl, sondern um das Produkt, das der Popstar ist, die Frisur, die Bühnenshow, die Ästhetik, den Tanz, die Show. Sie widersetzt sich diesem Diktat und macht einfach die Musik, die ihr gefällt."

Auch Joachim Hentschel von der SZ ist das aufgefallen: Nach ihren Pop-Expeditionen ist Swift dieses Jahr nun "eher wieder im Ländlichen, Bukolischen angekommen". Und allzu weit entfernt ist Swift auch "gar nicht vom ursprünglichen Sinn und Zweck des Songwritings, der populären Folklore. Geschichten erzählen, Gesprächsstoff liefern. Die Angst vorm Mammut vertreiben. Das Leben tapezieren und ab und zu im Regen tanzen. Bis zur nächsten Weggabelung reicht das als Motivation."

In der FAZ denkt der Chorleiter Gerd Guglhör über die Lage der Chöre in der Corona-Misere nach, in der sich neben allen Frustrationen allerdings auch lichte Momente zeigen: Etwa beim Aufteilen mancher Chöre in zwei, sodass "jeder Sänger seine Stimme unbeeinflusst von Nebensänger oder -sängerin einbringen und, die eigene Leistung selbstbewusst spürend, die ganze Probe in hoher Konzentration schaffen konnte. ... So vermag die Stimme mehr aufzublühen, wenn sie nicht durch den Klang anderer im direkten Umfeld (zum Beispiel durch ungute Anspannungen und Schärfen) beeinflusst wird."

Albrecht Selge trauert in einem langen, auf VAN veröffentlichten Liebesbrief um das gründlich abhanden gekommene Glücks des Konzerterlebnisses. Die Kritik, dass dort eh fast nur noch Alte Meister gespielt werden, will er nicht ohne weiteres gelten lassen: "Jeder alte Klangschinken wird in seiner jeweiligen Aufführung fundamental neu. Immer wieder. Jedenfalls, wenn es eine gelungene Aufführung ist. Der olle Beethoven kann uns dann anspringen wie Brahms oder Tschaikowsky oder Anton Webern, Fanny Hensel wie Lili Boulanger, Ligeti wie Lutosławski: in unserem Hier und Jetzt und unserem eigenen, mitunter sorgengeplagten Sein. "

Weitere Artikel: Für VAN kolumniert Volker Hagedorn über die entflammte "Star Wars"-Leidenschaft seines Sohns: Der Schlachtenlärm drückt zwar aufs Gemüt, aber immerhin setzt sich der Sohn auch mal ans Klavier, um das beste Thema des Films nachzuspielen. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker über Elsa Respighi. Nur im Print, aber leider noch nicht online blickt die NZZ mit mehreren Beiträgen auf das sich langsam neigende Beethoven-Jahr zurück.

Besprochen werden Haiytis Album "Influencer" (taz) und das dritte Album der Avalanches in 23 Jahren, ein Stimmungsaufheller, zu dem ZeitOnline-Kritiker Daniel Gerhardt sehr gerne greift: "Wie kann es sein, dass diese Band der komplizierten Arbeitswege nun die vielleicht bestgelaunte Platte eines denkbar schlecht gelaunten Jahres herausbringt?" An dieser Laune naschen wir gerne mit:

Archiv: Musik