Efeu - Die Kulturrundschau

Oft nach Moll getrübt

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10.08.2020. Die taz erkundet mit Dawn Mellor die sexuelle Dynamik im Verhältnis zur Polizei. Der Freitag bewundert die filmische Präzision, mit der Anna Sofie Hartmann in ihrem Film "Giraffe" vom Baum des Fehmarnbelttunnels erzählt. Die FAZ hört in Salzburg Mahlers Sechste in Hundertschaftsstärke. Und über Lisa Eckhart in Hamburg wird weiter diskutiert.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.08.2020 finden Sie hier

Kunst

Dawn Mellor: Police Constable Jamila Blake (Lolita Chakrabarti), 2016. Bild: Tate Modern

In seiner taz-Serie zu Polizei in der Kunst wirft Sebastian Strenger heute einen Blick auf eine Bilderserie der britischen Künstlerin Dawn Mellor, die verschiedende Schauspielerinnen in ihrer Polizistinnenrolle porträtierte, etwa Lolita Chakrabarti als Police Constable Jamila Blake. Strenger erblickt darin ungewöhnliche Komponenten, etwa Apokalyptik oder auch Erotik: "Für die queere Künstlerin verkörpern Polizistinnen abstrakte staatliche Autorität, die im Alltag immer noch als männlich gedacht ist. Sie sind aber auch akute Objekte der Begierde in einem Drama, das von weiblicher Ermächtigung, aber auch Gefährdung handelt. Vom Triumph des Guten über das Böse, von rhetorischer Macht, der Autorität von Wahrheit über Chaos und irrationale Gewalt. 'Die Leute bei der Polizei', erinnert sich Mellor an ihre Kindheit, 'verheimlichten oft die Tatsache, dass sie Polizisten waren, vor den Nachbarn und gingen zum Beispiel nicht in Uniform nach Hause, weil Leute aus der Arbeiterklasse die Polizei verurteilten'."

In der Ausstellung "Der Traum vom Schwäbischen Museum" im Stuttgarter Kunstmuseum entdeckt FAZ-Kritiker Stefan Trinks nicht nur unzählige Bilder von Kornfeldern und Eichenwäldern, er sieht auch, dass es zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus beileibe keinen eindeutigen Bruch gab in der Kunst: "Wie die Nationalsozialisten im Autobahnbau vorhandene Pläne der Weimarer Regierung realisierten, übernahmen sie auch ein amerikanisches 'New Deal'-Projekt, das als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Maler Bilder in alle Rathäuser und Amtsstuben brachte und sich viele der Künstler damit gewogen machte. Schon mit diesen wenig bekannten Fakten beginnt es spannend zu werden und weit über den schwäbischen Horizont hinaus auszugreifen."

Weiteres: Nicht nur der Corona-Schock setzt den Galerien in der Hauptstadt zu, erinnert Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung, auch Marktsättgung, steigende Mieten und ein indifferenter Senat lassen die Euphorie verfliegen. Verstört kommt Guardian-Kritiker Jonathan Jones aus Es Devlins and Machiko Westos Film "I Saw the World End here", den das Imperial War Museum auf seiner Homepage zu 75 Jahre nach der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki zeigt. Besprochen werden eine Schau von Werken aus Aby Warburgs "Bilderatlas" in der Berliner Gemäldegalerie (Tsp, Berliner Zeitung) und die Ausstellung "Kunst der verlorenen Generation" in Salzburg (Standard).
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Film

Szene aus "Giraffe". © Iris Janke - Komplizen Film

Ein Tunnelbau zwischen Dänemark und Deutschland dient Anna Sofie Hartmann als Kulisse für "Giraffe", einen trotz gerade mal 90 Minuten Spielzeit ungeheuer dicht erzählten Film, schwärmt Jens Balkenborg im Freitag: Die Filmemacherin "ist eine Meisterin der filmischen Konzentration", ihr Film handelt "von Fortschritt und Globalisierung, von deren Folgen für die Vorstellung von Heimat, von Erinnerung, von innerer und äußerer Entgrenzung, kurz: von gewaltigen, komplexen Themen." Ergebnis: "ein Film, präzise wie ein Uhrwerk." Weitere Besprechungen auf ZeitOnline, in der SZ und im Perlentaucher.

