Efeu - Die Kulturrundschau

Objekte in Grünnuancen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.11.2018. Die NZZ lässt sich von der Royal Academy in London zu einem ozeanischen Festschmaus einladen. Der Standard inspiziert mit Wes Anderson die Depots des Kunsthistorischen Museums in Wien. Der Tagesspiegel erlebt in Kirill Serebrennikows Film "Leto" den Clash von Kommunismus und Rockmusik.  Die taz bewundert die skulpturalen Formen der  Berliner Modedesignerin Isabel Vollrath. Und ZeitOnline bemerkt, dass Metalfestivals für ihr alterndes Publikum jetzt mehr auf Wellness setzen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.11.2018 finden Sie hier

Film

Eher amüsiert als kritisch: Serebrennikows "Leto"

Mit dem Biopic "Leto" über die in der Sowjetunion und in Russland immens populären Musiker Viktor Zoi und Mike Naumenko kommt in dieser Woche Kirill Serebrennikovs vorerst letzter Film in die deutschen Kinos: Der russische Theater- und Filmregisseur steht bekanntlich aufrgund dubioser Vorwürfe in Moskau unter Arrest. Ein bemerkenswert milder Film im Vergleich zum Zorn in Serebrennikows früheren Arbeiten, schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel: Die beiden Musiker deutet der Filmemacher "generationsbedingt als Vorboten eines Wandels, doch 'Leto' blickt eher amüsiert als kritisch auf den Clash von Kommunismus und Rockmusik zurück. Da ist die Funktionärin, die den Sonnenbrillenträger Mike und seine Lederjackenjungs für den Dienst an der russischen Jugend gewinnen will. Oder die Aufpasser der Partei, die bei Konzerten im offiziellen Rockclub die Jugendlichen zur Ordnung rufen, wenn ein Kopf mal zu euphorisch im Rhythmus der Musik zu wippen beginnt. Serebrennikow wirkt fast wohlwollend, als hätte er seinen ganzen Furor in dem auch formal aggressiven, stets das Publikum adressierenden Drama 'Der die Zeichen liest' rausgelassen." Dieser Film über einen christlich-fundamentalistischen Schüler, der sein Umfeld terrorisiert, steht bei Arte online, wie uns Jens Müller in der taz informiert.

Auserwählter mit knabenhaft schönem Gesicht: Ryan Gosling fliegt zum Mond.
Damien Chazelle schickt in "Aufbruch zum Mond" Ryan Gosling als Neil Armstrong ins All. Der Film führt auch vor Augen, was bei der Mondmission alles hätte schief laufen können, erklärt Tobias Kniebe in der SZ. Dadurch ergibt sich "ein seltsame, quasi-religiöser Nebeneffekt. Man sieht mehr und mehr einem Auserwählten zu, dem die Überwindung aller Hindernisse vorherbestimmt ist, während das Schicksal seine größten Konkurrenten aus dem Weg räumt. Er trägt eben die Bürde, der Erste zu sein - und der Schauspieler Ryan Gosling, der wie kein anderer die Hochbegabten, die Verschlossenen, die Autisten verkörpern kann, multipliziert mit seiner Performance noch dieses Gefühl der Unberührbarkeit." FAZ-Kritiker Simon Strauss war hingerissen von Ryan Goslings knabenhaftem Gesicht, sah aber vor allem einen Film fürs postheorische Zeitalter: "Bei Goslings Gang über den Mond macht Chazelle den Ton ganz aus, kein Scheppern, kein Knarzen, und auch kein Richard Strauss ist zu hören, zu sehen ist allein der kleine Mensch bei seiner stillen Andacht im Universum."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel empfiehlt Andreas Busche die Eugène Green gewidmete Werkschau im Berliner Kino Arsenal.

Besprochen werden die von Netflix besorgte Schnittfassung von Orson Welles' unvollendet gebliebenem Film "The Other Side of the Wind" (SZ), Paul Feigs "Nur ein kleiner Gefallen" und Ted Fendts "Classical Period" auf der Viennale (beide im Perlentaucher).
Archiv: Film

Design

In der taz porträtiert Marina Razumovskaya die Berliner Modedesignerin Isabel Vollrath, die sich auf Einzelstücke spezialisiert hat. Zu ihren bevorzugten Gestaltungselementen zählen unter anderem "Schlaufen und Schleifen. In allen Variationen und Größen tauchen sie auf, ordnen sich gern in Reihen an, wiederholen sich oben und unten am Kleid. Viele ihrer Sachen haben auch etwas Skulpturales. Es sind geschlossene Volumen, die den zerbrechlichen Körper bergen und ihn manchmal wie in einer Muschel schützen. Eine Bluse aus feinster Seide, zusammengefaltet aus einem einzigen Stück, die Ärmel ausgeschnitten, und dann in Falten um den Körper herum gelegt, wie das nur mit den edelsten Stoffen geht - am Ende steht ein Volumen mit erstaunlicher, geschlossener Silhouette." (Bild: Isabel Vollrath, Frühjahrskollektion 2019)

