Efeu - Die Kulturrundschau

Die Liebe zweier Lokomotiven

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30.10.2018. Die taz blickt mit der Fotografien Margret Hoppe auf die unterbelichtete Moderne der DDR. Die NZZ entdeckt in der Amsterdamer Canova-Schau in Marmor gehauenen Körperkult. SZ und Berliner Zeitung begrüßen Nadin Deventer als neue Leiterin des Berliner Jazzfests. Der Tagesspiegel erlebt im Bukarester Muzeul de Arta Recenta, wie der libanesische Architekt Youssef Tohme den Geist eines stalinistischen Bunker bannte. Cargo berichtet vom Leipziger Dokfilmfestival. Und das Freddie-Mercury-Biopic "Bohemian Rhapsody" entlockt den Kritikern nur ein großes Gähnen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.10.2018 finden Sie hier

Kunst

Margret Hoppe: Thilo Schoder, Textilfabrik Gera I, 2017.
Im taz-Interview mit Sarah Alberti spricht die Fotografin Margret Hoppe über ihre Serie "Unterbelichtete Moderne" Collection Regard in Berlin, in der sie den architektonischen Hinterlassenschaften der DDR nachspürt. Zum Beispiel den Bauten des Architekten Thilo Schoder: "Für die Nationalsozialisten war Thilo Schoders Architektur zu modern. Er ist nach Norwegen emigriert, weil er keine Aufträge mehr bekam und wurde nach dem Krieg in Deutschland nicht mehr wahrgenommen - auch weil er eben nicht am Bauhaus war. Ulrike Lorenz, die Leiterin der Kunsthalle Mannheim, hat 2001 eine große Monografie zu ihm publiziert, was sehr erfreulich ist. Zu DDR-Zeiten wurden seine privaten Villen enteignet und teilweise für staatliche Zwecke umfunktioniert. Die Frauenklinik in Gera war zu DDR-Zeiten eine Poliklinik. Als Kind war ich selbst dort bei meiner HNO-Ärztin. Auch das Kreiskrankenhaus Zwenkau war immer Krankenhaus."

In Marmor gehauenen Körperkult erlebt NZZ-Kritiker Roman Hollenstein in der Schau "Classic Beauties" in der Hermitage Amsterdam, für die auch die Petersburger Eremitage einige Canova-Skulpturen ausgeliehen hat: "Im Zentrum steht er idealisierte nackte Körper, der nach der Überwindung des frivolen Rokokos zum Symbol von edler Einfalt und stiller Größe wurde. Ob das den vielen begeistert durch die Ausstellung flanierenden Besuchern bewusst ist? Oder sehen sie in Canovas Akten nur die Verwirklichung ihrer körperlichen Traumvorstellungen, wie die Financial Times jüngst mutmaßte - und Canova deshalb zum 'Sculptor for the Selfie Age' kürte."

Weiteres: Auf Hyperallergic meldet Zachary Small, dass Nan Goldin für ihren Kampf gegen die Opioid-Krise Prints für 100 Dollar verkauft. Besprochen werden eine Piet-Mondrian-Schau im Museum Wiesbaden, die auch den realitätsnahen Maler zeigt (FR), die Ausstellung "Die Macht der Vervielfältigung", die das Goethe Institut in Porto Allegre initiierte und jetzt in der Baumwollspinnerei in Leipzig gezeigt wird (taz) und die Ausstellung "Beauty" des Vorerlberger Grafikdesigners Stefan Sagmeister im Wiener MAK (Standard).
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Bühne

Kornelius Friz wirft für die FAZ einen Blick auf die georgische Theaterlandschaft, in der selbst das Spitzenensemble des Gabriadse Theaters auf die Finanzierung durch Mäzene angewiesen ist. Dafür bekommt er dort das Stück "Ramona" zu sehen, das von der Liebe zweier Lokomotiven erzählt.

