Efeu - Die Kulturrundschau

Husten im Rang

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03.08.2020. Endlich wieder große Oper, jubeln die KritikerInnen nach Richard Strauss' "Elektra" bei den Salzburger Festspielen: Herrlich fand es die SZ, wie sie von der Raubtier-Musik angesprungen wurde. Die FR genoss Krzysztof Warlikowskis kalten Blick auf die Frauen. Der Standard gönnt sich eine ordentliche Polemik gegen Hugo von Hofmannsthals "Jedermann". Das neue hygienische Theater haben wir übrigens nicht nur Corona zu verdanken, bemerkt der Tagesspiegel, sondern auch den Dramaturgen. Die taz lernt in Dresden Pilzparasiten zu schätzen. ZeitOnline unterhält sich mit Rapperin Nura übers Hate ertragen und fame werden.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.08.2020 finden Sie hier

Bühne

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Benommen vor Glück taumelt SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck aus Krzysztof Warlikowskis Inszenierung von Richard Strauss' "Elektra", mit der sich die Salzburger Festspiele der Coronakrise entgegenstemmen: "Ach, wie herrlich und erfüllend ist es doch, nach Monaten erstmals wieder ein großes Orchester und dann noch dieses in einem großen Raum und mit Sängern zusammen zu hören! ... Die Musik dampft und schnaubt, sie keucht und kreischt, sie springt den Hörer wie ein Raubtier an, schleudert ihn achtlos in eine Ecke. Alles ist überdeutlich Botschaft, alles kündet von den Seelenschründen der Protagonistin. Fin de Siècle, Schauerromantik, Exhibitionismus, Blutsucht und Rachegelüst ergeben eine Schrille, die schnell unerträglich sein kann und heute wie aus der Zeit gefallene Outrage wirkt. Das wissen in Salzburg alle. Musiker wie Macher hegen deshalb das Grauen ein, sie domestizieren es. Das aber nimmt dem Stück nichts von seiner Wirkung."

Die Inszenierung ist großartig, meint Judith von Sternburg in der FR: "Kein Abend, der den Frauen auf die Spur kommen will. Warlikowskis Blick ist kalt, er hält sich raus, er stellt das Monströse zur Schau. Das sind wahrlich die treffenden Bilder zum von Welser-Möst ideal dosierten, in Zaum gehaltenen Irrsinn der Musik." Triumphal findet Christian Wildhagen in der NZZ vor allem auch die Sängerinnen Ausrine Stundyte und Asmik Grigorian: "Ihre ähnlich timbrierten Stimmen ergänzen sich ideal, und vor allem gegen Ende scheint es, als triebe eine die andere zu immer glanzvolleren Strauss-Höhen an. Mit einer feinsinnig aus dem Text gestalteten Seelenstudie der zerrütteten Mutter Klytämnestra schafft Tanja Ariane Baumgartner einen sinnigen Kontrast." Glanzleistung, ruft auch Jan Brachmann in der FAZ. Nur im Standard ist Ljubisa Tosic nicht ganz zufrieden mit der Regie.

Für die Botschaft des in Salzburg ebenfalls gegebenen "Jedermann" - Ein zweites Leben gibt es nicht - zeigt sich Simon Strauß in der FAZ in diesem Jahr besonders empfänglich, zumal die Aufführung wegen des plötzlich einsetzenden Regens ins Festspielhaus verlegt wurde: "Bei jedem Husten im Rang geht ein Zucken durch die Reihen, werden die Masken zurechtgerückt." Auf SZ-Kritikerin Christine Dössel wollte der Funke nicht überspringen, da konnte Tobias Moretti noch so viel brüllen und toben. Indoor bringt er's einfach nicht: "Andererseits macht das Fehlen der Naturkulisse - trotz Fotoprojektion der Domfassade - das elementare Schauspiel brutal sichtbar. Und siehe: Es ist halt doch ein Kasperletheater." Im Standard gönnt sich Anton Thuswaldner eine Polemik gegen Hofmannsthals Stück, diesem "harten ideologischen Kampfstoff" gegen die kapitalistische Moderne "aus dem Geiste reaktionären Denkens".

