Efeu - Die Kulturrundschau

3x Montrachet à runt 3.000 Euro

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.06.2020. Die FAS errechnet die Vermögensvorteile, die einem Kunstsammler aus seiner Contemporary Art Ltd. mit Sitz auf Guernsey erwachsen.  Die NZZ fragt sich, ob Wien ein zweites Museum der Moderne überhaupt gebraucht hat. Die FAZ feiert Indiens empathische Literatur. Der Tagesspiegel verzeichnet viel traurige Verwirrung auf dem neuen Album von Haftbefehl. Und die Welt bechert mit Lois Hechenblaikner in Ischgl.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.06.2020 finden Sie hier

Kunst

Der Abzug der Sammler aus Berlin ist weithin beklagt worden (unser Resümee), bei Kunstkritikerin Julia Voss und Wirtschaftsrechtler Thomas Ackermann hält sich die Trauer in Grenzen: In der FAS erinnern die beiden an die intransparenten Verträge, die der Preußische Kulturbesitz mit Friedrich Christian Flick abschloss, die seiner Contemporary Art Ltd. mit Sitz auf Guernsey sogar erlauben, aus dem Museum heraus einzelne Leihgaben zu verkaufen: "Seit Jahrzehnten speisen sich die Mittel, mit denen der Museumsbetrieb aufrechterhalten wird, aus zwei getrennten Töpfen: zum einen direkt aus den öffentlichen Haushalten, die Stadt, Land oder Bund bereitstellen. Zum anderen müssen private Mittel angeworben werden, von Sponsoren, Leihgebern oder Mäzenen, deren Gunst indirekt wieder durch den Staat bezuschusst wird - in Form von Steuererleichterungen und Subventionen. Die Anreize für private Initiativen reichen von bereitgestellten Depotflächen über großzügige Spendenquittungen bis hin zum vollständigen Erlass der Erbschaftsteuer." Und Julia Stoschek musste inzwischen zugeben, dass die Mieterhöhung von 1,66 auf 2,78 Euro pro Quadratmeter nicht wirklich der Grund für ihren geplanten Abzug ist.

Und in der NZZ fragt Sabine B. Vogel, ob Wien ein zweites Museum der Moderne gebraucht habe. Oder konnte sich die Stadt nur nicht gegen einen Gönner wehren? "2017 erhielt die Albertina ein großes Konvolut vor allem zeitgenössischer Künstler: Der Bauunternehmer Hans Peter Haselsteiner hatte 60 Prozent der ehemaligen Essl-Sammlung gekauft und der Albertina als Leihgabe bis 2044 übergeben. Damit beginnt die Geschichte dieses zweiten Standorts, an dem die Werke der Essl-Sammlung zu sehen sein sollen. Warum aber hier im Künstlerhaus Wien? Weil Haselsteiner 74 Prozent dieses Hauses kaufte."

Welt-Kritiker Elmar Krekeler verfolgt in Lois Hechenblaikners Bildband "Ischgl" gequält, wie das Bergdorf zum Ballermann der Alpen wurde, in dem der Bankomat mit dem größten Geldausstoß Österreichs steht: "Hechenblaikner ist ein Dokumentarist, kein Richter. Niemanden stellt er bloß. Niemanden stellt er aus. Dafür braucht es ihn auch gar nicht. Dafür sorgen die, die er zeigt, schon selbst. Sie wussten, auf was sie sich einließen. Schnappschüsse macht Hechenblaikner keine. Sie stellten sich in Positur für ihn. Oder legten sich übereinander. Die Typen im T-Shirt mit Rückenaufschrift 'Bei Orientierungslosigkeit bitte abliefern in Pension Bergfrieden' zum Beispiel. Kerle, die ihre Potenz ausstellen und ihre Weinrechnung wie Trophäen präsentieren (3x Montrachet à runt 3.000 Euro). Traurig ist das nicht ganz selten, entsetzlich ist es ganz oft."

Weiteres: Gerrit Bartels besucht für den Tagesspiegel die Berliner Künstlerin Rebecca Raue, deren Arbeit gerade mit dem Marianne-Werefkin-Preis des Vereins Berliner Künstlerinnen ausgezeichnet wurde und im Haus am Kleistpark zu sehen ist. In der NZZ sinniert Peter Schmid über die Differenz von Preis und Wert. Besprochen wird die Ausstellung "Charlotte Posenenske: Work in Progress" in der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

