Efeu - Die Kulturrundschau

So haben wir Kathedralen gebaut

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30.10.2019. Der Guardian erlebt in der englischen Provinz eine Revolution des sozialen Wohnungsbaus. In der NZZ fordert Bjarke Ingels einen Masterplan der Nachhaltigkeit. Die Welt wagt einen Ausfluf in Moskaus Schlafstädte. Die SZ lernt auf der Design-Biennale in Porto, dass Millennials beim Gestalten schon ans Wegwerfen denken. Der Standard bewundert die klirrende Klarheit in der Stimme des Burgschaupielers Frank Pätzold. Und es wird weiter erbittert über Peter Handke gestritten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.10.2019 finden Sie hier

Architektur

Meisterwerk in der Goldsmith Street in Norwich: Die kommunalen Passivhäuser erhielten den Stirling-Preis als bestes Gebäude 2019

Von einer wahren Revolution im kommunalen Wohnungsbau berichtet Architekturkritiker Oliver Wainwright im Guardian. In der vorigen Woche erhielt ein Sozialbau-Projekt in Norwich den Stirling Prize, aber auch in Gemeinden wie Doncaster, Bournemouth, Norwood und Nottingham entstehen neue innovative Bauten: "Zum Teil liegt es natürlich daran, dass die Gemeinden keine andere Wahl mehr haben. Während die Hälfte von ihnen über keinen eigenen Wohnungsbestand mehr verfügt, verpflichtete der Homeless Reduction Act von 2017 alle Gemeinderäte, Wohnungslosigkeit zu verringern und zu vermeiden. Angesichts des Ausmaßes und der Schwere der Wohnungskrise - Arbeitgeber bekommen keine Mitarbeiter mehr, weil die keine bezahlbare Wohnung finden, Wohnungslosigkeit hat sich in den vergangenen fünf Jahre verdoppelt - sind die öffentlichen Erwartungen gestiegen. 'Interessanterweise engagieren sich nicht nur die Labour-regierten Räte im Wohnungsbau, es gibt auch keine Kluft zwischen Stadt und Land', sagt die Londoner Stadtplanerin Janet Morphet. 'Einige der konservativen Räte sind noch viel wütender auf die Regierung als Labour.'"

Mit seinem CopenHill, einem Kraftwerk, das zugleich als Ski-Anlage dient, hat der dänische Architekt Bjarke Ingels Maßstäbe für eine Nachhaltigkeit gesetzt, die auch Spaß macht. Im NZZ-Interview mit Antja Stahl wirbt er aber nicht nur für mehr Hedonismus, sondern auch für einen echten Plan: "Man sollte mit praktischen, handfesten Vorschlägen kommen. Wir arbeiten gegenwärtig an einer Art Meta-Projekt, das wir Masterplanet nennen, also einen Masterplan für den Planeten. Wir wissen ja, dass Menschen fähig sind, generationsübergreifend Einsätze zu koordinieren, die unendlich viele Ressourcen brauchen. So haben wir Kathedralen gebaut. Wir brauchen nur einen Masterplan. Gegenwärtig gibt es eine Menge Literatur und viele Dokumente, die das Chaos belegen und die Probleme definieren, aber es gibt nur partielle Klimaziele: Diese Stadt möchte dies zu diesem Zeitpunkt verändern und jene etwas anderes erreichen . . . aber das läuft nirgendwo in einem Masterplan zusammen."
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Bühne

Frank Pätzold (links) als Marquis Posa. Foto: Matthias Horn


Im Standard porträtiert Margarete Affenzeller den Schauspieler Frank Pätzold, der ab Donnerstag am Burgtheater den Marquis Posa in Schillers "Don Karlos" gibt: "Der 30-Jährige hat die Energie eines Alexander Scheer, die Präsenz eines August Diehl, die charakterstarke Stimme eines jungen Klaus Maria Brandauer ... Ja, mit dieser Stimme, einem schweren, mal väterlichen, mal abgründigen Ton, könnte man so manche Religion gut verkaufen. Bei aller klirrenden Klarheit und Kraft klingt sie dennoch immer unprätentiös und kommt von lauter ungesunden Sachen, wie ihr Inhaber sagt, vom Rauchen, vom Trinken, vom Schreien (beim Fußballschauen), vom Theaterspielen. Und natürlich von den Genen. Franz Pätzold nennt das sächsisch kühl 'das Material'."