Besprochen werden Felix Seilers Inszenierung des "Zauberer von Oz" an der Komischen Oper in Berlin (Tagesspiegel), Lydia Steiers Doppelprogramm mit Tschaikowsky "Iolanta" und Strawinskys "Oedipus Rex" an der Oper Frankfurt (FAZ), George Balanchines "Jewels" von 1967 mit dem Bayerischen Staatsballett (FAZ), Nuran David Calis' "Othello" in Basel (FAZ), Yael Ronens Bibelabend "Genesis" an den Münchner Kammerspielen (SZ).
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Film

Nachlassverwaltung: "Bohemian Rhapsody" mit Rami Malek als Freddie Mercury

"Kreuzbrav" ist das Biopic "Bohemian Rhapsody" über Queen und Freddie Mercury geworden, seufzt Ueli Bernays in der NZZ. Woran das liegt, kann David Steinitz in der SZ erklären: Der Film hat zehn turbulente Jahre Produktionsgeschichte und diverse Zerwürfnisse hinter sich, als deren Ursache Steinitz die Bedürfnisse der verbliebenen Bandmitglieder Brian May und Roger Taylor identifiziert, die sich hier im möglichst glanzvollen (wenn auch rätselhaft biederen) Licht präsentiert sehen wollten. Der Filme wirke "stellenweise wie ein opulent bebilderter Wikipedia-Eintrag, weil viel zu viel Stoff hineingestopft wurde." Etwa muss zeitfressend "gezeigt werden, dass Freddie nicht der einzige Hitschreiber war. ... Brian May und Roger Taylor gehen ihrer ganz persönlichen Nachlassverwaltung und Mythendeutung nach - und das ist stellenweise ziemlich peinlich." Eine Vollkatastrophe also? Immerhin, schreibt Steinitz, macht Rami Malek in der Rolle von Mercury eine buchstäblich gute Figur. Alles in allem, lautet schließlich auch Jenni Zylkas Fazit im Tagesspiegel, mangelt es dem Film an Komplexität.


Für die SZ besucht Sonja Zekri die Aufbauarbeiten einer Filmhochschule im Senegal, die ein cinephiler Vater und sein Sohn dort hochziehen wollen: Die Regierung Senegals immerin gibt schon was dazu: "114 000 von 760 000 Euro für Bau und Ausrüstung wurden bereits bewilligt. Es fehlen aber noch Sponsoren für alles, was die künftigen Studiengebühren nicht decken werden. Also auch: die Vorlesungen, Kurse, Seminare. Idealerweise, so die Hoffnung, durchgeführt von Partnern an europäischen Filmhochschulen, denn es wäre ja gar nicht nötig, dass die Kollegen aus Berlin oder Paris in den Ruinen von Casamance auftreten, sie könnten Schnitt, Regie oder Drehbuchschreiben per Videokonferenz unterrichten."

Weitere Artikel: Von einem sanft schizophrenen Auftakt des Leipziger Dokumentarfilmfestivals berichtet Matthias Dell auf Cargo: Einerseits wolle das Festival sich künftig weniger von bloßen Status-Markierungen leiten lassen, andererseits ist der Eröffnungsfilm Werner Herzogs "Meeting Gorbatchev", nichts anderes als eine große Status-Markierung. Besprochen wird außerdem David Gordon Greens "Halloween"-Sequel mit Jamie Lee Curtis (Tagesspiegel, unsere Kritik hier).
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Literatur

Besprochen werden unter anderem Marilynne Robinsons "Zuhause" (online nachgereicht von der Welt), Bernard MacLavertys "Schnee in Amsterdam" (NZZ), Volker Reinhardts Biografie über Leonardo da Vinci (NZZ), Guillermo Arriagas "Der Wilde" (online nachgereicht von der FAS), Stephen Greenblatts Studie "Der Tyrann. Shakespeares Machtkunde für das 21. Jahrhundert" (SZ) und Robera Dapunts Gedichtband "Sincope" ("eine Entdeckung", ruft die FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Architektur

