Efeu - Die Kulturrundschau

Die Apathie eines weißen Publikums

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04.06.2020. Eike Schmidt, Leiter der Uffizien in Florenz, schlägt vor, religiöse Kunst aus den Museen zurück in die Kirchen zu bringen, berichtet Hyperallergic. In der Zeit macht sich Filmemacher Edgar Reitz angesichts von Netflix und Co. große Sorgen ums Kino. Die taz ärgert sich über Party-Exzesse in Berlin. Die SZ bewundert Jacqueline du Pré und ihr Cello in einer Hommage des Londoner Royal Ballet an die Cellistin. Die FAZ lässt sich von Architekt Christopher Roth Weltumbaumodelle aus der Zukunft erklären.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.06.2020 finden Sie hier

Kunst

Eike Schmidt, Leiter der Uffizien in Florenz, hat vorgeschlagen, religiöse Kunst aus den Museen dorthin zurückzubringen, wo sie ihre ursprüngliche religiöse Bedeutung wieder entfalten könne. Kirchen, zum Beispiel, berichtet Valentina Di Liscia auf Hyperallergic. "Schmidt zitierte ein konkretes Beispiel aus der eigenen Sammlung der Uffizien, die 'Rucellai-Madonna', die der sienesische Künstler Duccio di Buoninsegna im Mittelalter malte. Die goldgrundierte Tafel der thronenden Jungfrau mit dem Kind, das bisher größte bekannte Gemälde auf Holz aus dem 13. Jahrhundert, wurde 1948 aus der Kirche Santa Maria Novella entfernt. Ein solches Werk in dem Kontext zu betrachten, für den es geschaffen wurde, so Schmidt, sei nicht nur aus historischer Perspektive angebracht, sondern könne dem Betrachter auch seine spirituelle Bedeutung nahe bringen."

Giovanna Garzoni, "Still Life with Bowl of Citrons" (late 1640s), tempera on vellum (via Wikimedia)


Karen Chernick hat für Hyperallergic den Palazzo Pitti in Florenz besucht und lässt sich von Kuratorin Sheila Barker die Ausstellung "'Die Größe des Universums' in der Kunst von Giovanna Garzoni", einer Barockkünstlerin, erklären: "'Frauen wurden in der Erzählung von der Globalisierung außen vor gelassen ... Es ist normalerweise eine Geschichte über Männer und Schiffe.' Stattdessen illustrierte Garzoni in über fünfzig Stillleben Dinge, die in die ganze Welt verschifft wurden und an ihrem Tisch andockten. 'Sie zeigte eine echte Neugierde und eine echte Affinität für neuartige und neue und seltsame Dinge, und sie segregierte sie nicht in eine Art kalte Ausstellungswelt', erklärt Barker. 'In ihrer Kunst und in ihrem Leben versuchte sie, ihren Platz im Verhältnis zum Rest dieser großen, faszinierenden Welt zu verstehen, die die Menschen gerade entdeckten.'"

Um ihre Unterstützung mit Black Lives Matter zu demonstrieren, haben viele Menschen unter dem #blackouttuesday schwarze Quadrate auf Instagram gepostet. In ihrem Blog So frisch so gut beschreibt Annekathrin Kohout ihr sehr zwiespältiges Verhältnis zu dieser Aktion: "Ums Schweigen, das wurde mir schließlich deutlich, ging es gerade bei der 'Aktion'. Es ging darum (auch wenn dies durch die Verwendung des #blm-Hashtags unwissentlich nach hinten los ging), das Schweigen irgendwie zu visualisieren und bildlich anzuzeigen, dass man anderen das Wort überlässt und sich selbst mal einen oder noch besser mehrere Tage zurücknimmt. Dass man mal einen oder noch besser mehrere Tage die Aufmerksamkeit auf ein ganz bestimmtes Thema lenkt. ... Als ich dann aber plötzlich mehr Likes für das schwarze Quadrat als für viele sonstige und, wenn ich das sagen darf, teilweise ambitionierten Bilder erhielt, fühlte ich mich schmutzig. Ich wollte nicht nur keine Hashtags, sondern auch keine Likes."

Weiteres: Marisa Mazria Katz unterhält sich für die NYRB mit der in Russland geborenen, heute in Amerika lebenden Künstlerin Yevgeniya Baras über ihre Kunst und das Leben mit Corona. Besprochen werden die Ausstellung "Kunst im Politischen Kampf" in der Berliner Galerie Diehl (taz), die Ausstellung "Juul Kraijer - Zweiheit" im Bad Homburger Museum Sinclair-Haus (FR) und die Ausstellung "Talent kennt kein Geschlecht" im Museum Georg Schäfer (FAZ).
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Film

Kein Festival, dafür eine Art Gütesiegel für ausgewählte Filme: Das wird Cannes 2020 gewesen sein, nachdem Festivalleiter Thierry Fremaux gestern die Titel von 56 Filmen verkündet hat, die in diesem Jahr für den Wettbewerb, die Reihe "Un Certain Regard" und "Weltpremiere außer Konkurrenz" in Frage gekommen wären. Das in Cannes meist keine Rolle spielende deutsche Kino wäre mit Oskar Roehlers Fassbinder-Biopic "Enfant Terrible" vertreten gewesen. "Dass Cannes in diesem Jahr trotz des Festivals ein Gütesiegel vergibt, ist eine Reaktion auf die schwierige Situation von unabhängigen Arthouse-Filmen, für die Cannes immer ein wichtiger Standort war, um erste Aufmerksamkeit zu generieren", erklärt dazu Andreas Busche im Tagesspiegel. Sondervorführungen der Filme wird es immerhin bei den großen Festivals im Herbst geben.

