Efeu - Die Kulturrundschau

Steroid für die Historie

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14.09.2019. Die Welt erliegt mit Abel Gance dem Rausch der Bewegung. Die SZ sieht auf den Bildern Robert Franks, wieviele Jahrzehnte Europa von Amerika einst trennten. Der Freitag lernt von Videokünstler Klaus vom Bruch, was ironische Verschiebung bedeutet. Standard und Nachtkritik lassen sich in Ulrich Rasche Wiener "Bakchen"-Inszenierung sehr tapfer von Faschos anbrüllen. ZeitOnline fürchtet die Rückkehr der Bombast-Videos der neunziger Jahre. Und bisher gibt es nur Meldungen: György Konrad ist gestorben.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.09.2019 finden Sie hier

Kunst

Das C/O Berlin zeigt in der Ausstellung "Unseen" unbekannte Bilder des gerade verstorbenen Fotografen Robert Frank, und in der SZ staunt Peter Richter, wie weit zurück die Aufnahmen aus Europa scheinen, im Vergleich zu den Straßenkreuzern und Highways Amerikas - "was ausdrücklich nicht an Robert Frank liegt, sondern an dem Europa jener Jahre. Vor der Porte de Clignancourt sieht man Kinder auf einem Acker mit einem müden Pferd spielen, nur im Dunst des Hintergrundes erahnt man die Mauern von Paris. Rätselhaft und poetisch im Stadtraum herumstehendes Gestühl, dem Frank damals eine ganze Serie widmete, findet man in Paris zwar auch heute noch, etwa im Jardin du Luxembourg. Aber dafür stolzieren seine Londoner Bankiers durch den Nebel, als kämen sie direkt aus einem Roman von Charles Dickens, vorbei an Automobilen, die Kutschen ähneln, denen die Pferde davongelaufen sind."

Im Freitag porträtiert Ludger Blanke den Videokünstler und Technik-Nerd Klaus vom Bruch, der am ersten Tag der Schleyer-Entführung den Polizeifunk aufzeichnete, für Emma Fotos machte und Virilio mit seinem rheinischen Naturell zusammenbringen kann: "Bei vom Bruch fällt auf, wie sehr Themen der Bildbetrachtung, Interesse und Blick den Arbeiten Harun Farockis ähneln. Sowohl Farocki als auch vom Bruch dekonstruieren Dinge und setzen sie neu zusammen. Während Farocki an der Grammatik oder besser Syntax der Phänomene arbeitete, sie gewissermaßen nackt machte, arbeitet(e) vom Bruch sich an der Semantik, an der Psychologie der Bilder ab. Fast wie eine Methode kommt bei ihm der Karneval dazu. Farockis Filme und später die Installationen waren trocken, beinahe vollständig frei von Ironie, bei vom Bruch gibt es hingegen nicht eine einzige Arbeit, die sich nicht einer ironischen Verschiebung bedient."

Weiteres: In der Berliner Zeitung berichtet Ingeborg Ruthe, dass der Preis der Nationalgalerie an die Französin Pauline Curnier Jardin geht, die der Kunstwelt das Gebärmutterrot geschenkt hat (siehe unser Efeu vom 19.08.2019). In der NZZ stellt Daghild Bartels fest, dass die Art Berlin auch ohne die Großgalerien "gelungen und ausgesprochen attraktiv" sei. Im Tagesspiegel besucht Jens Hinrichsen Thomas Scheibitz' Ausstellung im Musem Berggruen. Besprochen werden die Ausstellung der israelischen Künstlerin Sigalit Landau "Salt Years" im Museum der Moderne in Salzburg (FAZ).
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Bühne

"Faschos schreien dich an": Ulrich Rasches "Bakchen" am Burgtheater. Foto: Andreas Pohlmann


