Efeu - Die Kulturrundschau

Malerei ohne Malen

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23.04.2019. In der FAZ huldigt Durs Grünbein dem Literaturwissenschaftler George Steiner, der das Gedicht stets über seiner Auslegung gelten ließ. Der Standard erklärt, warum noch vor den Kunstwerken die Dornenkrone aus Notre Dame gerettet wurde. ZeitOnline feiert die queere Ballroom-Serie "Pose" als ganz und gar unzynische Seifenoper der großen Gefühle.  In der taz erklärt Gerhard Schweppenhäuser, warum das Bauhaus mit seinem egalitär anmutenden Design elitäre Distinktionsmerkmale schuf.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.04.2019 finden Sie hier

Literatur

Der Literaturwissenschaftler George Steiner wird neunzig. Zu seinen großen Bewunderern zählt der Schriftsteller Durs Grünbein, der sich in der FAZ vor ihm verneigt. Einer von Steiners geprägten Begriffen ist die "'Interanimation' (gegenseitige Beseelung) als Prinzip literarischer Fortschreibung. Klar war aber auch: 'Das Gedicht kommt vor seiner Auslegung. Das Gedicht ist, der Kommentar bedeutet.' Fast eine Binsenweisheit, aber keiner hatte sie je so klar auszusprechen gewagt und damit eine ganze Zunft gegen sich aufgebracht. Dazu gehörte ein Spürsinn, der so frei nur bei ihm durch die abendländische Schriftkultur manövrierte. Dazu gehörte aber auch sein Vermögen, weit entfernte Wissensbereiche zusammenzudenken, einschließlich der Neuigkeiten in Atomphysik, Hirnforschung, Psychologie und Anthropologie." Auch SZ-Kritiker Thomas Steinfeld sieht in Steiner einen letzten großen Bildungsbürger, dem der Kanon in Demut noch etwas bedeutet: Er zählt zu den Letzten, die noch "an das erhaben Sinnhafte von Kunst glauben - an eine Autonomie des Ästhetischen jenseits aller historischen Ableitungen und philosophischen Zuordnungen."

Besprochen werden unter anderem Sibylle Bergs "GRM. Brainfuck" (online nachgereicht von der Welt), Annie Ernauxs "Der Platz" (Freitag), Paolo Rumiz' "Via Appia" (online nachgereicht von der FAZ), neue Bücher von Joan Didion (Tagesspiegel), Ferdinand von Schirachs "Kaffee und Zigaretten" (Standard), Nico Walkers "Cherry" (Dlf Kultur), Jörg-Uwe Albigs Satire "Zornfried" (Jungle World), Laura Freudenthalers "Geistergeschichte" (NZZ), Yishai Sarids "Monster" (Freitag), Harry Binghams Krimi "Fiona" (online nachgereicht von der FAZ), Vea Kaisers "Rückwärtswalzer" (SZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Marisha Pessls "Niemalswelt" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Gerhard Stadelmaier über h. c. artmanns "allerleirausch":

"ich bin die liebe mumie
und aus ägypten kumm i e,
o kindlein treibt es nicht zu arg,
..."
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Film

Queeres New York: "Pose"

Sicher gibt es bessere Fernsehserien als Ryan Murphys und Brad Falchuks "Pose", meint auf ZeitOnline Daniel Gerhardt, für den die von der queeren New Yorker Ballroom-Szene der Achtziger handelnde Serie allerdings dennoch "DAS Fernsehereignis des bisherigen Jahres" darstellt. "Aus einer TV-Landschaft, die ihre Faszination für das Böse und ihre Verschwisterung mit zynischen Antihelden in immer komplexeren, kostspieligeren Produktionen und mit immer obszönerer Starpower zelebriert, ragt sie als Seifenoper der großen Gefühle heraus. ... Der Hintergrund, vor dem sich die Geschichte mit ihren zahlreichen Nebenplots und Handlungsschwenkern abspielt, ist eine beginnende Aids-Epidemie, von der die Ballroom-Szene besonders hart getroffen wird. All ihre Protagonisten scheinen entweder selbst betroffen zu sein oder jemanden zu kennen, der, gezeichnet von den Folgen einer Infektion, in einem Krankenhausbett dahinsiecht. Leben und Liebe sind in Pose nicht mehr denkbar ohne das Wissen um die eigene Verwundbarkeit."