In den USA dürfen zwar viele Kinos wieder spielen - was auch für hiesige Kinos wichtig ist, denn das erhöht die Startchancen attraktiver internationaler Filme -, allerdings machen die wenigsten davon Gebrauch, erklärt Susan Vahabzadeh in der SZ und identifiziert als Gründe die immer noch anhaltende Corona-Pandemie, vor allem aber die momentane unsichere Lage im Land. Außerdem lässt sich die Blockbusterproduktion kaum ankurbeln, denn die stellt derzeit ein erhebliches Versicherungsrisiko dar: "Eigentlich haben die großen Projekte in einer Rezession auch die größeren Überlebenschancen. Aber man kann es wohl auch anders sehen: Es gäbe jetzt gute Chancen für Filme, die mit kleiner Crew gedreht werden können, Kammerspiele etwa, zitiert Variety einen Studio-Angestellten, der auch nicht namentlich genannt werden wollte. Das ist so ziemlich das Letzte, was man bei den großen Major-Studios, die an der Superheldenflut gut verdient haben, hören will."

Der Filmemacher Edgar Reitz macht sich in einem teils etwas verblasenen Essay in der Zeit große Sorgen ums Kino. Im Grunde stehe es ja schon seit Homevideo unter Beschuss, doch jetzt mit Streaming sei endgültig High Noon: "Die Streaming-Unternehmen konnten sich derart verbreiten und Kapital ansammeln, dass die großen Kinofestivals in Erklärungsnot geraten werden. ... Warum also brauchen wir das Kino? Aus demselben Grund, aus dem die Menschen wieder in Restaurants gehen, Fußballspiele oder klassische Konzerte erleben wollen. Es geht darum, den immer seltener gewordenen geschützten Offline-Raum zu erleben." Um das Kino zu retten, fordert er "ein öffentliches Kino-Experimental-Zentrum, in dem zukünftige Formen des Kinobetriebes erforscht werden".

Weitere Artikel: Für die taz arbeitet sich Tim Caspar Boehme durchs von internationalen Festivals gestützte Onlinefestival "We Are One" auf Youtube. Besprochen werden Jae-gon Sons südkoreanische Komödie "Rettet den Zoo" (taz) und Alejandro Landes' "Monos" (FAZ).
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Architektur

Niklas Maak stellt in der FAZ ein Projekt des Künstlers Christopher Roth vor, das dieser zusammen zusammen mit den Architekten Arno Brandlhuber, Olaf Grawert und Nikolaus Hirsch für den deutschen Pavillon der Architektur-Biennale in Venedig entwickelt hat: "Im deutschen Pavillon sollte in diesem Sommer aus der Zukunft zu uns gesprochen werden: Auf fünf Leinwänden hätte man Filme und Interviews mit Menschen gesehen, die aus dem Jahr 2038 heraus erklären, wie 'alles gerade noch mal gutgegangen ist' und wie 'Architektinnen und Architekten mit alten und neuen Modellen und ganzheitlichen Ansätzen an den Erfolgsgeschichten beteiligt' waren." Da die Biennale abgesagt ist, wolle man "Ende des Monats ... beginnen, einen Teil der Filme online zu stellen, sagt Roth. Statt Architekturmodellen gibt es diesmal Theorie, Spekulation, Weltumbaumodelle, Gedankengebäude", freut sich Maak, dem der Optimismus der vier imponiert. (Er würde uns vielleicht auch imponieren, wüssten wir, wo die Filme online gezeigt werden.)
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Bühne

In der SZ empfiehlt Dorion Weickmann wärmstens eine Hommage des Londoner Royal Ballet an die Cellistin Jacqueline du Pré (SZ), die 1987 im Alter von 52 Jahren an multipler Sklerose starb: "Marcelino Sambé ist das Cello. Ein lebendiges Gegenüber, das von Jackie gestreichelt und geschmäht, liebkost, verdammt und am Ende verflucht wird - weil sie es nicht mehr spielen kann. Die Pas de deux zwischen beiden sind inniger, verzweifelter, existenzieller gefärbt als die Liebesbegegnungen mit dem Dirigenten [Daniel Barenboim]."



Im Tagesspiegel überlegt der Dramatiker Moritz Rinke entlang von Dürrenmatts "Die Physiker", wie man ein Stück namens "Die Virologen" auf die Bühne bringen könnte: "Bei Möbius habe ich sofort an den Charité-Virologen Christian Drosten gedacht, der sich in die Anstalt zurückzieht, weil er in einer Studie etwas herausgefunden hat, das unermessliche Folgen haben könnte, so ähnlich wie eine Atombombe. Da er aber sich und seine Familie vor der Veröffentlichung dieser unglaublichen wissenschaftlichen Erkenntnis schützen muss (Morddrohungen, Social Media), gibt er also lieber vor, wahnsinnig zu sein."

