Efeu - Die Kulturrundschau
Religion, Rebellion und Drogensucht
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Kunst

(via 3quarksdaily) Der Corona-Lockdown lässt eine ganze Menge Fantasien erblühen! Die Nachstellung berühmter Gemälde mit Zutaten aus dem eigenen Haushalt, die das Getty Museum ermuntert, bringt immer neue Meisterwerke hervor. Zum Beispiel diesen Magritte von Stephen Dixon:
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Weiteres: In der großen Schau zum 125. Geburtstag des Malers Franz Radziwill im Landesmuseum Oldenburg erkennt FAZ-Kritiker Stefan Trinks, was die Bilder des großen Mitläufers trotz allem so faszinierend und unheimlich macht: "Ähnlich wie Gauguin - einem anderen großen Autodidakten - steht ihm bei den oft kreischenden Komplementärkontrasten keine akademische Ausbildung mit 'Tunlichst nicht zu kombinieren!' im Weg". Die SZ-Kritikerinnen Catrin Lorch und Laura Weissmüller klinken sich in die Zoom-Meetings ein, mit denen sich auch die Akademien für Kunst und Architektur über die Corona-Zeit hinweghelfen müssen. Beate Scheder informiert in der taz über den "Sunday Open", an dem die Berliner Galerien jetzt einmal im Monat geöffnet haben werden. Paul Ingendaay steht bewundernd vor dem Tempel von Borobudur in Java, will in den Darstellungen aus dem 9. Jahrhundert aber ausgerechnet "Hollywoodgesichter" erkennen. Besprochen wird die Ausstellung "Trauer" in der Hamburger Kunsthalle (SZ).
Bühne
Film
Besprochen werden die HBO-Serie "The Plot Against America" auf Grundlage des gleichnamigen Romans von Philipp Roth (Jungle World), die Netflix-Serie "Snowpiercer" (ZeitOnline), die Netflix-Komödie "Die Turteltauben" (SZ) und die Netflix-Animationsserie "Enthüllungen zu Mitternacht" (FAZ).
Literatur
Manfred Osten staunt in der NZZ darüber, dass sich selbst bei Goethe Passagen finden, die sich auf die Corona-Gegenwart münzen lassen. Hannah Bethke zeigt sich in der FAZ von solcher Art modischer Stellenlektüre hingegen sehr genervt. Mitunter entgleiten dabei nämlich auch die Maßstäbe und dann "wird es vollends abstrus, in der Ahistorizität nachgerade ärgerlich und zudem geschmacklos, wenn nun auch noch die Verfolgten des NS-Regimes dafür herhalten müssen, uns in der Coronazeit zu trösten. 'Das Tagebuch der Anne Frank', so war jetzt im Tagesspiegel zu lesen, sei 'das Buch der Stunde'. Denn Anne Frank zeige uns, wie man Isolation verarbeiten könne: durch Introspektion. ... Wie bitte? Bedarf es im Ernst einer Aneignung der jüdischen Lebensrealität in der NS-Diktatur, von der wir Nachgeborenen uns kaum eine Vorstellung machen können, um auf die Defizite unseres Umgangs mit dem Virus aufmerksam zu machen?"
Dass der deutsche Beat-Schriftsteller und frühere Lufthansa-Pilot Jürgen Ploog, der gemeinsam mit Jörg Fauser und Carl Weissner in den Siebzigern die Literaturzeitschrift Gasolin 23 gegründet hat, vor einer Woche gestorben ist, scheint den Feuilletons entgangen zu sein. Eine knappe Meldung finden wir in der Jungen Welt, einen umfangreichen englischsprachigen Nachruf von Edward S. Robinson gibt es im Blog des European Beat Studies Network: "Ploog kam eine Schlüsselposition darin zu, die Cut-Ups nach Europa zu bringen und, was noch tragender ist, die Methode auf jene Weise zu propagieren, wie auch Burroughs dies tat, als er schrieb: 'Cut-Ups sind für alle da.' ... Seine begeistertes Interesse an und sein Bewusstsein für Sprache und ihre Formbarkeiten machten aus Jürgen Ploog einen starken Vertreter der Cut-Ups. Seine Liebe zum Detail und den Nuancen von Bedeutungen, aber auch sein geschärfter Blick für Gegenüberstellungen und Missverhältnisse, belegen nicht nur seinen leidenschaftlichen Intellekt, sondern weisen Ploog auch als jemanden aus, der sich ganz der Verfeinerung seines Handwerks widmete."