Euripides' "Bakchen" erzählen von der Zerstörung der Gesellschaft durch einen Gott in Menschengestalt, in Ulrich Rasches Inszenierung am Burgtheater wird Dionysos zu einem Menschen, der sich für Gott hält. Im Standard findet Stephan Hilpold das schon stark, eigenwillig, aber auch einseitig: "Die Bakchen als Identitären-Drama, wenn man so will. Doch um das intellektuelle Abwägen oder gar um ein Sowohl-als-auch geht es an diesem Abend nicht. Die Botschaft wird ins Publikum gebrüllt, und dafür bietet man alle Mittel der Überwältigung auf. Rammstein haben erst vor wenigen Tagen im Praterstadion gespielt, der Rammstein des Theaters ist jetzt an der Burg dran."

Nachtkritikerin Gabi Hift verzweifelt, dass Rasche dem seit Urzeiten verstörendem Stück jede Vielschichtigkeit ausgetrieben habe: "Alles andere lässt sich unter der Überschrift: 'Faschos brüllen dich an' subsumieren. Wie man davon - positiv - beeindruckt sein kann, ist mir ehrlich gestanden ein Rätsel. Aber am Ende gibt es Jubel und viele Bravos." Die Wiener müssen sich auf strenge Zeiten einstellen, fürchtet Wolfgang Kraliczek in der SZ nach diesem Saisonauftakt unter Martin Kusejs Intendanz: "Die dreieinhalb Stunden lange Aufführung verlangt den Zuschauern höchste Konzentration ab, ohne jeden Anflug von Witz oder auch nur Ironie. Hier wird Ernst gemacht."

Kraftmeier-Theater auch in Berlin: Vier Stunden sinnloses Sterben durchlitt Ulrich Seidler für die FR mit Thorleifur Örn Arnarssons "Odyssee" an der Volksbühne: "Der Abend will alles erzählen und doch jeden Mythos niederstrecken. Immer schön im Wechselrhythmus von Pathos und Ironie, von schwellender Opulenz und entseelter Distanziertheit. Warum nicht? Doch wie beliebig ist das zusammengesteckt! Wie schnell geht dem Gedanken die Puste aus! Wie klein und schwach sind im Getümmel die Schauspieler." In der Nachtkritik erkennt Christan Rakow auf eine gewisse Würtschenhaftigkeit der Inszenierung: "So hat die Inszenierung uns den Homer zubereitet: Kriegskerle vom Schlage des Odysseus und alle, die ihnen huldigen, sind kleine Würstchen. Aber Würstchen grillt man nicht in vier Stunden. Dafür hätten ein paar Minuten locker gereicht." Im Tagesspiegel fragt sich Rüdiger Schaper, ob das schon radikales Protz-Theater war oder noch die Probe.

Weiteres: Richtig umworben fühlt sich Daniele Muscionico von den neuen Intendanten des Zürcher Schauspielhaus, Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann, die zum Auftakt der Saison ein ganzes Festivals starteten: "So kraftvoll, körperlich und greifbar war eine neue Intendanz in Zürich schon lange nicht mehr begonnen worden." Im Standard unterhält sich Helmut Ploebst mit Janine Jembere über queer-postkoloniale Theorie im Tanz.

Besprochen werden Philip Glass' und Robert Wilsons "Einstein on the Beach" an der Oper Genf (NZZ, FAZ), Janis Knorrs Bühnenfassung der NSU-Protokolle am Staatstheater Kassel (Nachtkritik) und Charlotte Sprengers Lessing-Inszenierung "Minna von Barnhelm" am Schauspiel Bonn (Nachtkritik).

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Literatur

Unter anderem die Presse meldet, dass der ungarische Autor György Konrad gestorben ist. In der NZZ ist online ein erster Nachruf von Ulrich Schmid zu lesen, der Konrad als Schriftsteller, Intellektuellen und Dissidenten würdigt: "Die Freiheit ist kein einfacher Untersuchungsgegenstand. Das gilt insbesondere für das Nachdenken über Freiheit unter totalitären Bedingungen. Als Konrád im Jahr 1973 zusammen mit Iván Szelényi das provokative Buch 'Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht' schrieb, gehörte viel Mut zu einem solchen Unterfangen. Zwar mussten dissidente Intellektuelle im Ungarn der siebziger Jahre nicht mehr wie nach der sowjetischen Invasion 1956 um ihr Leben fürchten; trotzdem hielt das System Andersdenkende in Quarantäne und setzte sie gezielten Repressionen aus."