Weitere Artikel: Im ZeitMagazin träumt Axel Prahl. Besprochen werden die zweite Episode der letzten "Game of Thrones"-Staffel (NZZ), Julian Schnabels "Van Gogh"-Film (taz, Presse, Freitag, mehr dazu hier), Sergei Dvortsevoys Sozialdrama "Ayka" (Freitag, SZ, mehr dazu hier), Marco Kreuzpaintners gleichnamige Verfilmung von Ferdinand von Schirachs Roman "Der Fall Collini" mit Franco Nero (NZZ, FAZ) und Joe Cornishs Kinder-Fantasyfilm "Wenn Du König wärst" (FAZ).
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Kunst

Jack Whitten: Selbst-Porträt, 2008. © The Jack Whitten Estate and Hauser & Wirth / Hamburger Bahnhof 

SZ-Kritiker Jörg Heiser rechnet es dem Hamburger Bahnhof hoch an, als erstes Museum in Europa überhaupt, dem amerikanischen Maler Jack Whitten eine Einzelausstellung zu widmen. Dass der schwarze Künstler bisher nicht wahrgenommen wurde, findet Heiser beschämend, denn seine mit Mosaiktechnik sei so eigenwillig wie innovativ: "Zuletzt wird so ganz en passant klar, wie es Whitten gelungen ist, sich nie in bloß illustrativen Inhalten oder formalistischen Fingerübungen zu ergehen. Wie bei ihm Malerei ohne Malen vonstattengeht und überhaupt zur Bildhauerei mutiert. Vor allem aber platzierte er sich stets genau in die Lücke zwischen Politik und Intimität, Universalität und Differenz. Es ist die Lehre aus einem Jahrhundert Künstlerleben: Lass dich weder segregieren noch eingemeinden." Ingeborg Ruthe stellt in der FR fest: "Der Spirit wirkt. Er dringt aus jedem Schwung, etwa in einem steingrauen Bild, das Cy Twomblys gewebeartigen Malstrukturen gewidmet ist und auf dem sich Rakel-Spuren finden, als sei der Wind über eine Eisfläche des Nordmeeres oder über das Hochplateau eines Basaltgebirgszuges gepeitscht."

Bei den Evakuierungsplänen für Notre Dame hatte die Dornenkrone Priorität vor allen - anderen - Kunstwerken, erklärt Olga Kronsteiner im Standard. Echtheit spiele keine Rolle, entscheidend sei in der kirchlichen Hierarchie nur der symbolische Wert: "Für Könige und Kaiser waren solche Reliquienschätze wichtige Trophäen, die eine göttliche Ableitung ihres Herrschertums legitimierten und ihre Unbesiegbarkeit untermauerten." The Public Domain Review bringt eine tolle Bilderstrecke zu Notre-Dame im Spiegel der Kunst von 1460 bis 1921 (via John Coulthart).

Besprochen werden die "grandiose" Schau zu Caravaggio und seinen Adepten in der Alten Pinakothek in München (Tsp), eine Schau der Liechtensteiner Kunstsammlung in der Wiener Albertina (NZZ), Heather Lenz' Dokumentarfilm "Kusama: Infinity" über die Künstlerin Yayoi Kusama (taz) und eine Ausstellung der gerade sehr angesagten Künstlerin Hito Steyerl in der Serpentine Gallery (die Laura Cummings im Guardian allerdings ziemlich lahm findet).
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Architektur

Den großen Irrtum des Bauhaus erkennt der Medientheoretiker Gerhard Schweppenhäuser in der taz in dem Glauben, soziale Gerechtigkeit sei mit zweckmäßigem Design zu erreichen, ohne die Besitzverhältnisse in Frage zu stellen. Noch immer gäben die Produktivkräfte die Lebenswelt vor, doziert Schweppenhäuser streng marxistisch: "Heute ist die digitale Produktionsweise Vorbild für Lebensformen geworden. Alle einzelnen werden über die Schnittstelle des mobilen Computertelefons mit dem Kollektiv verbunden. Industriegebäude verschwinden, waren- und dienstleistungsproduzierende Arbeit findet dezentral statt, immer mehr als Auftragsarbeit wie in vorindustriekapitalistischen Zeiten. Schulgebäude werden bald überflüssig sein, wenn sich die Kinder daheim über Lernplattformen auf ihr späteres Leben in Erwerbsarbeit vorbereiten."

Besprochen wird die Tel-Aviv-Ausstellung "Die Erfindung einer Stadt" im Jüdischen Museum Hohenems (Standard).
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Bühne

Irrsinnig, aber in manchen Momenten auch bestürzend wahr und ratlos nennt Christine Dössel in der SZ Milo Raus bereits mehrfach besprochene "Orestie", für die der Regisseur mit seinen "Theater-Blauhelmen" nach Mossul gereist war. Grete Götze wirft dem Regisseur in der FAZ dagegen "politischen Horrortourismus" vor. Einen Moment "grässlichster Erniedrigung" erlebt FAZ-Kritiker Simon Strauß in Michael Thalheimers "Othello"-Inszenierung am Berliner Ensemble, aber daneben, vor allem am Ende: nur leidliches Zittern und vorgetäuschtes Würgen. In der Nachtkritik erzählt Martin Thomas Pesl von seiner Stippvisite in der Theaterszene von Kinshasa.