Eigentlich hat sich auch vor Corona das hygienische Theater schon abgezeichnet, sinniert Rüdiger Schaper im Tagesspiegel, nach einem Plausch mit seinem Nachbarn: das brave "Rumsteh- und Aufsagetheater" der Dramaturgen, oft übers Mikro gesprochen. "Im Vergleich mit genialisch-wilden Regisseuren, unbezähmbaren Schauspielern, komplizierten Theaterautoren und noch komplizierteren Intendanten-Egos sind Dramaturgen so etwas wie die wandelnde Vernunft, die Ordnung im Theaterchaos. Es zeichnet sich schon länger ab, dass das Theater vordergründig politischer und widerständiger wird, aber auch braver und cleaner. Innerlich sauber gekämmt, nach außen rebellisch. Vielleicht war das schon immer so. Die 68er-Regietheater-Truppe legte am Ende immer mehr Wert auf Renommee (und Bezahlung) als auf Rebellion."
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Kunst

Lois Weinberger: Baumfest (Stams, Juli - September 1977). Kunsthaus Dresden.

Für die taz besucht Ingo Arend die Schau "Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer" im Kunsthaus Dresden, die der Ökologie in der Kunst nachspürt: "Nehmen wir Lois Weinbergers Arbeit 'Invasion', die die Besucher:innen gleich zu Beginn der Schau begrüßt. Die Schaufensterpuppe wirkt wie eine surrealistische Skulptur. Die seltsam geriffelten Halbrunde, mit denen sie überzogen ist, entpuppen sich bei näherer Betrachtung aber als Zunderschwämme: Pilze. Der Parasitenpilz, der sich gelegentlich beim Waldspaziergang an Bäumen findet, sieht aus wie ein bösartiges Geschwür. In Wahrheit transformiert er Holz zu Mutterboden und dient als Katalysator für Mini-Ökosysteme."

In seiner taz-Reihe zu Polizei in der Kunst erkundet Sebastian Strenger heute Franz Wests "Immobiles Passstück (Polizeikappen)". In der FAZ berichtet Andreas Rossmann, dass gestohlene Glaskunst aus dem Düsseldorfer Museum Hentrich von den italienischen Carabinieri sichergestellt wurde. Patrick Bahners besichtigt für die FAZ die neue Ausstellung im Museum Peter August Böckstiegel in Werther.
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Film

Berit Glanz sieht für 54books die Netflixshow "Der Boden ist Lava". Im Tagesspiegel schreibt Andreas Busche einen Nachruf auf den Regisseur Alan Parker, der sich ebenso auf Musikfilme wie die "Commitments" oder "Fame" verstand wie auf Thriller ("Mississippi Burning"). In der FAZ gratuliert Verena Lueken dem Schauspieler Martin Sheen zum Achtzigsten, der in der Serie "West Wing" zum besten Präsidenten wurde, den den USA nie hatten.

Fritz Göttler empfiehlt in der SZ wärmstens zwei tolle neue Filme mit Johnny Depp auf DVD, Wayne Roberts" Professor" und John Waters' Komödie "Cry-Baby". Besprochen werden Leigh Whannells feministisch gewendetes Remake des Horrorklassikers "Der Unsichtbare" mit Elizabeth Moss auf DVD (taz) und Leslye Davis' Dokumentation "Father Soldier Son" (Freitag).
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Literatur

