Efeu - Die Kulturrundschau

Unerbittlich knüppelt der Pauker

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11.12.2019. Die NZZ klopft die morscher werdenden Machtstrukturen in deutschen Theaterkathedralen ab.  Die SZ erlebt mit Oskar Schlemmer in Wuppertal den Menschen als geometrischen Teil einer höheren Raumordnung. Standard und Tagesspiegel berichten von Protesten gegen Peter Handke in Stockholm. Die FAZ feiert eine André-Masson-Schau in den Chemnitzer Kunstsammlungen. Der Standard freut sich über die Wiederbelebung der Flying Luttenbachers. Und dem Guardian wird es mit Banksy in Birmingham schon ganz weihnachtlich.Und Handke zum letzten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.12.2019 finden Sie hier

Kunst

Oskar Schlemmer: Lackierer, den Anstruch prüfend (1941/42). Bild: Von-der-Heydt-Museum. 

Lange wurden Oskar Schlemmers Arbeiten nicht gebührend gewürdigt, weil prozessfreudige Erben Ausstellungen und Reproduktionen verhinderten, weiß Alexander Menden in der SZ und freut sich umso mehr, dass Wuppertals Van-der-Heydt-Museum jetzt Schlemmers späte Arbeiten zeigt, aus der Zeit, als er sich in Wuppertal als Angestellter einer Farbenfabrik durchschlug: "Otto Schlemmer ist aber kein Expressionist, obwohl er, wie etwa die Maler des Blauen Reiters, die 'Selbstwahrnehmung' des Gezeigten ins Bild setzen wollte. Er war kein Kubist, obwohl Picasso ihn beeindruckte und prägte und das 'Triadische Ballett' in der zeitgenössischen Presse als 'kubistischer Scherz' kategorisiert wurde. Für ihn steht die menschliche Figur im Zentrum seiner Arbeit. Ein überhöhter, wenn auch nie rein dinglicher Mensch, der als geometrische Form Teil einer höheren Raumordnung ist, bestimmt durch die Gesetze der Geometrie."

Die Welt lässt ihre heutige Ausgabe vom japanischen Tausendsassa Takashi Murakami gestalten: "Brillanter hat wohl keiner aus Kunst, Kult, Klasse, Konsum und Kapital einen bonbonfarbigen Markenzopf geflochten", schreibt Hans-Joachim Müller über den Künstler, der "Superflat" zu seinem Markenzeichen machte: "Schwer beschreibbar, das alles. Oder anders ausgedrückt: vollkommen beschreibungsunbedürftig. Während der Amerikaner Jeff Koons mit edelst gefertigtem Monsterkitsch Punkte gemacht hat, hat der Japaner Takashi Murakami eine Art visuelles Esperanto für die globalisierte Welt geschaffen."

Weiteres: Völlig überwältigt ist Andreas Platthaus in der FAZ von der hochkarätig bestückten Retrospektive, mit der die Chemnitzer Kunstsammlungen den französischen Maler André Masson würdigen: "Mit dieser Retrospektive wird an einen Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts erinnert, der im Alleingang die Mauern der Tradition aufsprengte, ohne sie dabei vollständig zu schleifen." Ist Banksy der neue Charles Dickens?, fragt Jonathan Jones im Guardian, berührt durch das Weihnachtsgraffiti, das der Sprayer Birmingham spendiert hat. Darauf ziehen zwei Rentiere wie einen Schlitten eine Bank, auf der gern Obdachlose schlafen.