Tagesspiegel-Kritiker Rüdiger Schaper durfte mit dem Berliner Ensemble nach Kuba reisen und erlebte dort Michael Thalheimers Inszenierung von Brechts "Kaukasischem Kreidekreis" unter erschwerten Bedingungen: "Theaterblut wird auf kubanischen Bühnen normalerweise jedenfalls nicht vergossen. Es ist zu teuer und es ist tabu, wegen der Blutopfer der Santería-Kulte und der gefallenen Revolutionäre, die auf der Insel als Märtyrer gelten... Thalheimers Regie sieht kübelweise Blut vor. Es musste mitgebracht werden, und die bespritzten Kostüme wurden in einem der Luxushotels gewaschen."

Besprochen werden Jürgen Kruses Horvath-Inszenierung "Glaube, Liebe Hoffnung" (von der SZ-Kritikerin Anna Fastabend nicht weiß, ob sie die Altherrenwitze oder die nervtötende Langsamkeit schlimmer findet), Giuseppe Verdis Oper "Don Carlos" in Stuttgart (FAZ) und John Steinbecks "Früchte des Zorns" in Zürich (FAZ).
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Literatur

Alida Bremers Perlentaucher-Essay über den "Irrläufer" Peter Handke und seine späten Relativierungen des Massakers von Srebrenica (von denen er sich in einer Erklärung jetzt distanzierte, mehr hier) hat im Netz eine lebhafte Debatte ausgelöst. Vielfach wird Handke, gerade auch von Autoren, die sich der Linken zurechnen, verteidigt, etwa von dem Blogger Bersarin (hier). Der Ahriman-Verlag, in dem die  Ketzerbriefe erscheinen, verwahrte sich ohne Nennung von Bremer oder Perlentaucher gegen jegliche Vorwürfe. Das Srebrenica-Thema läuft dort unter der streng wissenschaftlichen Bezeichnung "Lügen-Auschwitz der NATO".

Aber dieses Thema ist, wie Alida Bremer in ihrem Essay sagt, ein "links-rechtes". Handkes Beziehungen zur extremen Rechten sind jedenfalls so alt wie die Jugoslawien-Debatte selbst, schreibt Peter Hintz bei 54books.de: "Als Teil seiner Unterstützung Serbiens im Kosovokrieg war Handke 1999 einer der Unterzeichner einer Querfront-'Antikriegspetition' des Gründervaters des intellektuellen Nachkriegsrechtsradikalismus in Europa, des französischen Philosophen Alain de Benoist. Die Erklärung sprach sich unter anderem gegen das 'erste Bombardement eines souveränen europäischen Staates durch eine amerikanische Militärallianz' seit dem Zweiten Weltkrieg aus und solidarisierte sich gleich auch noch mit den Palästinensern. Unter den Unterzeichnern fanden sich neben Handke die Schriftsteller Jean Raspail ('Das Heerlager der Heiligen') und Guillaume Faye ('Ethnische Apokalypse: Der kommende europäische Bürgerkrieg'), sowie viele andere französische, deutsche und amerikanische Autoren aus dem ganzen neurechten, rassistischen Spektrum."

Auf die Frage des österreichischen Magazins Kosmo, ob man Handke nach den nun bekannt gewordenen Äußerungen den Nobelpreis aberkennen solle, antwortet der Kulturtheoretiker Vladimir Biti mit einem wenig schmeichelhaften Nein: "Die Befürwortung des Wegnehmens des einmal verliehenen Nobelpreises läuft auf ein Eigentor hinaus. Viele Nobelpreisträger sind bereits (berechtigt) vergessen worden, aber derjenige, dem dieser Preis weggenommen worden wäre, würde (unberechtigt) nie ins Vergessen geraten." Das Kosmo-Magazin richtet sich laut Wikipedia "sprachlich und inhaltlich an die 744.000 Austro-Bosniaken, -Kroaten, -Montenegriner und -Serben", immerhin 9 Prozent der österreichischen Bevölkerung.