In diesem Frühjahr gab es in der indischen Literatur "Atemberaubendes" zu entdecken, schreibt der Literaturwissenschaftler Philipp Theisohn in einem umfangreichen, sehr lesenswerten Überblick für die FAZ. Theisohn war im Januar und Februar auf der Suche nach "der dunklen Verbindung zwischen der indischen Dichtung und der politischen Gegenwart" im Land und kehrte mit vielen wertvollen Hinweisen nach Hause zurück: In Indien boomt die sozial engagierte Literatur, die darüber auch die Kunst als solche nicht vergisst. Annie Zaidis "Prelude to a riot", Jeet Thayils an James Joyce orientierten Roman "Low" und Nirmala Govindarajans "Taboo" - ein Buch mit "dokumentarischem Interesse am Sujet des Menschenhandels und der Kinderprostitution" - legt er uns ans Herz: "An die Stelle des Sozialdramas tritt eine emphatische Literarizität. Man lernt mit dieser Autorin eine literature engagée kennen, wie man sie in der westlichen Welt eigentlich nirgends antrifft: Noch und gerade in der Konkretion des Elends bewahrt Govindarajan stets das Auge der Dichterin. Am ehesten ist das vielleicht 'embedded poetry' zu nennen."

Beim Blick in aktuelle Lyrikveröffentlichungen von Alexandru Bulucz, Norbert Hummelt, Marion Poschmann und Kerstin Preiwuß gerät Carsten Otte in der taz durchaus ins Stutzen: "Je ambitionierter die Formen, desto selbstbewusster der Blick zurück. In deutschsprachiger Lyrik wird derzeit die literarische Tradition gewürdigt, werden poetische Verfahren aus vergangenen Jahrhunderten aufgegriffen und weiterentwickelt. Die Dichtung präsentiert sich, anders als die Prosa, zunehmend als eine Art Schatzkammer der Sprache, ohne dabei altbacken oder reaktionär zu wirken. ... Diese lyrische Verständigung auch in derselben Generation bestärkt den Eindruck, dass die Dichter*innen, die momentan auffällig oft über Verluste schreiben, etwas bewahren wollen, nämlich die Sprache als Reservoir für rettende Gedanken."

Weiteres: Im Standard plaudert Andreas Puff-Trojan mit Matthias Politycki über dessen neuen Roman "Das kann uns keiner nehmen". Im Literaturfeature für Dlf Kultur klopft Helmut Böttiger Hölderlin und Paul Celan auf Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten ab. Außerdem kürt die Jury von Dlf Kultur und FAZ die besten Krimis des Monats. Auf dem ersten Platz: "Altlasten" von Sara Paretsky (hier die begeisterte Kritik unserer Kritikerin Thekla Dannenberg).

Besprochen werden unter anderem Chigozie Obiomas "Das Weinen der Vögel" (Standard), Kate Kirkpatricks große Biografie über Simone de Beauvoir (NZZ), Olivia Wenzels "1000 Serpentinen Angst" (Berliner Zeitung), Catel Mullers Comic "Die Geschichte der Goscinnys" (Tagesspiegel), Jean Staffords "Die Berglöwin" aus dem Jahr 1947 (SZ), David Diops "Nachts ist unser Blut schwarz" (Standard), Monique Truongs "Sweetest Fruits" (FR), Heinrich Heines "Ich rede von der Cholera: Ein Bericht aus Paris von 1832" (Freitag), neue Bücher aus Ostmitteleuropa (Standard) und (FAZ)

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Peter von Becker über Giuseppe Ungarettis "Für allezeit":

"Ohne ein Gran von Ungeduld geh ich ans Träumen,
mache ich mich an die Arbeit,
..."
Archiv: Literatur

Film

Kerry Washington (li.) und Reese Witherspoon in "Little Fires Everywhere" (Amazon)

Amerikanische Familienserien sind üblicherweise staatstragende Bollwerke des Biedersinns, aber bei der von Reese Witherspoon produzierten (und mit ihr in der Hauptrolle besetzten) Serie "Little Fires Everywhere" ist alles anders, staunt Marie Schmidt in der SZ. "Wenn man die Serie parallel zu den Nachrichten über die aktuellen Proteste in den USA sieht", entwickelt der Titel geradezu Symbolkraft: "überall Brandherde. Wer das Feuer gelegt hat, darf hier nicht verraten werden. Eine andere und entscheidendere Frage ist aber, wer dafür verantwortlich ist, dass das Haus brennt." Und die Schlüsse der Serie sind "bemerkenswert, weil Schuldfragen und critical whiteness amerikanischen Familienserien bisher eher fremd waren. ... Mit viel Aufwand wird dabei miterzählt, wie die Illusion liberaler Weißer, in ihrer Nahwelt sei Gleichberechtigung bereits gelungen, ihre schwarzen Gegenüber auf Distanz hält und an ihrem pursuit of happiness hindert."