Besprochen werden außerdem eine Schau des isländischen Künstler Hreinn Friðfinnsson in den Berliner Kunstwerken (taz) und eine Ausstellung von Ka Bomhardt und Eileen Dreher in der Kommunalen Galerie Berlin (taz).
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Bühne

Daniele Muscionico recherchiert für die NZZ zur Studie des Frankfurter Theaterwissenschaftlers Thomas Schmidt, derzufolge 55 Prozent aller Befragten Machtmissbrauch an Theatern erlebt hätten, psychischen Druck, Mobbing oder das Einfordern sexueller Gefälligkeiten. Obwohl Muscionico die im Oktober vorgestellte Studie methodisch etwas fragwürdig einstuft, sieht sie die Machtdebatte erfolgreich ins Zentrum gerückt: "Im Gebälk der traditionsreichen deutschen Theaterkathedralen knirscht es. Hierarchien werden allenthalben infrage gestellt, Machtausübung als Führungsinstrument steht am Pranger. Allein in Zürich und in Basel sind jedenfalls innert Jahresfrist sämtliche relevanten Bühnen mit künstlerischen Teams besetzt worden. Benjamin von Blomberg, Nicolas Stemann und ihre künstlerische Crew verteilen die Führung und Verantwortung des Schauspielhauses Zürich dementsprechend auf mehrere Köpfe. Blomberg: 'Alle die Intendanten oder Intendantinnen, die in der Vergangenheit und auch heute noch ihren Job allein machen mussten oder müssen, tun mir schlicht und ergreifend leid.'"

Olga Neuwirths "Oralndo" in Wien. Foto: Staatsoper Wien / Michael Pöhn

Thema ist heute auch noch einmal Olga Neuwirths in Wien uraufgeführte "Orlando"-Oper. In der NZZ fürchtet Marco Frei, dass sich Neuwirth, einst Enfant terrible der Opernwelt, vom "Elite-Tempel der Hochkultur" hat zähmen lassen. Und weil Neuwirth die Geschlechterrollen viel weniger entschlossen aufbreche, als es in Virginia Woolfs Romanvorlage angelegt sei, will er in Orlando auch keine Transgender-Oper sehen: "Zum Abschluss trällert der Chor dann sogar eine Art 'Transgender-Hymne'. 'Wir sind fluid geboren', heißt es. Das wirkt nicht nur arg gewollt, sondern ideologisch verblendet: wie die Progaga-Gesänge im Sozialistischen Realismus." In der taz findet Joachim Lange zwar die Musik überzeugend, nicht aber die Bilder: "Die zeitliche Verlängerung ins Heute und Morgen wird aber zum Problem. Da bestimmt das Design nicht mal das Bewusstsein, sondern gerade noch den Schein. So wie hier die Probleme der Zeit gerafft, bebildert und mit der Wut eines Kindes, das seinen Willen nicht erfüllt bekommt, angegangen werden, ist das allzu simpel."

Besprochen werden außerdem Donizettis "Lucia di Lammermoor" am Staatstheater Darmstadt (FR), Choreografien von Alexander Ekman und Sharon Eyal beim Berliner Staatsballett (SZ, Tagesspiegel), Michael Thalheimers Inszenierung von Karl Schönherrs "Glaube und Heimat" am Berliner Ensemble (FR) und Tschechows "Kirschgarten" im Theater in der Josefstadt in Wien (FAZ).
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Literatur

Gerrit Bartels berichtet im Tagesspiegel aus Stockholm von der Nobelpreisvergabe an Olga Tokarczuk und Peter Handke. Begleitet wird diese vom Protest von etwa tausend Menschen, die Handke Genozidleugnung vorwerfen. Alles in allem scheint jenseits des feierlichen Prunks gedrückte Stimmung zu herrschen. "In der Tageszeitung Dagens Nyheter hat am Montag der in Bosnien geborene schwedische Regisseur, Schriftsteller und Politiker Jasenko Selimovic nochmal mit der Akademie abgerechnet und die Handke-Jugoslawien-Bücher seziert. Überhaupt fragen sich viele in Stockholm, wie es mit dem Komitee weitergeht. Befürchtet wird, dass nach den Skandalen der vergangenen Zeit die Handke-Wahl und die Debatte darüber genauso ausgesessen, es also keine Neuerungen geben wird."