Besprochen werden Verdis "Othello" in Baden-Baden (SZ), Philipp Maintz' Kammeroper "Thérèse" bei den Osterfestspielen in Salzburg (FAZ) und Wagners "Parsifal" an der Wiener Staatsoper (Standard).
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Musik

Einen äußerst euphorischen Julian Weber lässt die Cellistin Kelsey Lu mit ihrem neuen Album "Blood" zurück, dessen "ätherisch-barocke Klanggemälde" direkt der kosmischen Harmonie entsprungen zu sein scheinen, wie der taz-Kritiker schreibt. "Lus herbe Stimme und das Cello bilden das Grundgerüst. Das Drumherum ist sparsam, aber mit viel Gefühl für Raum und Zeit arrangiert. Auffällig ist zudem, dass die Afroamerikanerin fast vollständig auf Beats und Grooves verzichtet. Stattdessen vertraut sie den klanglichen Sinuskurven des Cellos und des Gesangs, um die Musik elliptisch nach vorne zu bringen. In den Texten werden Andeutungen gemacht und die Musik transzendiert diese zu Klopfzeichen." Hier ein Video:



Bands wie Greta van Fleet stellen in Ästhetik und Gestus ihre großen Vorbilder Led Zeppelin wirklich bis ins Detail nach - eine äußerst gestrig anmutende Haltung, meint Airen in der Welt: Wo früher Grenzen eingerissen wurden, ordnet man sich ihnen heute genussvoll unter. "Unsere Gegenwart ist von einer ermüdenden Utopielosigkeit geprägt, das vom Politikphilosophen Francis Fukuyama ausgerufene 'Ende der Geschichte' - in der Musik scheint es Realität geworden zu sein. Ohne den Innovationsdruck der Sechziger- und Siebzigerjahre im Rücken, erinnert das Pathos der Revivalrocker jedoch an einen Computer, der täuschend echte Bachkantaten komponiert. Eigentlich stimmt alles - dennoch fehlt der Zauber."

Zumindest politisch noch rückwärtsgewandter ist NSBM, National-Socialist Black Metal, eine überschaubare, vom Rest der Metalwelt weitgehend abgelehnte Szene, die sich auf den Kirchen-Brandstifter, Mörder und völkischen Antisemiten Varg Vikernes beruft. In Italien feierte sich diese widersprüchlich international orientierte Szene bei einem großen Festival gerade selbst, berichtet Christoph Nevic, der sich für eine epische taz-Reportage unter die mit allerlei Nazi-Insignien geschmückten Besucher mischte: "Hinter dem Event steckt ein europaweites extrem rechtes Netzwerk, das von provokanten Metallern bis zu militanten Neonaziorganisationen reicht. Und genau diese Mischung macht es so gefährlich. ... Bis heute ist das Hot Shower Festival ein Garant für neonazistisches Entertainment, und das völlig straffrei."

Weitere Artikel: Für die Zeit plaudert Christoph Dallach mit Dido. In seinem Welt-Blog berichtet Manuel Brug weiterhin vom Bogota Festival Música Clásica. Auf Bandcamp geben die Drone-Metal-Mönche von Sunn o))) Streaming-Tipps. Im Standard gratuliert Ronald Pohl Robert Smith von The Cure zum 60. Geburtstag, den dieser am Ostersonntag feiern konnte. Marc Hairapetian schreibt in der Welt einen Nachruf auf den Filmkomponisten Martin Böttcher, der für seine "Winnetou"-Melodien bekannt geworden ist.

Besprochen werden, nach einer grundsätzlichen Erörterung über das Für und Wider der Akustik in der Elbphilharmonie, ein Konzert daselbst der Wiener Philharmoniker unter Andris Nelsons, denen Beethovens Fünfte laut Tagesspiegel-Kritiker Georg Rudiger fulminant gelingt, der Aretha-Franklin-Konzertfilm "Amazing Grace" (The Quietus), das neue Album der Chemical Brothers (Tagesspiegel) und neue Afropop-Veröffentlichungen, darunter Ekiti Sounds Debüt "Abeg No Vex" (SZ). Daraus ein aktuelles Video:

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