Im Standard stellt der bosnische Germanist Vahidin Preljević ein paar einfache und gewichtige Fragen: "Es geht um die Frage: Darf ein Autor im Namen der Literatur lügen? Und dürfen andere, sich ebenso hinter der ehrenwerten Literatur versteckend, diese Lüge verteidigen? Oder anders gefragt: Fallen nur die 'Ungebildeten' auf 'alternative Fakten' herein, oder geschieht das auch manchem Schriftsteller oder Literaturkritiker?" Und auch an Handke hat Preljević nach Lektüre der Zitate aus den Ketzerbriefen Fragen: "Warum spricht er überhaupt mit einer solchen Zeitschrift? Warum mit diesen Publizisten, die seit Jahren verschwörungstheoretisches Gedankengut verbreiten, auch und gerade über Srebrenica?"

Außerdem: In der Zeit findet Jens Jessen die Handke-Kontroverse alles in allem "beunruhigend" und listet auf, zu welchen verdienten Klassikern man heute nicht mehr greifen dürfte, würde man sich der Literatur und ihren Autoren grundsätzlich moralisch nähern: "Die Selbstverständlichkeiten einer Gesellschaft nicht zu teilen ist Voraussetzung dafür, ihr etwas zu erzählen, was sie noch nicht weiß oder nicht wissen will." In der FAZ berichtet Matthias Wyssuwa über Reaktionen auf die Nobelpreis-Entscheidung in Schweden, ohne die Reaktion der Akademie auf jüngst aufgefundene Zitate und die Reaktion von Handke selbst zu erwähnen (mehr hier). In Serbien selbst werde Handke im übrigen kaum gelesen, stellt Thomas Roser im Tagesspiegel fest.

Besprochen werden Petina Gappahs "Aus der Dunkelheit strahlendes Licht" (NZZ), Lauren Groffs Erzählband "Florida" (Welt), Thomas Meyers "Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin" (NZZ), Johannes Nichelmanns Erinnerungsbuch "Nachwendekinder" (FR), die deutsche Erstveröffentlichung von William Melvin Kelleys "Ein anderer Takt" aus dem Jahr 1962 (SZ) und ein Band der griechischen Lyrikerin Anna Griva (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Für die Welt besucht Julia Smirnova das Projekt "Jenseits des Zentrums", das Simon Mraz, der Leiter des Österreichischen Kulturforums in Moskau, organisiert hat. Mraz hat schon Ausstellungen an die abwegigsten Orten Russlands gebracht, erzählt Smirnova: in ein Observatorium im Nordkaukasus, in die sibirische Stadt Krasnojarsk oder an Bord des Atomeisbrechers Lenin. "Moskauer Vorstädte findet er aber nicht weniger interessant. Er ist überzeugt, dass sich die spannendsten künstlerischen Prozesse gerade nicht im sterilen Stadtzentrum, sondern an der Peripherie abspielen, nicht nur, gerade aber auch in Moskau. 'Die wirklich relevanten Veränderungen in Kultur und Gesellschaft finden an den Stadträndern statt', sagt er. Tatsächlich wird gerade politischer Rap oder Mode in Russland stark von den Vorstadtsubkulturen inspiriert. Doch gleichzeitig sind die Plattenbauten meistens keine Arbeitersiedlungen und Orte der Deprivation, wie man sie sich manchmal im Westen vorstellt. Gerade viele Familien aus der Mittelklasse kaufen sich Wohnungen in den Betonblöcken der neugebauten Siedlungen. Auch der Politstar und Anführer der Opposition, Alexej Nawalny, lebt nicht etwa in der Innenstadt, sondern in einem Hochhaus etwas weiter außerhalb."

Besprochen wird eine Schau des Einzelgängers und Künstler-Künstlers Hermann Glöckner in der Graphischen Sammlung in München (SZ).
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Film

Hailie Sahar in "Pose" (Bild: netflix)

In der taz erzählt die Transgender-Schauspielerin Hailie Sahar, die ab heute in der 2. Staffel der Netflix-Serie "Pose" zu sehen ist, über ihre biografischen Erfahrungen, auf die sie in ihrer weiteren Karriere allerdings nicht reduziert werden will: "Ich will ein Bond-Girl sein. Ich mag das ganze Konzept. Ich liebe die Gefahr, den Sexappeal - und auch das Bad-Girl-Image. Aber ich wäre gern auch mal eine Marvel-Figur. Ich mag Rollen, die mich herausfordern. Eine eindimensionale Künstlerin möchte ich nicht sein. Ich will vieles gleichzeitig sein."