"Es ist vorbei mit dem Sanitärgrau und dem Rentnerbeige", verkündet Paul Jandl in der NZZ: "Die Alten, die ihr erstes Geld in den Wirtschaftswunderjahren verdient haben, haben's gern mollig und machen mit frohen Farben auf ihren schönen Lebensabend aufmerksam."
Archiv: Design
Stichwörter: Vollrath, Isabell, Rentner, Mode

Bühne

Im Standard berichtet Stefan Weiss, dass sich das Burgtheater und sein ehemaliger Intendant Matthias Hartmann nach dem großen Finanzskandal außergerichtlich einigen werden. Ronald Pohl erinnert im Standard an die große Kräänkung, die Thomas Bernhard Österreich vor dreißig mit seinem "Heldenplatz" zufügte.

Besprochen werden Hans Op de Beecks aufwändige Inszenierung von Bartóks "Herzog Blaubarts Burg" im Paketpostamt Stuttgart (FR), Johan Simons' Bochumer Inszenierung von Feuchtwangers "Jüdin von Toledo" (NZZ) und Alexei Ratmanskys Rekonstruktion von Marius Petipas Ballett "La Bayadère" an der Berliner Staatsoper (die SZ-Kritikerin Dorion Weickmann als "hochkarätige Edelklassik", "imperiale Prachtentfaltung" und "Kolonialknüller" durchaus zu schätzen weiß, Tagesspiegel).
Archiv: Bühne

Literatur

Den Groschenheft-Autor Jason Dark hat David Hugendick für ZeitOnline hat besucht. Der Tagesspiegel bringt einen literarischen Dialog zwischen Yamen Hussein und Lena Gorelik, der im Rahmen des Literaturprojekts "Weiter Schreiben" entstanden ist. Verena Lueken war für die FAZ in New York bei der Vorstellung der englischen Übersetzung von Uwe Johnsons "Jahrestagen".

Besprochen werden die Neuübersetzung von Elena Ferrantes Debütroman "Lästige Liebe" aus dem Jahr 1992 (SZ), Patrisse Khan-Cullors' "#BlackLivesMatter. Eine Geschichte vom Überleben" (Intellectures), zwei aus dem Nachlass von Aglaja Veteranyi erschienene Bücher (Jungle World), Lion Feuchtwangers Tagebücher "Ein möglichst intensives Leben" (online nachgereicht von der Welt), eine Doppelausgabe der Literaturzeitschrift die horen (FR), Alfred Döblins "November 1918" (FR), Bill Beverlys "Dodgers" (FR), neue Jugendbücher über Trauer (NZZ) und Maike Wetzels Debütroman "Elly" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Ausstellungsansicht des Raums "The Spirit of the Gift in der Royal Academy of Arts, London. Foto: David Parry

In London stellt die Royal Academy of Arts Opfergaben und Kunsthandwerk aus Ozeanien aus. Marion Löhndorf räumt in der NZZ zwar ein, dass diese Schau nicht gerade eine sozialkritische Studie ist, hat aber dennoch viel erfahren über eine Welt, die durch das Eindringen der Europäer zerstört wurde: "Die frühen Entdecker fanden Gesellschaften mit komplexen Strukturen vor, die Besucher nicht immer freundlich empfingen und auch untereinander oft nicht zimperlich waren. Sie verfügten über seetüchtige Kanus ebenso wie über ausgeklügelte Navigationssysteme. Davon, dass die heile Welt Ozeaniens ein Mythos war, erzählt eines der wenigen Stücke, deren Erwerb umstritten ist. Es ist ein sieben Meter langer, krokodilförmiger Festtagstrog von den Salomoninseln, der vor Ort von Menschenköpfen umstellt war. Der Kapitän, der das Stück Ende des 19. Jahrhunderts geraubt hatte, behauptete, aus ihm sei Menschenfleisch gegessen worden. Was der Stammeshäuptling und einstige Besitzer allerdings bestritt. Der Anthropologe Nicholas Thomas argumentiert, die erstmalige Ausstellung des dubiosen Holztrogs, der seit mehr als hundert Jahren im Depot des British Museum versteckt war, repräsentiere eine 'Geschichte von Konfrontation und Gewalt'."