Weiteres: Für die Literarische Welt hat Marko Martin in Havanna den kubanischen Schriftsteller Leonardo Padura besucht. Padura ist es - wenngleich nur dank des internationalen spanischsprachigen und Übersetzungsmarkt - geglückt, inmitten einer maroden Stadtwüste eine literarische Existenz aufzubauen. Schriftstellerin Tanja Dückers erinnert sich in einer von der Literarischen Welt veröffentlichten Notiz daran, wie sie gegen ihren Willen in den neunziger Jahren als literarischer Blickfang in Szene gesetzt wurde. In den "Actionszenen der Weltliteratur" erzählt Wieland Freund, wie Agatha Christie einmal spurlos von der Bildfläche verschwunden ist. Im Feature für Dlf Kultur erinnert Wolfgang Hörner an den Schriftsteller Johann Karl Wezel. Klaus Reichert (SZ) und Anne Bohnenkamp (FAZ) gratulieren der Verlegerin Monika Schoeller zum 80. Geburtstag.

Im Dlf Kultur erinnert der Literaturwissenschaftler Wilhelm Droste an den ungarischen Schriftsteller. Axel Timo Purr schreibt auf Artechock einen Nachruf auf den indischen Drehbuchautor und Schriftsteller Kiran Nagarkar.

Besprochen werden unter anderem Nora Bossongs "Schutzzone" (Literarische Welt, Tagesspiegel), Valeria Luisellis "Archiv der verlorenen Kinder" (taz), Eva Maria Leuenbergers Lyrikdebüt "dekarnation" (Tagesspiegel), Nicolas Mathieus "Wie später ihre Kinder" (taz), Nhung Dams "Tausend Väter" (Literarische Welt), Margaret Atwoods "Die Zeuginnen" (SZ) und Anna Weidenholzers "Finde einem Schwan ein Boot" (FAZ).
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Film

Der auf Instagram bereits Ende Juli dokumentierte Plausch zwischen Hans Joachim Mendig, dem Chef der hessischen Filmförderung, und AfD-ler Jörg Meuthen (unser Resümee) zieht Kreise. Die FR springt auf das Thema auf und stellt Nachfragen, in der internationalen Presse berichtet das Branchenblatt ScreenDaily. Auch die Deutsche Filmakademie stellt sich auf die Hinterbeine (auch wenn die Behauptung, das Journal Frankfurt habe die Nachricht als erstes gebracht, zumindest ausweislich der Online-Zeitmarke des Artikels nicht stimmt) und stellt in einem offenen Brief Fragen, schließlich fordere der kulturpolitische Sprecher der AfD, Marc Jongen, enigermaßen die Indienstnahme der Kultur zu nationalistischen Zwecken. "Da Herr Mendig an entscheidender Stelle Verantwortung für das steuerlich finanzierte Filmfördersystem trägt, hat die Öffentlichkeit und insbesondere die Fachöffentlichkeit ein berechtigtes Interesse, über seinen 'konstruktiven Gedankenaustausch' mit einer Partei zu erfahren, die genau dieses Fördersystem radikal ändern möchte." Auf Facebook gibt es bereits erste offene Briefe von früheren Mitarbeitern der Mending unterstellten HessenFilm und Medien, die ihre Kündigung erklären.

In der Welt verneigt sich Gerhard Midding tief vor Abel Gance' siebenstündigem Stummfilm "La Roue" von 1922, den das Musikfest Berlin in einer rekonstruierten Fassung zeigt (mehr dazu bereits hier). Dem Regisseur gelingt "ein einzigartiger Furor filmischer Konkretion und Poesie. Es ist ein Rausch der Bewegung, ein Manifest der Moderne und der Zerrissenheit. Ein faszinierender Pantheismus eignet Gance' Inszenierung. Maschinen und Menschen, Flora und Fauna, Witterung und die Elemente scheinen mit der gleichen Lebenskraft erfüllt und entfalten auf der Leinwand die gleiche plastische Wirkung."

Zum Kinostart des fünften "Rambo"-Films kommende Woche holt Lucas Barwenczik die vorangegangenen Teile des Actionklassikers mit Sylvester Stallone wieder aus dem Regal: "Der Rechtsruck der Reagan-Ära vollzieht sich in und durch eine Filmreihe. In der Fiktion noch gieriger und fanatischer als in der Realität. Das Kino als Steroid für die Historie; die Wirklichkeit verschwindet und weicht zunehmend einem Comic."

Weiteres: Anlässlich der Neubesetzung der Leitung von "Vision Kino" wünscht sich der Filmpädagoge Stefan Stiletto im Filmdienst eine Öffnung der Filmbildung zum Populären. Im Standard plaudert Brad Pitt über seinen neuen Science-Fiction-Film "Ad Astra". Brogan Morris würdigt den US-Schauspieler derweil auf The Quietus als "smartest working actor".

Besprochen werden Michael Kliers "Idioten der Familie" (Tagesspiegel, unsere Kritik hier), Rebecca Zlotowskis "Ein leichtes Mädchen" (online nachgereicht von der FAZ, unsere Kritik hier), Josh und Benny Safdies beim Filmfestival in Toronto gezeigter Netflix-Film "Uncut Gems" (critic.de) und Gregor Schmidingers Horrorfilm "Nevrland" (Standard).
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Musik

Mit Charli XCX kehren die hedonistisch-materialistischen Bombast-Strategien der Musikvideos der Neunziger zurück, schreibt Daniel Gerhardt auf ZeitOnline. Die klare Botschaft: "Niemand kann uns aufhalten, wir starten die Party, und wir sagen auch, wann Schluss ist. Nicht weniger offensichtlich sind die Neunzigerjahre-Popklischees, die den Transportweg dieser Botschaften pflastern: die Moves, das Make-up, die Halle, der Nebel, das Feuer, der Regen, die Unterwäsche, das Auto und so weiter. Charli XCX ist heute ein Popstar, weil sie diese Klischees besser mit Zeitgeist füllt als jede andere Künstlerin, die sich um ihre monatlichen Spotify-Abrechnungen schert. Sie übernimmt die Zeichen aus vergangenen Poptagen und entscheidet, was sie in Zukunft bedeuten werden."  Eine schöne Beobachtung findet sich in Michelle Kims Pitchfork-Rezension: "Charli legt eine Singer-Songwriterin frei, die keine Furcht davor hat, die Risse in ihrer Fassade zu zeigen und zeichnet auf diese Weise in einem beeindruckenden Bild was geschieht, wenn ein Roboter Defekte hat."



Weiteres: Jens Uthoff porträtiert in der taz den behinderten Rapper Graf Fidi. Viola Schenz erinnert in der NZZ an den letzten Sommer der Beatles vor 50 Jahren. Dlf Kultur erinnert mit einer Spezialsendung an Clara Schumann, die vor 200 Jahren geboren wurde. Auf ZeitOnline schreibt Beatrix Borchard über die Komponistin und Pianistin.

Besprochen werden eine Ausstellung im C/O Berlin mit Fotos aus 30 Jahren Berliner Clubkultur (Welt, Dlf Kultur), der Berliner Auftritt von Wilco (Berliner Zeitung), Teodor Currentzis' Mozart-Zyklus beim Lucerne Festival (NZZ), Herbert Grönemeyers Konzert in Wien (Presse) und neue Pop-Bücher von Jens Balzer und Michael Behrendt (FAZ).
Archiv: Musik