Weiteres: Wili Winkler (SZ) und Dirk Peitz (ZeitOnline) schreiben Nachrufe auf den Hollywoodproduzenten Robert Evans. Besprochen werden Jessicas Hausners "Little Joe", der in Deutschland im Januar anläuft (Standard), Bora Dagtekins "Das perfekte Geheimnis" (SZ), die Sky-Serie "Catherine the Great" mit Helen Mirren (Presse) und der Horrorfilm "Scary Stories to tell in the Dark", der laut Welt-Kritikerin Emeli Glaser die nostalgischen Bedürfnisse in den 80ern aufgewachsenen Mitt-Vierziger bedient.
Archiv: Film

Design

ORE STREAMS. Client / NGV - Triennale di Milano. Year / 2017-2019


Der Titel "Post Millennium Tension", unter dem die erste Design-Biennale im portugiesischen Porto stattfand, ist Programm, schreibt Laura Weißmüller in der SZ: Hier präsentierte sich vor allem der Designnachwuchs aus der Millenial-Generation, die ihren "Karrierestart mitten in der Krise erlebt" und im Angesicht des globalen Klimawandels vor neuen gestalterischen Herausforderungen steht: "So präsentiert in der zentralen Ausstellung 'New Millennium Design' das niederländische Design-Duo Studio Formafantasma seine Forschungsergebnisse, was aus den elektronischen und gerne formschön entworfenen Geräten wird, wenn wir sie aus der Hand legen - in Form von Interviews, Essays, Videos oder auch Objekten, die alle auf der digitalen Plattform 'Ore Streams' frei zugänglich sind. Ziel des drei Jahre andauernden Projekts sei es, der Frage nachzugehen, 'wie Design ein wichtiger Faktor für einen verantwortungsbewussteren Umgang mit Ressourcen sein kann'. Alles, was auf den Müllhalden oder gerne auch in den Gewässern dieser Welt landet, wurde irgendwann einmal designt. Nur wer schon beim Entwurfsprozess daran denkt, welches Nachleben sein Produkt später haben kann, wird den Ressourcenverbrauch reduzieren."

Im Freitag erinnert Rebecca Menzel an die DDR-Alternative zur Stonewashed-Jeans, die Ende der 80er aufkam.
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Musik

In ihrem neuen Album "Magadalene" huldigt die britische Musikerin FKA Twigs der ewigen Maria Magdalena und erklärt im taz-Gespräch dazu: "Das Konzept der heiligen Prostituierten hat mich inspiriert." Dabei ging es ihr um "die mächtige Energie, die von Frau zu Frau in jeder Familie weitervererbt wird. ... Vor 200 Jahren hätte man uns noch auf dem Scheiterhaufen verbrannt, wenn Frauen öffentlich über solche Themen gesprochen hätten. Das ist heute anders. Nun werden wir ausgelacht, aber auch das ist eine Taktik, um uns Angst zu machen vor unserer eigenen Magie, unserer eigenen Macht. Dabei sind wir es, die Leben schaffen! Und das ist eine der magischsten Fähigkeiten, die es gibt. Pah! Wie schlimm wäre es, wenn uns Frauen bewusst wäre, wie mächtig wir eigentlich sind? Das würde einigen Leuten wohl nicht schmecken." Bei Pitchfork gibt es ein großes Porträt der Musikerin. Ein aktuelles Video gibt es bei uns:



Weiteres: Christian Rath hat für die taz die Weltmusik-Messe Womex besucht, die zur umstrittenen Genrebezeichnung "Weltmusik" keine bessere Alternative sieht. Martina Wohlthat schreibt in der NZZ einen Nachruf auf den Komponisten Hansheinz Schneeberger. Christian Schröder (Tagesspiegel) und Dietmar Dath (FAZ) gratulieren Grace Slick zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Konzerte von Víkingur Ólafsson (Tagesspiegel), La Venexiana (Tagesspiegel), dem London Symphony Orchestra unter der Leitung von Sir John Eliot Gardiner (FR) und Seeed (NZZ), Elton Johns Autobiografie (FAZ), eine neue CD der österreichischen Jazzformation Shake Stew (Standard), und neue Popveröffentlichungen, darunter Michael Kiwanukas neues, nach sich selbst benanntes Album, das SZ-Kritikerin Juliane Liebert mit seiner herbstlichen Stimmung gut gefällt. Wir hören rein:

Archiv: Musik