Sehr schwärmerisch, sehr ausführlich verneigt sich Franz Dobler in der FAZ vor Iris Berben, die am 12. August ihren 70. Geburtstag feiert. Er selbst hat ebenfalls allen Grund zum Feiern, denn heute zeigt das ZDF unter dem Titel "Nicht tot zu kriegen" Nina Grosses freie Verfilmung seines Krimis "Ein Schlag ins Gesicht" mit Berben in der Hauptrolle: "Ganz klar, Iris Berben ist diese sexy Diva-Zicke Simone Mankus, und das haben doch alle schon immer gewusst! Sie ist dieser Femme fatale täuschend ähnlich, die noch mal alle Scheinwerfer haben will und alle fiesen Tricks kennt - und die Angst hat vor ihrem miesen unbekannten Stalker, so wie jede Frau unfassbare Angst vor einem Stalker hat, und die auch Angst davor hat, dass bei der Jagd nach dem Stalker etwas aus ihrer Vergangenheit auffliegt." Für die FR bespricht Sylvia Staude den Film.

Weitere Artikel: Für die Jungle World spricht Carl Melchers mit dem Filmemacher Florian Opitz, dessen Dokumentarfilm "Ganz oben - die diskrete Welt der Superreichen" derzeit bei Arte online steht. Besprochen werden die zweite Staffel der Netflix-Serie "The Umbrella Academy" (NZZ, FR) und neue Heimmedien-Veröffentlichungen, darunter Charlie Chaplins "Die Gräfin von Hongkong" von 1967, seinerzeit verrissen, doch heute als "fantastisches Meisterwerk" erkennbar, meint SZ-Kritiker Fritz Göttler.
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Literatur

Wende in der Aufregung um den veranstalterseitig abgesagten Auftritt der umstrittenen Kabarettistin Lisa Eckhart, die in Hamburg bei einem Lesewettbewerb ihren ersten Roman "Omama" vorstellen sollte: Der Nochtspeicher als erklärte in einer Pressemitteilung, es habe keine Drohungen aus der autonomen Szene gegeben: "Seit 2016 ist das Deplatforming bekanntlich fortgeschritten und die Atmosphäre aggressiver geworden. Angesichts der Erfahrung mit der Martenstein-Lesung und nach besorgten Warnungen aus der Nachbarschaft (nicht, wie inzwischen kolportiert, 'Drohungen') waren wir uns sicher, daß die Lesung mit Lisa Eckhart gesprengt werden würde, und zwar möglicherweise unter Gefährdung der Beteiligten, Literaten wie Publikum." Für begossene Pudel im Regen hält Dirk Peitz von ZeitOnline jene Kommentatoren, die sich in den letzten Tagen einen marodierenden Mob ausgemalt hätten, der für Weimarer Verhältnisse im Kulturbetrieb sorge: "Vielleicht haben wir es ja wirklich mit einem 'Gespenst' (Henryk M. Broder) zu tun. Das zum Beispiel aus der Anrufung vermeintlicher 'Weimarer Verhältnisse' (Nikolaus Hansen) besteht, die als Schreckgespenst allerdings durch fast jeden apokalyptisch gestimmten politischen Diskurs in Deutschland geistern. Zumeist ohne näher definiert zu werden. Außer dass am Ende da irgendwie immer Hitler steht."

Nun zeichnet sich ab, dass die Veranstaltung mit Eckhart doch stattfinden soll, meldet Michael Hanfeld in der FAZ. Die Betreiber des Veranstaltungsortes "Nochtspeicher" haben inzwischen eine Erklärung veröffentlicht, so Hanfeld: "In dieser heißt es, man begrüße, 'dass die Ausladung Lisa Eckharts vom Harbour Front Literaturfestival zu einer öffentlichen Debatte führt, diese gesellschaftliche Debatte ist überaus wichtig, um der bedrohlich um sich greifenden 'Cancel Culture' Einhalt zu gebieten.'" Zum ganzen Trubel passend liefert der Standard einen Vorabdruck aus Eckharts Roman.