Handke "wirkt von der höchsten literarischen Auszeichnung der Welt so überfordert wie ein Wanderer von einem zu hohen Berg", kommentiert Caroline Fetscher im Tagesspiegel Handkes teils grob ausfälliges Auftreten der letzten Wochen. Und sie stellt fest: "Demokratieskepsis ist so salontauglich geworden wie das Raunen wider die Aufklärung oder der Ruf nach archaisch agierenden Autoritäten. Als das amtierende Nobelkomitee beim Votum für einen Vertreter alternativer Fakten im politischen Koma lag, zeigte es sich unfreiwillig als Seismograf der Epoche."

Überhaupt, die Epoche: Nicht Handkes Darlegungen zu Jugoslawien, sondern die Andachtsverweigerung von Handkes Kritikern ist der wahre Skandal, meint zumindest Martina Meister in der Welt. "Wo Ruhm hätte sein sollen, war Schande angesagt. Wer Handke in den vergangenen Wochen zu verteidigen wagte, erntete ebenfalls Empörung. Sippenhaft." Und dies sage "mehr über unsere Zeit, über veränderte Medienöffentlichkeit, über die Ökonomie der Empörung als über die Schuld des Schriftstellers. Denn darum geht es: Die moralischen Richter des Guten und Vorzüglichsten haben Peter Handke für schuldig erklärt. ... Was auch immer Handke versucht hätte, er wäre dieses Urteil nicht losgeworden. Nicht durch Reue. Nicht durch Erklärungen. Nicht durch Asche über sein Haupt. Nicht durch den Versuch, das historisch sicher richtige Urteil in die Grauzone seiner eigenen Wahrheit zu überführen."

Vom Standard ist Michael Wurmitzer angereist, der sich unter die Protestierenden gemischt hat: "Überlebende des Massakers von Srebrenica, die bosnisch-deutsche Literaturwissenschafterin Alida Bremer, Elke Schmitter vom Spiegel sowie weitere Redner warfen Handke dabei erneut Genozidleugnung vor und rückten ihn in die Nähe der neuen Rechten: Seine Texte würden nicht grundlos auf deren Websites geteilt. ... Mit der Entscheidung für Handke sei das Gremium jetzt allerdings vollends moralisch bankrott." An dieser Stelle schreibt Wurmitzer detaillierter über den Protest in Stockholm.

Auch Peter Maass, der in The Intercept die Debatte um Handke vorantrieb (unsere Resümees), meldet sich aus Stockholm: "Im Stockholmer Konzerthaus gab es keine Anzeichen von Protest oder Zwietracht, als König Carl XVI Gustaf Handke die goldene Nobelmedaille überreichte. Nachdem der schwedische Monarch Handke herzlich die Hand geschüttelt hatte und der in Österreich geborene Schriftsteller im Gegenzug einen leichten Diener machte, spielte ein Orchester einen Auszug aus Edward Elgars 'Salut d'Amour'."

Apropos Neue Rechte, ein Twitterfundstück: Der rechte Rand schwelgt bereits in wärmsten Erinnerungen an Kriegseinsätze mit Handke im Gepäck.

Im Dlf Kultur sprechen Esther Kinsky und Lothar Quinkenstein über Olga Tokarczuk. Beide haben Romane der Nobelpreisträgerin übersetzt, Kinsky aber hat nach "Unrast" mit dieser Literatur gebrochen: "Was mich an den 'Jakobsbüchern' gestört hat: Es schien mir so ein Sammelsurium, mal ganz ehrlich gesagt, von verschiedenen Beiträgen, in denen ich überhaupt keine Linie, Struktur erkennen konnte. Mir gefiel die Sprache nicht. Mir gefällt ehrlich gesagt dieser Ansatz nicht, dass sehr viel von hier und da zusammengeklaubt und dann in so einen Text eingebuttert wird."

Weiteres: In der SZ berichtet die Literaturwissenschaftlerin Barbara Wiedemann von der detektivischen Herausforderungen, jenes "Hannele" zu identifizieren, dem Paul Celan Anfang der Fünfziger einige, erst Anfang des Jahres aufgetauchte und für die Celan-Forschung biografisch aufschlussreiche Briefe (hier ein paar Auszüge) schrieb. Ihr Befund: Es handelt sich um die Übersetzerin Hannelore Scholz. Die FAS hat Julia Enckes Porträt des Schriftstellers Peter Wawerzinek online gestellt, der viele Jahre an seinem nun der Öffentlichkeit präsentierten, autobiografischen Film "Lievalleen" gearbeitet hat.