Der Regisseur Wes Anderson und seine Frau, die Autorin Juman Malouf durften für das Kunsthistorische Museum in Wien eine Ausstellung kuratieren, und wie Dominik Kamalzadeh im Standard versichert, haben die beiden für "Spitzmaus Mummy in a Coffin" natürlich nur die abwegigsten Kuriositäten aus den Depots geholt: "Marginales, Exzentrisches und bevorzugt Kleinformatiges kommt in dieser dichten Schau so gegenüber dem Ausladenden, Meisterlichen, ja Seriösen zum Zug. Geordnet nach Kriterien, die manchem Kunsthistoriker wohl den Kopf wutrot färben. Ein Raum, der nur Objekte in Grünnuancen vereint, weist etwa neben Erika Pluhars Theaterkostüm aus Hedda Gabler ausgestopfte Blaukappentangare aus Brasilien auf. Die Symmetrien in den Vitrinen sind, wie Andersons Bilder, makellos harmonisch komponiert."

Weiteres: In der FAZ feiert jetzt auch Niklas Maak die hochgelobte Schau der amerikanischen Künstlerin Cady Noland im Frankfurter Munseum für Moderne Kunst: "Es ist selten so, dass man ein ganzes Land, einen Moment der Gegenwart besser versteht, wenn man ins Museum geht. Hier ist es der Fall." Christiane Meixner gratuliert im Tagesspiegel dem Berliner Maler und Gründervater der Neuen Wilden, Bernd Koberling, zum Achtzigsten.

Besprochen werden eine Ausstellung des südafrikanischen Street-Art-Künstlers Robin Rhode im Zürcher Haus Konstruktiv (der allerdings NZZ-Kritiker Philipp Meier zufolge schon lange seinen Weg von den Straßen Johannesburgs ins Atelier in Berlin genommen hat), die Schau "Antarktika" über den erkalteten Menschen in der Kunsthalle Wien (Standard), die Ausstellung über Otto Mueller und seinen Kreis in Breslau im Hamburger Bahnhof in Berlin (taz) und eine Schau zur Geschichte des achtzigjährigen Freiheitskampfes der Niederlande im Amsterdamer Rijksmuseum (FAZ).
Archiv: Kunst

Musik

Heutige Metalfestivals ähneln mit ihren Zusatzangeboten für das älter werdende Publikum zunehmend Wellnesskuren, berichtet Frank Schäfer auf ZeitOnline. Auch um den Traditionszusammenhang ist man in diesem Kontext stets bemüht, erfahren wir: "Die Jüngeren arbeiten sich an den Alten ab, sie spielen nach, adaptieren, assimilieren Sounds, Kompositionsweisen, Gesten und Ikonografie und stiften dadurch immer wieder aufs Neue einen historischen Zusammenhang. Man hat oft das Konzept der Familie bemüht, um die Selbstgewissheit des Genres zu beschreiben. Wenn man hier immer wieder erlebt, wie die älteren Jahrgänge gerade von den jungen Hoffnungsträgern schwärmen, dann erinnert das tatsächlich ein wenig an Elternstolz."

Weitere Artikel: Andreas Maier erzählt in der FAZ, wie er zu seiner Vorliebe für Marillion und dessen Sänger Fish kam. Im "Remain in Light"-Blog des Standard erinnert sich Karl Fluch entzückt an den Wüstenrock-Klassiker "Welcome to Sky Valley" von Kyuss: "Geiler hat '94 kein anderes Rockalbum geklungen, der Zahn der Zeit kann ihm bis heute nichts anhaben, sein Klang klebt an keinem Trend, an keiner Mode."



Besprochen werden das Album "The Jericho Records" von Ancient Methods (taz), der Dessauer Auftritt von Feine Sahne Fischfilet (SZ), das Jazzdebüt von Jeff Goldblum (Standard), ein John-Cage-Konzert bei Wien Modern (Standard), Yasuaki Shimizus Berliner Auftritt (Tagesspiegel), Khatia Buniatishvilis Konzert in der Berliner Philharmonie (Tagesspiegel), ein Schumann-Abend mit Jóhann Kristinsson (Tagesspiegel), ein Gedenkkonzert in Kötschach-Mauthen zum Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren (SZ), Verdis von John Eliot Gardiner in München dirigierte "Messa da Requiem" (SZ) und neue Popveröffentlichungen, darunter das postume Album "Black Velvet" von Charles Bradley (SZ).

Archiv: Musik