Renate Kraft liest für die taz eine ganze Reihe von Romanen aus Afrika oder der afrikanischen Diaspora, die sich mit Kolonialismus und Patriarchat beschäftigen, und und hebt dabei besonders Petina Gappahs Roman "Aus der Dunkelheit strahlendes Licht" (2019) hervor, der von dem Leichenzug des Afrikaforschers David Livingstons durch Zentralafrika erzählt: "Eine kollektive Erzählstimme weist zu Beginn des Romans auf einen unbeabsichtigten Nebeneffekt des Leichenzugs hin: Die wissenschaftlichen Aufzeichnungen Livingstones, die zusammen mit seinem Leichnam an die Engländer übergeben wurden, bereiteten den Weg für die spätere Unterwerfung des Kongos durch die Europäer. Es gibt in diesem Roman jedoch auch kein unschuldiges vorkoloniales Afrika. Die ostafrikanischen Stämme nehmen Sklaven unter ihren Gegnern und sogar in der eigenen Familie und verkaufen sie an swaheli-arabische Sklavenhändler, deren Marktplatz das Sultanat Sansibar ist. Es sind britische Abolitionisten, die den 14-jährigen Jacob Wainwright aus einem Sklavenschiff befreien und an eine Missionsschule in Indien bringen."

Besprochen werden Tanya Tagaqs Roman "Eisfuchs" (NZZ), eine Comicbiografie von Friedrich Engels (Tsp), Nicolas Mathieus Roman "Rose Royal" (Berliner Zeitung), Elizabeth Gilberts Roman "City of Girls" (Presse), Robert Seethalers neues Buch "Der letzte Satz" (Standard), Bart van Loos Geschichte Burgunds (SZ), autobiografische Romane von Valerie Fritsch und Oskar Roehler (SZ). Mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).
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Musik

Auf Zeit online unterhält sich Sara Tomšić mit der Rapperin Nura, die gerade ihre Autobiografie veröffentlicht hat. Vor einer politischen Meinung fürchtet sie sich nicht: "Klar, ich bekomme auch Hate im Netz. Aber da stehe ich drüber. Die Rechten sagen: Geh zurück nach Saudi Arabien. Hahaha, so dumm. (Anmerkung der Redaktion: Nuras Familie kommt ursprünglich aus Eritrea.) Auf Wikipedia stand irgendwann mal, dass ich da herkomme. Und Kritik aus muslimischen Kreisen bekomme ich auch. Aber da sage ich immer: Allah sagt, du sollst keinen anderen Muslim verurteilen für die Art, wie er lebt. Also psst ... Ich möchte ein Vorbild sein, aber ohne Ratschläge zu geben. Auch mein Buch ist kein Ratgeber: Wie haue ich von zu Hause ab oder wie werde ich fame. Es ist keine Geschichte darüber, dass es jeder schaffen kann. Es ist einfach nur die Wahrheit und soll anderen zeigen, dass schwere Zeiten vorbeigehen und dass auch ich - selbst wenn es heute vielleicht anders wirkt - eine harte Zeit hinter mir habe."

Hier ein Stück von Nura:



In der SZ stellt Jonathan Fischer das Projekt "Keleketla!" vor, dass das britische DJ-Duo "Coldcut" mit südafrikanischen Musikerstars und Vertretern der Message-Musik vereint - und zwar im "Geist einer aufrichtigen Kollaboration. Bei der Musikerauswahl berieten die südafrikanischen Avantgarde-Label-Betreiber Mushroom Hour Half Hour. Und niemals drängen sich elektronische Ego-Trips in den Vordergrund. Nein, es sind die Stimmen der afrikanischen und afrodiasporischen Musiker, die die Musik wesentlich prägen. Sie singen in ihren Muttersprachen und teilen sich die Songwriting-Credits."

Wir hören rein:



Weiteres: In der Berliner Zeitung schreibt Peter Uehling zum Auftakt der Young Euro Classic in Berlin. In der Berliner Zeitung erinnert Olaf Neumann an den Erfinder des Synthesizers Elisha Gray.

Besprochen werden ein Konzert der deutsch-türkische Sängerin Derya Yildirim (Berliner Zeitung), das neue Album von den Psychedelic Furs, "Made of Rain" (Berliner Zeitung), und das Album "On & On" von Daniel Blumberg (Berliner Zeitung).
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