Youssef Tohme Architects: Muzeul de Artă Recentă , MARe, in Bukarest. Foto: YTAA

Der libanesische Architekt Youssef Tohme hat in Bukarest das erste private Kunstmuseum errichtet, wie Nicola Kuhn im Tagesspiegel erzählt, und zwar als Gegenentwurf zu dem stalinistischen Bunker, der vorher an diesem Ort stand: "Das Muzeul de Arta Recenta, kurz MARe genannt, logiert im einstigen Domizil von Ana Pauker, der gefürchteten ersten Außenministerin Rumäniens - zumindest der Adresse und den Umrissen des früheren Hauses nach. Madame Stalin, wie Ana Pauker auch genannt wurde, ging mit Schauprozessen brutal gegen die Gegner des Systems vor. Nachdem die kompromisslose Stalinistin selbst in Ungnade fiel, lebte sie unter Hausarrest sieben Jahre lang bis zu ihrem Tod 1960 in der prachtvollen Villa, umgeben von der Nomenklatura. Ihr persönlicher Bunker befindet sich noch heute im Keller. Diesen Geist galt es zu bannen."

Besprochen wird eine Ausstellung mit Entwürfen des Berliner Architekten Hans Poelzig im Museum für Architekturzeichnung am Pfefferberg (Tagesspiegel).
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Musik

"Das Jazzfest Berlin hat eine neue Chefin; und deren Programm liest sich klasse", jubelt Markus Schneider in der Berliner Zeitung. Die Chefin heißt Nadin Deventer und wurde von manchen traditionelleren Jazzfans im Netz bereits runtergeputzt - wohl auch, weil sie bewusst darauf abzielt, auch Frauen im Programm zu ihrem Recht kommen zu lassen, wie sie im SZ-Interview gegenüber Jan Kedves betont: "Es gibt keinen einzigen Festivalabend ohne Frau auf der Bühne. Natürlich gibt es auch rein männlich besetzte Acts. ... Aber 14 der insgesamt 35 musikalischen Acts sind mit relevanter weiblicher Beteiligung, und auf der Hauptbühne im Haus der Berliner Festspiele gibt es keinen Abend ohne Musikerinnen. Darauf habe ich sehr geachtet, weil die Hauptbühne immer sehr im Fokus steht. Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zum Beispiel ist dieses Jahr fest in Frauenhand."

Christian Schröder (Tagesspiegel) und Harry Nutt (Berliner Zeitung) schreiben zum Tod von Ingo Insterburg. In der FAZ erinnert Andreas Platthaus an Ulrich Schamonis tolle Kreuzberger 68er-Komödie "Quartett im Bett": "Ein einzigartiges Zeitdokument über das West-Berlin jener Zeit, besetzt mit den vier sächsischen Jacob Sisters und eben den vier Herren von Insterburg und Co. Näher an den Geist der Nouvelle Vague ist der Neue Deutsche Film nicht gekommen, und Schamonis Nonsensgeschichte war lustiger als die französischen Vorbilder und als die einheimische Konkurrenz allemal." Der anarchische Trailer vermittelt davon einen spritzigen Eindruck:



Weitere Artikel: Stefan Hochgesand porträtiert für die taz den belgischen Popsänger Tamino, der sich in seiner Kunst für die Vierteltöne der arabischen Musik interessiert. Hans Jörg Jans erkundigt sich für die NZZ wie es dem Orchester della Svizzera Italiana im ersten Jahre nach dessen Loslösung von der SRG ergeht. Stefan Michalzik (FR) und Elena Witzeck (FAZ) berichten vom Frankfurter Jazzfestival. In der Zeit porträtiert Dennis Bühler den Schweizer Schlagerstar Beatrice Egli.

Besprochen werden John Carpenters Soundtrack zu David Gordon Greens "Halloween"-Reboot (Pitchfork) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter Matt Haimovitz' Aufnahme von Isang Yuns Cellokonzert von 1976, die laut SZ-Kritiker Harald Eggebrecht fulminant geglückt ist: Haimovitz "findet einen gleichsam leuchtenden Pfad durch die vielfarbig schillernde und aufschreiende Partitur - eine imponierende und bewegende Meisterleistung." Diese Werbefilm gestattet ein paar Eindrücke:

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