Außerdem: Der Tagesspiegel meldet, dass der iranische Filmemacher Mohammad Rasoulof, der am Samstag eigentlich eine Haftstrafe antreten sollte (unser Resümee), vorerst auf freiem Fuß bleibt. Claus Löser erinnert in der Berliner Zeitung an Chantal Akerman, die am Samstag 70 Jahre alt geworden wäre. Dlf Kultur hat ein Hörspiel über Pier Paolo Pasolini und den Maler Giuseppe Zigaina online gestellt.

Besprochen werden die Netflix-Serien "Self Made" (Freitag) und "Space Force" (FAZ), sowie neue DVDs, darunter Mariko Minoguchis Münchner Quantenphysik-Romanze "Mein Ende. Dein Anfang" (SZ) und die Sky-Serie "Penny Dreadful: City of Angels" (FAZ).
Archiv: Film

Bühne

Uwe Eric Laufenberg gehört mit seinem Staatstheater Wiesbaden zu den ersten, die den Betrieb wieder aufnahmen. Er begann mit einer Beckett-Trilogie, die Nachtkritikerin Shirin Sojitrawalla nur gähnen ließ: "Überraschungen ausgeschlossen". In den Augen von SZ-Kritiker Till Briegleb hat sich Laufenberg mit seinen Klagen über den Lockdown eh unmöglich gemacht, er sieht den Theatermacher "gedanklich näher bei den Aluhüten als beim Grundgesetz". SZ-Kritikerin Christine Dössel nimmt teil an einem Theater-Parcour, mit dem das  Münchner Residenztheater erste Tuchfühlung mit dem Publikum aufnimmt.

Besprochen werden die Choreografie "Startbahn I" des Hessischen Staatsballetts in Wiesbaden (FR) und die Produktion  "Der Koffer" im Berliner Haus der Statistik als Parkplatz-Theater (FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

Im Tagesspiegel schwenkt Fabian Wolff das neue, bislang von eher enttäuschten Kritiken begleitete Comeback-Album von Haftbefehl hin und her: Der Offenbacher Meisterrapper liefere zwar immer noch hier und da "Exzesse, aber Kater und Kopfschmerz sind immer schon mit dabei". Überhaupt hat sich sein Flow "stark verändert: die Syntax ist noch brüchiger geworden, die Stimme zerrt noch mehr nach oben ... So fahrig und erschöpft 'DWA' manchmal klingt, mehr traurige Verwirrung als Haftbefehl hat immer noch niemand zu verkaufen." Wir schauen rein:



Online nachgereicht, berichtet Wolfgang Sandner in der FAZ von seiner beeindruckten Lektüre der Studie "Musikleben in Deutschland" des Deutschen Musikinformationszentrums, die auf ziemlich eindeutige Weise den Musikbetrieb als wirtschaftsrelevant kenntlich macht: "Im Fall Heidelberg wird der Multiplikator 4,05 genannt. Das heißt, ein investierter Euro bringt der Kommune das Vierfache zurück. Auch beim Schleswig-Holstein Musik Festival oder in der gesamten Region Bonn/Rhein-Sieg - und das sind nur zwei weitere Beispiele - kommt man zum gleichen Rentabilitätsfaktor, wobei indirekte wirtschaftliche Effekte, etwa Auswirkungen in den 'vorgelagerten Wirtschaftszweigen' Gastronomie und Hotelwesen dabei unberücksichtigt bleiben."

Weitere Artikel: Im ZeitMagazin träumt die Singer-Songwriterin Lucinda Williams. Für den Standard hat Karl Fluch den Soundtrack zu den Protesten in den USA zusammengestellt. Der Tagesspiegel meldet, dass das bolivianische Orchester, das wegen Corona an die drei Monate in Brandenburg gestrandet war, nach Hause zurückkehren konnte. Hellauf begeistert ist Edo Reents in der FAZ von Neil Youngs Album "Homegrown", das der Musiker zwar schon 1974 aufgenommen, aber bis heute unter Verschluss gehalten hat, weil ihm die Aufnahmen zu intim waren: Das Album ist "eine der triftigsten, werkbiografisch aussagekräftigsten Veröffentlichungen der vergangenen Jahre." Wir hören rein:



Besprochen werden außerdem Phillip Sollmanns Klangkunst-Album "Monophonie" (taz, mehr dazu bereits hier), weitere neue Alben von Run the Jewels (Berliner Zeitung, mehr dazu bereits hier und dort) und das neue Album von Thao & The Get Down Stay Down (taz).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Jens Buchholz über "Job Seeker" von den Sleaford Mods:

Archiv: Musik