Weitere Artikel: Für die Berliner Zeitung unterhält sich Susanne Lenz mit der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Veronika Fuechtner, die derzeit in Berlin über Julia Mann, die Mutter von unter anderem Heinrich und Thomas, forscht. In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus der Schriftstellerin Regina Scheer zum 70. Geburtstag.
Besprochen werden unter anderem Graham Swifts "Da sind wir" (FR), Cai Juns Thriller "Rachegeist" (FR), Peer Jongelings Comic "Hattest du eigentlich schon die Operation?" (Tagesspiegel), Thomas Wolfes "Eine Deutschlandreise in sechs Etappen. Literarische Zeitbilder 1926-1936" (SZ) und Bücher von Leonid Zypkin (FAZ).
Architektur

In der NZZ denkt Sabine von Fischer über städtische Verdichtung nach, denn auch Corona werde die Zersiedelung in der Fläche nicht sinnvoller machen. Als beispielhaft erscheint ihr ein Bau in Cham am Zugersee, für dessen unattraktive Ortseinfahrt das Architekturbüro Karamuk Kuo ein Mehrfamilienhaus entwarf: "Das Haus ist ein monolithisches Ganzes und vielförmig zugleich: Der kleine Enkel des berühmten New Yorker Flatiron Building mit seiner weniger als 4 Meter schmalen, über 16 Meter hohen Front fächert sich im spitzwinkligen Grundstück so auf, dass er auf der Bahnhofseite wie zwei aneinandergewachsene Volumen wirkt. Als siamesischen Zwilling bezeichnet die Architektin Jeannette Kuo den Baukörper auf dieser Seite, als Felsenklippe auf der Seite entlang der Gleise und als Bug der 'Titanic' über der Straßenverzweigung: Das hohe Haus ist ein Flaggschiff der inneren Verdichtung in der Agglomeration, das kaum versinken wird."
Musik
The 1975 werden gerade für ihr neues Album "Notes on a Conditional Form" ziemlich gefeiert. Daniel Gerhardt erklärt auf ZeitOnline, warum: "Die Band ... hat sich im Lauf der Jahre zu einem der letzten Poprockacts entwickelt, die aus den vollen Möglichkeiten von Musikgeschichte und Internet schöpfen. Keine Idee ist zu groß für The 1975, kein Statement zu vollmundig. Jede noch so flüchtige Liebe ist es wert, in einem Denkmal verewigt zu werden." Und genau darin liegt ein Problem, meint Nadia Dilger in der Berliner Zeitung: Die Band nimmt alles mit - "House, Hip-Hop und Klassik - Religion, Rebellion und Drogensucht." Auf Dilger wirkt das so, "als hätten sich die etwa 30-jährigen Männer eine Playlist zusammengestellt, wie sie auf YouTube zufällig abspielt wird: Songs, mit denen sie aufgewachsen sind und Songs, die sie jetzt mögen. ... Für einen Radiosender oder eine Familienfeier? Perfekt! Für die Rolle des großen Bruders in der Pop-Rock-World nicht. Aber vielleicht wollen The 1975 auch gar nichts anderes als ein Sandwichkind sein." Wir hören trotzdem rein:
Außerdem: In der Welt gratuliert Manuel Brug der Staatskapelle Berlin zum 450-jährigen Bestehen. Besprochen werden das neue Album von The 1975 (Berliner Zeitung, ZeitOnline), Oliver Craskes Biografie über Ravi Shankar (NZZ), neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine neue Kammermusik-CD von Benoît Menut, der sich darin für SZ-Klassikkolomnist Reinhard J. Brembeck einmal mehr als "Meister der Subtilitäten" offenbart, und Golden Diskó Ships Album "Araceae", dessen "warme Soundästhetik" taz-Kritikerin Stephanie Grimm sehr umschmeichelt. Ein Stück daraus: