Efeu - Die Kulturrundschau
Steroid für die Historie
Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Kunst

Im Freitag porträtiert Ludger Blanke den Videokünstler und Technik-Nerd Klaus vom Bruch, der am ersten Tag der Schleyer-Entführung den Polizeifunk aufzeichnete, für Emma Fotos machte und Virilio mit seinem rheinischen Naturell zusammenbringen kann: "Bei vom Bruch fällt auf, wie sehr Themen der Bildbetrachtung, Interesse und Blick den Arbeiten Harun Farockis ähneln. Sowohl Farocki als auch vom Bruch dekonstruieren Dinge und setzen sie neu zusammen. Während Farocki an der Grammatik oder besser Syntax der Phänomene arbeitete, sie gewissermaßen nackt machte, arbeitet(e) vom Bruch sich an der Semantik, an der Psychologie der Bilder ab. Fast wie eine Methode kommt bei ihm der Karneval dazu. Farockis Filme und später die Installationen waren trocken, beinahe vollständig frei von Ironie, bei vom Bruch gibt es hingegen nicht eine einzige Arbeit, die sich nicht einer ironischen Verschiebung bedient."
Weiteres: In der Berliner Zeitung berichtet Ingeborg Ruthe, dass der Preis der Nationalgalerie an die Französin Pauline Curnier Jardin geht, die der Kunstwelt das Gebärmutterrot geschenkt hat (siehe unser Efeu vom 19.08.2019). In der NZZ stellt Daghild Bartels fest, dass die Art Berlin auch ohne die Großgalerien "gelungen und ausgesprochen attraktiv" sei. Im Tagesspiegel besucht Jens Hinrichsen Thomas Scheibitz' Ausstellung im Musem Berggruen. Besprochen werden die Ausstellung der israelischen Künstlerin Sigalit Landau "Salt Years" im Museum der Moderne in Salzburg (FAZ).
Bühne

Euripides' "Bakchen" erzählen von der Zerstörung der Gesellschaft durch einen Gott in Menschengestalt, in Ulrich Rasches Inszenierung am Burgtheater wird Dionysos zu einem Menschen, der sich für Gott hält. Im Standard findet Stephan Hilpold das schon stark, eigenwillig, aber auch einseitig: "Die Bakchen als Identitären-Drama, wenn man so will. Doch um das intellektuelle Abwägen oder gar um ein Sowohl-als-auch geht es an diesem Abend nicht. Die Botschaft wird ins Publikum gebrüllt, und dafür bietet man alle Mittel der Überwältigung auf. Rammstein haben erst vor wenigen Tagen im Praterstadion gespielt, der Rammstein des Theaters ist jetzt an der Burg dran."
Nachtkritikerin Gabi Hift verzweifelt, dass Rasche dem seit Urzeiten verstörendem Stück jede Vielschichtigkeit ausgetrieben habe: "Alles andere lässt sich unter der Überschrift: 'Faschos brüllen dich an' subsumieren. Wie man davon - positiv - beeindruckt sein kann, ist mir ehrlich gestanden ein Rätsel. Aber am Ende gibt es Jubel und viele Bravos." Die Wiener müssen sich auf strenge Zeiten einstellen, fürchtet Wolfgang Kraliczek in der SZ nach diesem Saisonauftakt unter Martin Kusejs Intendanz: "Die dreieinhalb Stunden lange Aufführung verlangt den Zuschauern höchste Konzentration ab, ohne jeden Anflug von Witz oder auch nur Ironie. Hier wird Ernst gemacht."
Kraftmeier-Theater auch in Berlin: Vier Stunden sinnloses Sterben durchlitt Ulrich Seidler für die FR mit Thorleifur Örn Arnarssons "Odyssee" an der Volksbühne: "Der Abend will alles erzählen und doch jeden Mythos niederstrecken. Immer schön im Wechselrhythmus von Pathos und Ironie, von schwellender Opulenz und entseelter Distanziertheit. Warum nicht? Doch wie beliebig ist das zusammengesteckt! Wie schnell geht dem Gedanken die Puste aus! Wie klein und schwach sind im Getümmel die Schauspieler." In der Nachtkritik erkennt Christan Rakow auf eine gewisse Würtschenhaftigkeit der Inszenierung: "So hat die Inszenierung uns den Homer zubereitet: Kriegskerle vom Schlage des Odysseus und alle, die ihnen huldigen, sind kleine Würstchen. Aber Würstchen grillt man nicht in vier Stunden. Dafür hätten ein paar Minuten locker gereicht." Im Tagesspiegel fragt sich Rüdiger Schaper, ob das schon radikales Protz-Theater war oder noch die Probe.
Weiteres: Richtig umworben fühlt sich Daniele Muscionico von den neuen Intendanten des Zürcher Schauspielhaus, Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann, die zum Auftakt der Saison ein ganzes Festivals starteten: "So kraftvoll, körperlich und greifbar war eine neue Intendanz in Zürich schon lange nicht mehr begonnen worden." Im Standard unterhält sich Helmut Ploebst mit Janine Jembere über queer-postkoloniale Theorie im Tanz.
Besprochen werden Philip Glass' und Robert Wilsons "Einstein on the Beach" an der Oper Genf (NZZ, FAZ), Janis Knorrs Bühnenfassung der NSU-Protokolle am Staatstheater Kassel (Nachtkritik) und Charlotte Sprengers Lessing-Inszenierung "Minna von Barnhelm" am Schauspiel Bonn (Nachtkritik).
Literatur
Weiteres: Für die Literarische Welt hat Marko Martin in Havanna den kubanischen Schriftsteller Leonardo Padura besucht. Padura ist es - wenngleich nur dank des internationalen spanischsprachigen und Übersetzungsmarkt - geglückt, inmitten einer maroden Stadtwüste eine literarische Existenz aufzubauen. Schriftstellerin Tanja Dückers erinnert sich in einer von der Literarischen Welt veröffentlichten Notiz daran, wie sie gegen ihren Willen in den neunziger Jahren als literarischer Blickfang in Szene gesetzt wurde. In den "Actionszenen der Weltliteratur" erzählt Wieland Freund, wie Agatha Christie einmal spurlos von der Bildfläche verschwunden ist. Im Feature für Dlf Kultur erinnert Wolfgang Hörner an den Schriftsteller Johann Karl Wezel. Klaus Reichert (SZ) und Anne Bohnenkamp (FAZ) gratulieren der Verlegerin Monika Schoeller zum 80. Geburtstag.
Im Dlf Kultur erinnert der Literaturwissenschaftler Wilhelm Droste an den ungarischen Schriftsteller. Axel Timo Purr schreibt auf Artechock einen Nachruf auf den indischen Drehbuchautor und Schriftsteller Kiran Nagarkar.
Besprochen werden unter anderem Nora Bossongs "Schutzzone" (Literarische Welt, Tagesspiegel), Valeria Luisellis "Archiv der verlorenen Kinder" (taz), Eva Maria Leuenbergers Lyrikdebüt "dekarnation" (Tagesspiegel), Nicolas Mathieus "Wie später ihre Kinder" (taz), Nhung Dams "Tausend Väter" (Literarische Welt), Margaret Atwoods "Die Zeuginnen" (SZ) und Anna Weidenholzers "Finde einem Schwan ein Boot" (FAZ).
Film

Zum Kinostart des fünften "Rambo"-Films kommende Woche holt Lucas Barwenczik die vorangegangenen Teile des Actionklassikers mit Sylvester Stallone wieder aus dem Regal: "Der Rechtsruck der Reagan-Ära vollzieht sich in und durch eine Filmreihe. In der Fiktion noch gieriger und fanatischer als in der Realität. Das Kino als Steroid für die Historie; die Wirklichkeit verschwindet und weicht zunehmend einem Comic."
Weiteres: Anlässlich der Neubesetzung der Leitung von "Vision Kino" wünscht sich der Filmpädagoge Stefan Stiletto im Filmdienst eine Öffnung der Filmbildung zum Populären. Im Standard plaudert Brad Pitt über seinen neuen Science-Fiction-Film "Ad Astra". Brogan Morris würdigt den US-Schauspieler derweil auf The Quietus als "smartest working actor".
Besprochen werden Michael Kliers "Idioten der Familie" (Tagesspiegel, unsere Kritik hier), Rebecca Zlotowskis "Ein leichtes Mädchen" (online nachgereicht von der FAZ, unsere Kritik hier), Josh und Benny Safdies beim Filmfestival in Toronto gezeigter Netflix-Film "Uncut Gems" (critic.de) und Gregor Schmidingers Horrorfilm "Nevrland" (Standard).
Musik
Weiteres: Jens Uthoff porträtiert in der taz den behinderten Rapper Graf Fidi. Viola Schenz erinnert in der NZZ an den letzten Sommer der Beatles vor 50 Jahren. Dlf Kultur erinnert mit einer Spezialsendung an Clara Schumann, die vor 200 Jahren geboren wurde. Auf ZeitOnline schreibt Beatrix Borchard über die Komponistin und Pianistin.
Besprochen werden eine Ausstellung im C/O Berlin mit Fotos aus 30 Jahren Berliner Clubkultur (Welt, Dlf Kultur), der Berliner Auftritt von Wilco (Berliner Zeitung), Teodor Currentzis' Mozart-Zyklus beim Lucerne Festival (NZZ), Herbert Grönemeyers Konzert in Wien (Presse) und neue Pop-Bücher von Jens Balzer und Michael Behrendt (FAZ).