Weitere Artikel: Im Freitext-Blog von ZeitOnline schwärmt der Schriftsteller Manfred Rebhandl von den Genussqualitäten des Zuhörens, die sich ihm bei einer Textreihe für den Standard noch einmal deutlich offenbart haben. Timo Feldhaus schlendert für den Freitag durch Lourmarin, wo Albert Camus begraben liegt. In der FAZ schreibt die Schriftstellerin Annette Mignels über ihre derzeit argen Belastungsproben ausgesetzte Liebe zu den USA.

Besprochen werden der von Peter Engel und Günther Emig herausgegebene Band "Die untergründigen Jahre" über die Underground-Literatur der 70er (taz), Fang Fangs "Wuhan Diary" (Freitag), Clemens Bergers "Der Präsident" (Standard), Monique Truongs "Sweetest Fruits" (Standard), Lee Childs Thriller "Bluthund" (Tagesspiegel), Victor Jestins "Hitze" (Zeit), Roland Reichens "Auf der Strecki" (online nachgereicht von der FAZ), Georges Perros' "Klebebilder" (NZZ), Frank Millers und Rafael Grampás neuer Batman-Comic (Tagesspiegel) und Xoşewîsts experimenteller Multimedia-Gedichtband "Leipzigijjât" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hans-Joachim Simm über Christian Morgensterns "Meeresbrandung":

"Warrrrrrrte nur .......
wie viel schon riß ich ab von dir
seit den Äonen unsres Kampfs -
..."

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Bühne

Nachtkritiker Michael Laages erlebt auf dem Festival Theaternatur Harz das Drama des doppelten Sandmanns.
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Musik

Dieser Abend hatte "etwas Unwirkliches an sich", schreibt Jan Brachmann in der FAZ: Andris Nelsons und die Wiener Philharmoniker spielten bei den Salzburger Festspielen Gustav Mahlers Sechste - und zwar "in Stärke einer Hundertschaft", gerade "so, als gäbe es keine Pandemie", während das Publikum gewissenhaft den Auflagen nachkomme. Aber der Abend überzeugte: "Man muss es gesehen haben, mit welcher Gelassenheit und zugleich absoluter Präzision die acht Kontrabassisten der Wiener Philharmoniker am Anfang des langsamen Satzes der Symphonie ihr Pizzikato im zweiten und dritten, dann wieder im fünften und siebten Takt setzen, während die Es-Dur-Melodie der Violinen, oft nach Moll getrübt darüber mit müder Wehmut singt. Da zeigt sich Vertrauen, ein gemeinsamer Puls zwischen Dirigent und Orchester. Nelsons stellt alle Tempowechsel (...) völlig organisch her. Auf diese Weise entsteht durch ein psychologisches Kontinuum auch so etwas wie eine Schlüssigkeit der instrumentalen Erzählung." Für den Standard berichtet Heidemarie Klabacher von dem Konzert und stellt dabei fest: "Die zielstrebig Richtung Abgrund steuernde Lesart von Andris Nelsons war zugleich Verneigung vor der Todessehnsucht und deren Verneinung." Sehen kann man das Konzert bei Arte (das Lautsprechersymbol zum Einschalten des Tons zeigt sich erst, wenn man das Video großzieht):


Weitere Artikel: Johanna Christen hat sich für die FAZ bei einer Psychiaterin und einem Musikwissenschaftler erkundigt, inwiefern Rechtsrock tatsächlich als Einstieg in die rechstextreme Szene dient (Antwort: Es ist kompliziert).

Besprochen werden Moshe Zuckermanns Buch "Wagner, ein ewig deutsches Ärgernis" (Freitag), ein Konzert von Tonia Reeh und Marla Hansen (taz), ein neues Album des Punk-Urgesteins X aus Los Angeles (Standard), ein Auftritt von Erlend Øye und Sebastian Maschat (taz) und weitere neue Musikveröffentlichungen, darunter ein CD-Set mit allen Beethoven-Streichquartetten in einer Aufnahme von Quatuor Ébène (FAZ), und das neue Album der Deutschrap-Kombo Zugezogen Maskulin, auf dem es laut ZeitOnline-Kritiker Daniel Gerhardt  "eben ums Auskotzen" und mitnichten "um konstruktive Beiträge zur Verbesserung der Weltformel" gehe. Wir hören rein:

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