Außerdem: In der nachtkritik resümiert Sophie Diesselhorst die bislang nur mäßig überzeugenden Zoom-Inszenierungen der Theater. Die nachtkritik streamt ab heute 18 Uhr "Atlas des Kommunismus" von Lola Arias im Maxim Gorki Theater Berlin. Den kompletten Online-Spielplan finden Sie hier.
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Literatur

Der ägyptische Schriftsteller Khaled el-Khamissi trauert in der SZ um einen in Kairo legendären Zeitungshändler, der an Covid-19 gestorben ist: "Ein Dasein, wie Hassouna es den ganzen Tag auf dem Bürgersteig führte, erfordert große Beschlagenheit in allen Dingen des Lebens." Peter von Becker freut sich im Tagesspiegel, dass sich mit der Wiederveröffentlichung eines von Henriette Beese ursprünglich in den 70ern herausgegebenen Lyrikbandes auch die Dichterin Louize Labé wiederentdecken lässt.

Besprochen werden unter anderem Fang Fangs "Wuhan Diary. Tagebuch aus einer gesperrten Stadt" (NZZ), Mary MacLanes im Jugendalter verfasste Tagebücher von 1901 (Standard), Ann Petrys in Harlem spielender Roman "Die Straße" aus den 40ern (SZ), Olivia Wenzels "1000 Serpentinen Angst" (online nachgereicht von der FAZ), Karosh Tahas "Im Bauch der Königin" (FR), Jason Reynolds' "Brüder" (Tagesspiegel), Heinrich Heines "Ich rede von der Cholera. Ein Bericht aus Paris von 1832" (Berliner Zeitung), Amy Hempels "Sing" (NZZ), Hernán Ronsinos Novelle "Cameron" (NZZ), Kerstin Preiwuß' Gedichtband "Taupunkt" (Tagesspiegel) und Zora Neale Hurstons "Barracoon. Die Geschichte des letzten amerikanischen Sklaven" (FAZ).
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Stichwörter: Covid-19, Wuhan

Musik

Die antirassistischen Proteste in den USA liefern dem neuen, von tiefem Geschichtsbewusstsein um die eigene Kunstform durchtränkten Album des Rap-Duos Run the Jewels "einen neuen Dringlichkeitsrahmen", schreibt Daniel Gerhardt auf ZeitOnline: Hier lassen sich sogar "Verweise entdecken, die gar nicht beabsichtigt gewesen sein können. Im Song 'Walking in the Snow' beschreibt Killer Mike die Apathie eines weißen Publikums, das Nachrichtensendungen über buchstäblich erstickende Polizeigewalt als Unterhaltungs-TV konsumiert. Das Stück wäre ohne die Polizeigewalt gegen George Floyd nicht weniger aktuell, fühlt sich aber doch wie ein Tribut auf den ehemaligen Rapper an. Floyd war in den Neunzigerjahren Teil einer Hip-Hop-Crew aus Houston, die den heruntergedrosselten Sound des sogenannten Dirty South prägte." Als Hommage an Eric Garner hat sich sogar ein heute wieder prophetisch anmutendes "I Can't Breathe" in den Track eingeschmuggelt:



Uli Hannemann ärgert sich in der taz sehr über die Partyexzesse am vergangenen Wochenende vor dem Urban-Krankenhaus in Berlin, wo eine Demo der Clubszene in einen Freiluft-Rave im Prä-Corona-Stil mit über tausend Teilnehmer gemündet war. Für ihn ist das so unverständlich wie der Trieb der Gläubigen in die Kirche: "Die einen nehmen Pillen, die anderen nehmen Gott. Die einen sind jung, die anderen sind alt, zumindest im Kopf. Gemein scheint beiden Lagern das feste Wissen um die eigene Unverwundbarkeit und eine allem anderen übergeordnete Mission zu sein. ...  Was das Höhere ist, bestimmen natürlich immer sie. Dummheit und Selbstüberschätzung regieren hier wie dort."

Weitere Artikel: Manuel Brug erkundigt sich für die Welt beim Dirigenten Riccardo Muti, wie der die letzten Monate überbrückt hat. Das Jazzfestival Moers hat sich auch als Corona-Onlinevariante gut geschlagen, berichtet Lars Fleischmann in der taz, der sich allerdings zuweilen etwas weniger Enthusiasmus beim künstlich zugespielten Applaus gewünscht hätte. Die Kürzestvideo-App Tiktok mausert sich mehr und mehr zum Barometer für Musiktrends, schreibt Amira Ben Saoud im Standard.

Besprochen werden Haftbefehls "Weißes Album", das anders als der momentane Deutschrap anzeigt ganz ohne Verschwörungstheorien auskommt (taz), eine CD-Box zum 450-jährigen Bestehen der Berliner Staatskapelle (Tagesspiegel) und eine Beethoven-Aufnahme von Gottlieb Wallisch (Presse).
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