Besprochen werden unter anderem Françoise Sagans Nachlassroman "Die dunklen Winkel des Herzens" (NZZ), Ian McEwans "Die Kakerlake" (taz), Benjamin Ziemanns Biografie über Martin Niemöller (Tagesspiegel), Walter Boehlichs gesammelte Titanic-Kolumnen (Tagesspiegel) und Charles J. Shields' Biografie über den Schriftsteller John Williams (FAZ).
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Film

Besprochen werden Edward Nortons Verfilmung von Jonathan Lethems Roman "Motherless Brooklyn" (SZ) und Lone Scherfigs "The Kindness of Strangers" (FAZ).
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Musik

Michael Stallknecht hat für die SZ einige Münchner Konzerte zu Ehren der Komponistin Galina Ustwolskaja besucht, die in Abwendung von der sowjetischen Staatsideologie in die Religion flüchtete und bis zu ihrem Tod 2006 weltabgewandt lebte. "Unerbittlich knüppelt der Pauker, eher nebeneinander als miteinander scheinen die anderen Instrumentengruppen im blockhaften Satz zu schreiten. Die Musik hat etwas von einer Prozession, die kein Ziel erreichen möchte. Der Rhythmus bleibt meistens monoton, unerbittliche Viertel sind das Grundmetrum, das Ustwolskaja ohne Taktstriche notiert. ... Wo Religion in der westlichen Musik seit der Romantik häufig als subjektive und damit gefühlsbetonte Gegenwelt auftritt, vollzieht sie sich bei Ustwolskaja im Objektiven, im archaisch Ritualhaften."

Hier ein Satz aus ihrer Fünften Sinfonie:



Christian Schachinger freut sich im Standard über die Wiederbelebung der Nerv-Rock-Band The Flying Luttenbachers, deren Musik auch auf ihrem ersten neuen Album seit 2007 eine Belastungsprobe für Genießer darstellt: "Zu synkopiertem Rhythmusgeballer und Richtung Schlagzeuger aus der Muppet Show weisenden Anfällen auf den Trommeln hupt sich Matt Nelson um den Verstand. Die Gitarre nudelt dazu von Gevatter James Blood Ulmer bekannte Einwände an der Grenze zur Tonalität. Manchmal werden Progressive-Rock-Wahnsinnigkeiten (Magma!) oder der elektrische Drogenfunk von Miles Davis aus den frühen 1970er-Jahren von Free-Jazz-Salven beschossen. Alte subkulturelle Stile wie No Wave, Punk und Metal im Zeichen der Raserei haben auch ein Wort oder zwei mitzureden." Reinhören? Man kann es ja mal versuchen. Immerhin braucht man danach keinen Kaffee mehr:



Weiteres: Julian Weber berichtet in der taz von seiner genelstreiksbedingt erschwerten Anreise zum Festival Recontres Transmusicales im französischen Rennes, die sich schlussendlich aber doch gelohnt hat: Das Festival "agiert wie ein Trüffelschwein und lässt die großen Stars von morgen eher am Anfang ihrer Karriere spielen." Laura Ewert (SpOn), Dirk Peitz (ZeitOnline), Nadine Lange (Tagesspiegel), Karl Fluch (Standard), Jürg Zbinden (NZZ), Bernd Graff (SZ) und Edo Reents (FAZ) trauern um Roxette-Sängerin Marie Fredriksson.

Besprochen werden Wolfram Knauers Buch "Play yourself, man! Die Geschichte des Jazz in Deutschland" (Zeit) und neue Popveröffentlichungen, darunter Nina Kraviz' Remix von St. Vincents Album "Masseducation" (SZ).
Archiv: Musik